Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 36
Von Johann Georg Christian Kestner

Oktober 1774, Hannover

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Euer Werther würde mir grosses Vergnü-
gen machen können, da er mich an manche
interessante Scene u. Begebenheit erinnern
könnte. So aber, wie er da ist, hat er mich
in gewissen Betracht, schlecht erbauet. Ihr
wißt, ich rede gern wie es mir ist.


   Ihr habt zwar in iede Person etwas
Fremdes gewebt, oder mehrere in eine ge-
schmolzen. Das ließ ich schon gelten. Aber
wenn Ihr bey dem verweben u. zusammen
schmelzen euer Herz ein wenig mit
rathen lassen; so würden die würcklichen
Personen, von denen ihr Züge entlehnet,
nicht dabey so prostituiret seyn. Ihr wolltet
nach der Natur zeichnen, um Wahrheit
in das Gemählde zu bringen; und doch habt
Ihr so viel widersprechendes zusammengesetzt,
daß Ihr gerade Euren Zweck verfehlt habt.
Der Hℓ. Autor wird sich hiergegen empören, | 2 |
aber ich halte mich an die Würcklichkeit u.
an die Wahrheit selbst, wenn ich ur-
theile, daß der Mahler gefehlet hat. Der
würcklichen Lotte würde es in vielen Stücken leyd seyn,
wenn sie Eurer da gemahlten Lotte
gleich wäre. Ich weiß es wohl, daß es
eine Composition seyn soll; allein
die H., welche Ihr zum Theil mit hinein
gewebt habt, war auch zu dem nicht
fähig, was Ihr Eurer Heldin bey-
messet. Es bedurfte aber des Auf-
wands der Dichtung zu Eurem Zweck
und zur Natur u. zur Wahr-
heit gar nicht: denn ohne das – eine
Frau, eine mehr als gewöhnliche Frau
immer entehrende Betragen Eurer Heldin –
erschoß sich J.


   Die würckliche Lotte, deren Freund | 3 |
Ihr doch seyn wollt, ist in Eurem Ge-
mählde, das zu viel von ihr enthält, um nicht
auf sie starck zu deuten, ist, sag' ich
– doch nein, ich will es nicht sagen,
es schmerzt mich schon zu sehr da ichs
dencke. Und Lottens Mann, Ihr nanntet
ihn Euren Freund, und Gott weiß, daß
er es war, ist mit ihr –


   Und das elende Geschöpf von einem Albert!
Mag es immer ein eigenes nicht co-
pirtes Gemächte seyn sollen; so hat
es doch von einem Original wiederum
solche Züge │:zwar nur von der
Aussenseite, u. Gott sey's gedanckt nur
von der Aussenseite:│ daß man leicht auf
den würcklichen fallen kann.
Und wenn Ihr ihn so haben wolltet,
mußtet ihr ihn zu so einem Klotze | 4 |
machen? damit ihr etwa auf ihn
stolz hintreten u. sagen könntet, seht
was ich für ein Kerl bin!


S: Stadtarchiv Hannover  D: Briefe HA Nr. 27  B: 1774 September 23 (WA IV 2, Nr. 252)  A: 1774 Oktober (WA IV 2, Nr. 255)  V: Konzept 

Reaktion auf G.s "Leiden des jungen Werthers", vor allem: K. wisse wohl, daß die Personen das Ergebnis einer Komposition seien, aber wenn Ihr bey dem verweben u. zusammenschmelzen euer Herz ein wenig mit rathen lassen; so würden die würcklichen Personen, von denen ihr Züge entlehnet, nicht dabey so prostituirt seyn. Des weiteren zu den Gestalten der Lotte und des Albert.

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 Euer Werther würde mir grosses Vergnügen machen können, da er mich an manche interessante Scene u. Begebenheit erinnern könnte. So aber, wie er da ist, hat er mich in gewissen Betracht, schlecht erbauet. Ihr wißt, ich rede gern wie es mir ist.

  Ihr habt zwar in iede Person etwas Fremdes gewebt, oder mehrere in eine geschmolzen. Das ließ ich schon gelten. Aber wenn Ihr bey dem verweben u. zusammen schmelzen euer Herz ein wenig mit rathen lassen; so würden die würcklichen Personen, von denen ihr Züge entlehnet, nicht dabey so prostituiret seyn. Ihr wolltet nach der Natur zeichnen, um Wahrheit in das Gemählde zu bringen; und doch habt Ihr so viel widersprechendes zusammengesetzt, daß Ihr gerade Euren Zweck verfehlt habt. Der Hℓ. Autor wird sich hiergegen empören,| 2 | aber ich halte mich an die Würcklichkeit u. an die Wahrheit selbst, wenn ich urtheile, daß der Mahler gefehlet hat. Der würcklichen Lotte würde es in vielen Stücken leyd seyn, wenn sie Eurer da gemahlten Lotte gleich wäre. Ich weiß es wohl, daß es eine Composition seyn soll; allein die H., welche Ihr zum Theil mit hinein gewebt habt, war auch zu dem nicht fähig, was Ihr Eurer Heldin beymesset. Es bedurfte aber des Aufwands der Dichtung zu Eurem Zweck und zur Natur u. zur Wahrheit gar nicht: denn ohne das – eine Frau, eine mehr als gewöhnliche Frau immer entehrende Betragen Eurer Heldin – erschoß sich J.

  Die würckliche Lotte, deren Freund| 3 | Ihr doch seyn wollt, ist in Eurem Gemählde, das zu viel von ihr enthält, um nicht auf sie starck zu deuten, ist, sag' ich – doch nein, ich will es nicht sagen, es schmerzt mich schon zu sehr da ichs dencke. Und Lottens Mann, Ihr nanntet ihn Euren Freund, und Gott weiß, daß er es war, ist mit ihr –

  Und das elende Geschöpf von einem Albert! Mag es immer ein eigenes nicht copirtes Gemächte seyn sollen; so hat es doch von einem Original wiederum solche Züge │:zwar nur von der Aussenseite, u. Gott sey's gedanckt nur von der Aussenseite:│ daß man leicht auf den würcklichen fallen kann. Und wenn Ihr ihn so haben wolltet, mußtet ihr ihn zu so einem Klotze| 4 | machen? damit ihr etwa auf ihn stolz hintreten u. sagen könntet, seht was ich für ein Kerl bin!

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 36, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0036_00038.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 36.

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