Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 55
Von Anna Luise Karsch

4. September 1775, Berlin

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   Ich kam gestern bey Sternlicht heim, ich fand ihr Briefgen,
   wuste nicht von wems war, aber mein Puls schlag sagte
   mirs das Eine gute liebe Seele mich grüßen würde.
   Der mildseelige Mond schien nicht in die Kammer, sonst
   hätt ichs gelesen, ich wolte meine Kinder nicht im Schlaff
   stöhren, lies mir kein Feuer schlagen, legte mein gefundnes
   unters Kopfküßen und schlief ein, heute beym ersten
   Sonnen Glanz erwacht ich, und laß, lieber Göthe laßen
   Sie sichs Ihr Herz sagen, wie mirs gefiel das sie so
   ohne Zier, so von Herzen geradeweg mich grüßten. Ich
   möchte gern mein Tochtersöhngen Flügel anzaubern, der
Bub solte morgen nach Frankfurth durch die Somerlufft reisen,
er solt Ihnen meine Antwort bringen, er ist bräunlich und
Kraußköpficht, hatt Spas in augen und geschwäz auf den
Lippen, und würde dem Menschenkenner Göthe, traun so gut
gefallen als dem liebhabenden Werther das kleine Vetterchen das ihm mit
freymüthiger Mine die Hand gab. Sie hören hier die Groß-
mutter sprechen, aber auch die Warheit, ich freue mich
nur mäßig übers Knäbchen wer mag wißen was aus ihm | 2 |
wird: mehr Freude hatt ich vor zwölf Tagen über ein ge-
mahltes Mädgen, von deßen Original Ihr Genie Vatter gewesen
ist. Ich ging zum Zeichner Codowicky, ich batt ihn um eine
Elmire im kleinen Format im Himelfarbnen leichten Gewande,
mit fliegendem Haar und entzükten Augen, ich kam
Tages drauf wieder hin, und fand das Mädgen wie du
sie gedacht hast wie sie vom Berg herabgeflogen kömt, ihre
Arme ausgebreittet und singet, er ist nicht weit! Guter schöpfrischer
Göthe, wärest du hier gewesen, ich hätte dich bey der nächtlichen
Lampe gestört, du hättest mit mir die Freude theilen müßen,
den[n] ich lief des Abends noch zu jedem Freund jeder Freundin
die ich erreichen konte. Seht ihrs, rief ich, seht ihrs Kinder,
so dachte sich Göthe das hoffnungs glühende Mädgen das
den Todt geglaubten Erwin suchte, das ihn wiederfinden
solte, so war Lotte gebildet, so Flügel leicht ihr Fuß, so
Seelenvoll ihr Aug, als werter mit ihr Tanzte. Ich
war närrisch froh; das Bildgen solte zum Geschenke für
das ein und zwanzig jährige Mädgen welches uns die Schat-
tenzüge deiner Elmire vorstellet, sie machts gut genug,
hatt Feuer und Gefühl, Modellirt auch die redestimme wie | 3 |
sichs gebühret, aber die Töne der Musik werden nicht erreicht,
davor kan die Mutter Natur. Ich wolte durchs Bild die Spiellerin
aufmuntern, eine von ihren Cameratinnen gabs ihr, und es wird
in Kupfer gestochen allen Kenneraugen des weiten Deutschlands
gefallen, mir hat es ein Fest gegeben. Du siehest wol das ich
mir Freuden zu haschen weis und du würdest mich darum neiden
wenn du weniger Edel wärest, denn ich bin schon in dem alter
wo man gewöhnlicher weise stumpf an Empfindungen wird.
Dank seys meinen Geist der mich vor diesem schlapsinn, vor
dieser schläfrigen Trägheit bewahret. Ich kenne das häßliche
Ding das man bösen Humor nennt nicht in mir. Ich habe
keine sonderlige Launen, ich bin mir fast imer gleich, es
fehlt mir nicht an Kümmernißen, meine glüks umstände meine
Häußliche Angelegenheitten sind noch mit wahrer Sorge vermischt,
ich aber hänge den Kopf nicht, ich denke der Vatter des ganzen
wirds auch mit mir einzeln Theil bis ans ende gut
machen. Ich lege mein Leiden und Freuden auf eine Wage,
und die zweyte Schaale behält stets ein groß über gewicht,
ich schreibe nicht für die Ewigkeit weil ichs nicht kan, das
verdrüßt mich auch nicht, eine rührende Bittschrifft die mir | 4 |
aus dem Herzen fließt, welches an fremdem Kumer eignen
antheil nimt, eine solche Schrifft und ihre würkung, macht
mir mehr Wonne als dem Ewigen Milton sein vollendetes
Heldengedicht gemacht haben mag, ich kenne nichts süßers,
und schreibe nichts liebers und frage wenig darnach ob
mir von den Geholfnen Dank oder undank gesagt wird. Siehe
so bin ich voller kleiner Thorheiten voller Fehler und über
diß alles noch ein geschwäziges Weib, das must du schon
merken an diesem Briefe der Zehnmahl mehr sagt, als du hören
woltest, und noch hinzusetzt das ich Dir lieb habe wie eine
Mutter den Sohn.


S: GSA 28/470 St. 1  D: Briefe HA Nr. 40  B: 1775 August 17 bis 28 (WA IV 2, Nr. 348)  A: -  V: Abschrift 

An G.s Brief habe ihr gefallen, daß er sie so ohne Zier, so von Herzen geradeweg gegrüßt habe. Sie wünschte, ihre Antwort könnte flugs durch ihr Tochtersöhngen, der G. gewiß gefallen würde, überbracht werden. - Über ihre enthusiastische Freude an einem auf ihren Wunsch von D. N. Chodowiecki gemalten Bildnis von G.s Elmire; das Bild sei als Geschenk für die Darstellerin der Elmire gedacht, auch als Aufmunterung für die Spielerin. So verstehe K. es, sich Freuden zu haschen, sei sich fast imer gleich und zuversichtlich. An ihrer Schriftstellerei habe sie wohl mehr Wonne als dem Ewigen Milton sein vollendetes Heldengedicht gemacht haben mag.

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  Ich kam gestern bey Sternlicht heim, ich fand ihr Briefgen,  wuste nicht von wems war, aber mein Puls schlag sagte  mirs das Eine gute liebe Seele mich grüßen würde.  Der mildseelige Mond schien nicht in die Kammer, sonst  hätt ichs gelesen, ich wolte meine Kinder nicht im Schlaff  stöhren, lies mir kein Feuer schlagen, legte mein gefundnes  unters Kopfküßen und schlief ein, heute beym ersten  Sonnen Glanz erwacht ich, und laß, lieber Göthe laßen  Sie sichs Ihr Herz sagen, wie mirs gefiel das sie so  ohne Zier, so von Herzen geradeweg mich grüßten. Ich  möchte gern mein Tochtersöhngen Flügel anzaubern, der Bub solte morgen nach Frankfurth durch die Somerlufft reisen, er solt Ihnen meine Antwort bringen, er ist bräunlich und Kraußköpficht, hatt Spas in augen und geschwäz auf den Lippen, und würde dem Menschenkenner Göthe, traun so gut gefallen als dem liebhabenden Werther das kleine Vetterchen das ihm mit freymüthiger Mine die Hand gab. Sie hören hier die Großmutter sprechen, aber auch die Warheit, ich freue mich nur mäßig übers Knäbchen wer mag wißen was aus ihm| 2 | wird: mehr Freude hatt ich vor zwölf Tagen über ein gemahltes Mädgen, von deßen Original Ihr Genie Vatter gewesen ist. Ich ging zum Zeichner Codowicky, ich batt ihn um eine Elmire im kleinen Format im Himelfarbnen leichten Gewande, mit fliegendem Haar und entzükten Augen, ich kam Tages drauf wieder hin, und fand das Mädgen wie du sie gedacht hast wie sie vom Berg herabgeflogen kömt, ihre Arme ausgebreittet und singet, er ist nicht weit! Guter schöpfrischer Göthe, wärest du hier gewesen, ich hätte dich bey der nächtlichen Lampe gestört, du hättest mit mir die Freude theilen müßen, den[n] ich lief des Abends noch zu jedem Freund jeder Freundin die ich erreichen konte. Seht ihrs, rief ich, seht ihrs Kinder, so dachte sich Göthe das hoffnungs glühende Mädgen das den Todt geglaubten Erwin suchte, das ihn wiederfinden solte, so war Lotte gebildet, so Flügel leicht ihr Fuß, so Seelenvoll ihr Aug, als werter mit ihr Tanzte. Ich war närrisch froh; das Bildgen solte zum Geschenke für das ein und zwanzig jährige Mädgen welches uns die Schattenzüge deiner Elmire vorstellet, sie machts gut genug, hatt Feuer und Gefühl, Modellirt auch die redestimme wie| 3 | sichs gebühret, aber die Töne der Musik werden nicht erreicht, davor kan die Mutter Natur. Ich wolte durchs Bild die Spiellerin aufmuntern, eine von ihren Cameratinnen gabs ihr, und es wird in Kupfer gestochen allen Kenneraugen des weiten Deutschlands gefallen, mir hat es ein Fest gegeben. Du siehest wol das ich mir Freuden zu haschen weis und du würdest mich darum neiden wenn du weniger Edel wärest, denn ich bin schon in dem alter wo man gewöhnlicher weise stumpf an Empfindungen wird. Dank seys meinen Geist der mich vor diesem schlapsinn, vor dieser schläfrigen Trägheit bewahret. Ich kenne das häßliche Ding das man bösen Humor nennt nicht in mir. Ich habe keine sonderlige Launen, ich bin mir fast imer gleich, es fehlt mir nicht an Kümmernißen, meine glüks umstände meine Häußliche Angelegenheitten sind noch mit wahrer Sorge vermischt, ich aber hänge den Kopf nicht, ich denke der Vatter des ganzen wirds auch mit mir einzeln Theil bis ans ende gut machen. Ich lege mein Leiden und Freuden auf eine Wage, und die zweyte Schaale behält stets ein groß über gewicht, ich schreibe nicht für die Ewigkeit weil ichs nicht kan, das verdrüßt mich auch nicht, eine rührende Bittschrifft die mir| 4 | aus dem Herzen fließt, welches an fremdem Kumer eignen antheil nimt, eine solche Schrifft und ihre würkung, macht mir mehr Wonne als dem Ewigen Milton sein vollendetes Heldengedicht gemacht haben mag, ich kenne nichts süßers, und schreibe nichts liebers und frage wenig darnach ob mir von den Geholfnen Dank oder undank gesagt wird. Siehe so bin ich voller kleiner Thorheiten voller Fehler und über diß alles noch ein geschwäziges Weib, das must du schon merken an diesem Briefe der Zehnmahl mehr sagt, als du hören woltest, und noch hinzusetzt das ich Dir lieb habe wie eine Mutter den Sohn.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 55, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0055_00058.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 55.

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