Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 61
Von Johann Kaspar Lavater an Christoph Martin Wieland und Goethe

12.? (13.?) März 1776, Zürich

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   Lieber Wieland!


   Ich erhalte mit Einmal – den
Merkur N. 1. über die Post mit 1 f. 12 Xr.
Port. und Ihren Brief von 4. Mz. Ich
danke für beydes. Noch hab' ich den Mer-
kur nicht durchblätert. Aber Ihre Brie-
fe las ich. Hier, lieber Wieland, ein
paar Zeilen Antwort.


   So lang Lips unter meinem Tutel
– oder, weiß ich was, ist, kann ich fast
gut stehn, daß Er für Sie arbeiten
soll. Also seyen Sie ruhig. Senden Sie
nur fein bald, was es bedarf. Ich
will mein Bestes thun. Dieß ganze
Jahr ist er noch mein.


   Herders Ruf freut mich, vornehmlich weil | 2 |
er dem Göttinger Hornußen Nest ent-
ronnen ist. Ich hoffe auch, sein Ge-
walter Charakter schleife sich noch zu
allduldender, edler Preisgebung ab.
Gegen mich ist er die Bonhomie selbst.
Lieber Wieland – ich halte mich fest
und kalt; verachten Sie mich nicht. Ich
harre nur des Augenbliks, wo wir
aufm Sopha neben einander nachm
Nachteßen uns sagen werden – was
sich vorher nicht denken läßt. Gott im
Himmel weiß, daß mir die aufrich-
tigsteLobsprüche – Faustschläge sind,
wenn sie von einem Menschen kommen,
der mich nicht gesehen hat – oder nur
von Einer Seite. O Wieland, wie bin
ich täglich überzeügter – daß alle Men-
schen – Menschen sind – und der ganze | 3 |
Unterschied der Weisen und Thoren
daß der erste es erkennt, und der an-
dere nicht – der ganze Unterschied des
Redlichen und Schurken, daß der eine
es gesteht, der andere nicht.


   Wie das Wort verzeihen – wenn
man vertraulich ist. Unglaube ist bey
Gott und guten Menschen, die einzige
Sünde, die Bitte um Verzeihung nöthig
hat.


   Hab' izt einen Brief an meine Freun-
de, der lieb und sanft ist, in die Cen-
sur gegeben, der – ob Gott will? Frie-
den bringen soll – wenn ihn nur die
Censur – das ist – Breitinger, der
Tag und Nacht mich seinen Grimm füh-
len laßen will – paßiren läßt! – O
Wieland – um Gotteswillen glaube – | 4 |
daß mir Ernst, heiß, heiß Ernst ist,
wenn ich bitte, rufe, flehe: "Lobe
Lavatern nicht mehr!" und "strafe sei-
ne Feinde nie!" – Laß mich warten, und
– – singen.


   Ihr Gleichniß vom Farao muß ich
mir commentiren laßen.


   Ich habe Seiten gezählt, und glaub-
te, alles geh in den II. Band, was ich
bestimmt hatte, ohne daß er um einen
halben Finger diker wird. Sicherlich! –
Hierüber muß ich schlechterdings, wegen
ZusamenOrdnung der Kupfer schleü-
nigst, schleünigst, sichersten, festen Be-
richt haben. –


   Lieber Goethe – bitte – bitte.


   Ich will nichts. Alles wird sich ge-
ben. Beyde – W. u. L. werden auf | 5 |
den Punkt der Zeit und des Orts zu-
sammentreffen, der für Sie und die Welt
am Besten seyn wird. Ob in Carlsruh
oder in Zürich? Ich will nichts wißen.


    Herr Jesus – Kalter Schauer über
mein Herz. "L – nicht glüklich u: macht
"nicht glüklich" – – o Himmel und Erde –
kannst du dieß dulden? Ich mögte
Ihr Knie umfaßen :"o L.... so wahr
ich­ - du sollst glüklich leben" –


   Mein gutes, liebes, reinunschuldiges –
zartes, uncultiviertes, unaussprechlich
anmuthiges, reinliches, keüsches, haus-
mütterliches Weibchen – weder ein was
Sie befehlen – noch ein Neinweib, (wie ich
eben überm Nachteßen mit Pfenninngern im
Merkur gelesen) ruft mir : "Papali – blibst
"no lang ůf?" –Also – gute Nacht –


    Lavater


S: Zentralbibliothek Zürich  D: GL Nr. 46 (T)  B: -  A: -  V: Abschrift 

Dank für den Merkur Nummer 1. und Wielands Brief vom 4. März 1776. - L. sei sicher, daß J. H. Lips für Wieland arbeiten werde. - Über Herders Berufung nach Weimar freue sich L., vor allem weil er dem Göttinger Hornußen Nest entronnen ist. - Betrachtungen über das menschliche Wesen. Erwähnung von L.s "Schreiben an seine Freunde" (Winterthur 1776). - L. habe geglaubt, alles von ihm Bestimmte geh in den II. Band der "Physiognomischen Fragmente". Hierüber muß ich [...] wegen ZusamenOrdnung der Kupfer schleunigst [...] Bericht haben. - Lieber Goethe - bitte - bitte. - L. überlasse Zeit und Ort seines Zusammentreffens mit Wieland der Vorsehung. - Zu Wielands Äußerung, daß die Herzogin Luise nicht glücklich sei und nicht glücklich mache.

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 Lieber Wieland!

  Ich erhalte mit Einmal – den Merkur N. 1. über die Post mit 1 f. 12 Xr. Port. und Ihren Brief von 4. Mz. Ich danke für beydes. Noch hab' ich den Merkur nicht durchblätert. Aber Ihre Briefe las ich. Hier, lieber Wieland, ein paar Zeilen Antwort.

  So lang Lips unter meinem Tutel – oder, weiß ich was, ist, kann ich fast gut stehn, daß Er für Sie arbeiten soll. Also seyen Sie ruhig. Senden Sie nur fein bald, was es bedarf. Ich will mein Bestes thun. Dieß ganze Jahr ist er noch mein.

  Herders Ruf freut mich, vornehmlich weil| 2 | er dem Göttinger Hornußen Nest entronnen ist. Ich hoffe auch, sein Gewalter Charakter schleife sich noch zu allduldender, edler Preisgebung ab. Gegen mich ist er die Bonhomie selbst. Lieber Wieland – ich halte mich fest und kalt; verachten Sie mich nicht. Ich harre nur des Augenbliks, wo wir aufm Sopha neben einander nachm Nachteßen uns sagen werden – was sich vorher nicht denken läßt. Gott im Himmel weiß, daß mir die aufrichtigsteLobsprüche – Faustschläge sind, wenn sie von einem Menschen kommen, der mich nicht gesehen hat – oder nur von Einer Seite. O Wieland, wie bin ich täglich überzeügter – daß alle Menschen – Menschen sind – und der ganze| 3 | Unterschied der Weisen und Thoren – daß der erste es erkennt, und der andere nicht – der ganze Unterschied des Redlichen und Schurken, daß der eine es gesteht, der andere nicht.

  Wie das Wort verzeihen – wenn man vertraulich ist. Unglaube ist bey Gott und guten Menschen, die einzige Sünde, die Bitte um Verzeihung nöthig hat.

  Hab' izt einen Brief an meine Freunde, der lieb und sanft ist, in die Censur gegeben, der – ob Gott will? Frieden bringen soll – wenn ihn nur die Censur – das ist – Breitinger, der Tag und Nacht mich seinen Grimm fühlen laßen will – paßiren läßt! – O Wieland – um Gotteswillen glaube –| 4 | daß mir Ernst, heiß, heiß Ernst ist, wenn ich bitte, rufe, flehe: "Lobe Lavatern nicht mehr!" und "strafe seine Feinde nie!" – Laß mich warten, und – – singen.

  Ihr Gleichniß vom Farao muß ich mir commentiren laßen.

  Ich habe Seiten gezählt, und glaubte, alles geh in den II. Band, was ich bestimmt hatte, ohne daß er um einen halben Finger diker wird. Sicherlich! – Hierüber muß ich schlechterdings, wegen ZusamenOrdnung der Kupfer schleünigst, schleünigst, sichersten, festen Bericht haben. –

  Lieber Goethe – bitte – bitte.

  Ich will nichts. Alles wird sich geben. Beyde – W. u. L. werden auf| 5 | den Punkt der Zeit und des Orts zusammentreffen, der für Sie und die Welt am Besten seyn wird. Ob in Carlsruh oder in Zürich? Ich will nichts wißen.

   Herr Jesus – Kalter Schauer über mein Herz. "L – nicht glüklich u: macht "nicht glüklich" – – o Himmel und Erde – kannst du dieß dulden? Ich mögte Ihr Knie umfaßen :"o L.... so wahr ich­ - du sollst glüklich leben" –

  Mein gutes, liebes, reinunschuldiges – zartes, uncultiviertes, unaussprechlich anmuthiges, reinliches, keüsches, hausmütterliches Weibchen – weder ein was Sie befehlen – noch ein Neinweib, (wie ich eben überm Nachteßen mit Pfenninngern im Merkur gelesen) ruft mir : "Papali – blibst "no lang ůf?" –Also – gute Nacht –

  Lavater

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 61, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0061_00066.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 61.

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