Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 34
Von Johann Kaspar Lavater an Goethe und Johann Bernhard Basedow

zwischen 15. und 17. September 1774, Zürich

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Auch Dank für dein Briefchen. Diese Woche
hatt' ich mit den Prinzeßinnen von Homb:
u: Darmstadt – und dem überaus lie-
benswürdigen Landgrafen Freüde. Ich
sahe sie in Kleinjoggsstube u: communi-
cirte ihnen sein Brod – Prinz​ṇ Louise –
wahrlich eine große Seele! – Ich hätte sie
küßen mögen!


Hier die Originalbriefe, den Wunder-
thäter betreffend: so oft ichs lese, muß
ich weinen. Ich untersuche nicht für
mich, sondern für die Schwachgläubigℓ
– wer hier nicht untersuchen will, u:
sich Christ nennt, u: doch nicht durchs
Gefühl glaubt, was ist der? Ich weiß es | 2 |
nicht.


Die Briefe schikst du, nein, bringst du der
Klettenbergerinn – sie sendet mir's, durch
Fink in Stuttgard bäldest zurück –
Ich habe nun noch an den Prälaten zu
Salmersschweil, u: dem Gaßner selber
wieder geschrieben. Dann muß, wenn er
mir nicht näher kömmt, Paßevant mit
mir hin – anzubethen in Schauen-
der Kinder Einfalt.


Du – ich appellire immer an dich; denn
einen so harmonischen MitEmpfinder
der Natur hab' ich doch noch nicht ge-
funden – du, ich weiß es, hältst den
in deiner Seele für unsinnig, der nach
dem Lesen dieser 4. OriginalBriefe | 3 |
nicht – Wahrheit Gottes drinn fühlt.


O Baßedow, wenn Goethe dieß dir vorlie-
set, so mögt' ich mit Petrus oder Paullus
Blick in die tiefste Tiefe deines Herzens
schauen, ob dir der Funke Gottes in dir
nicht aufglühen, Gottes Stimme nicht sagℓ
wird – "Ich streite wider Gott – wenn ich
hier nicht anbethe."


Ob das Ding wegen Grebel in den Jour-
nal gedruckt werde, ist mir an sich
ziemlich gleich – aber – aber! Meine
Herrn werden denken, ich habe sie zum
beßten; denn förmlicher Auftrag ists
doch, so was (und dies hat der Präses der
Censur gelesen u: gebilligt) drucken
zulaßen. Setze dich genau in mei- | 4 |
ne Situation u: entscheide, oder schreib
mir einen zeigbaren umständlichen
Brief, den der Präses lesen muß – Der
geradeste Weg aber wär, es laufen zu-
laßen.


Du hast den Wunderthäter auch gesehℓ?
Sprich – auch ein einziges mal, eine
Viertelstunde.


Menschengesicht ist mir mehr als alle
Erzählungen u: Urkunden – drum
will ich den Mann sehen.


Sage Baßedown, daß wir nun die
nächste Woche zusammen kommen, ihm
zuschreiben. Herders Philosophie soll
er mir schleünigst senden.


Dank, daß du meiner allweg gedenkst. | 5 |
Es ist mächtiges Zutrauen in dich, daß
ich – am Ende der Perspektife auf die
Erbärmlichkeiten, die du an mir wahr-
genommen haben mußt – noch an
dich schreiben kann.


Und die III. Ep: an T.? Arme Seele –
Aber! schone meiner!


Klopstok – nun, ich gönn' ihn Schloßern
mehr, wie dir – u: doch – ich schweige –
Herr Jesus, wie viel lieber bist du mir,
deiner Natürlichkeit, deiner Unschrift-
stellerhaftigkeit wegen, als der liebste,
bewunderteste aller meiner Lieblings-
Schriftsteller – Freund Baßedow, FrizJaco-
bi ist gewiß auch in der Gnadenwahl| 6 |
wie Kl. sagt.


Werther durch Fink über die Post - u:
Faust – ein par Stellen draus – u: dann
Billiets von meinem Weibchℓ - u: von
mir. Adieü.


S: Zentralbibliothek Zürich  D: Briefe HA Nr. 26  B: 1774 September vor 17 (vgl. RA 1, Nr. 33)  B?: 1774 August 2. Hälfte (WA IV 30, Nr. 246a)  A: (!)1775 April (WA IV 2, Nr. 325)  V: Abschrift 

Dank für G.s Briefchen. - Begeisterung über seine Begegnung mit dem Landgrafen Friedrich von Hessen-Homburg, dessen Frau Karoline und deren Schwester Luise bei J. Gujer. - L. übersendet die J. J. Gaßner betreffenden Originalbriefe. G. möge sie an S. K. von Klettenberg weiterleiten. Gewiß halte G. den [...] für unsinnig, der nach dem Lesen [...] nicht - Wahrheit Gottes drinn fühlt. O Baßedow, wenn Goethe dieß dir vorlieset [...]. Über L.s Verlangen, Gaßner zu sehen. Wenn es nicht anders möglich sei, müsse J. L. Passavant mit ihm hin - anzubethen in Schauender Kinder Einfalt. / - Ob das Ding wegen F. Grebel in den Journal gedruckt werde, sei L. gleichgültig; Erwägungen dazu (vgl. RA 1, Nr. 35). - Von Basedow erbitte L. Herders Philosophie ("Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit", 1774). - Zu Nachrichten über Klopstock und J. G. Schlosser. Erwähnung F. H. Jacobis. - L. erwarte Werther [...] - u. Faust - ein par Stellen draus.

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 Auch Dank für dein Briefchen. Diese Woche hatt' ich mit den Prinzeßinnen von Homb: u: Darmstadt – und dem überaus liebenswürdigen Landgrafen Freüde. Ich sahe sie in Kleinjoggsstube u: communicirte ihnen sein Brod – Prinz​ṇ Louise – wahrlich eine große Seele! – Ich hätte sie küßen mögen!

 Hier die Originalbriefe, den Wunderthäter betreffend: so oft ichs lese, muß ich weinen. Ich untersuche nicht für mich, sondern für die Schwachgläubigℓ – wer hier nicht untersuchen will, u: sich Christ nennt, u: doch nicht durchs Gefühl glaubt, was ist der? Ich weiß es| 2 | nicht.

 Die Briefe schikst du, nein, bringst du der Klettenbergerinn – sie sendet mir's, durch Fink in Stuttgard bäldest zurück – Ich habe nun noch an den Prälaten zu Salmersschweil, u: dem Gaßner selber wieder geschrieben. Dann muß, wenn er mir nicht näher kömmt, Paßevant mit mir hin – anzubethen in Schauender Kinder Einfalt.

 Du – ich appellire immer an dich; denn einen so harmonischen MitEmpfinder der Natur hab' ich doch noch nicht gefunden – du, ich weiß es, hältst den in deiner Seele für unsinnig, der nach dem Lesen dieser 4. OriginalBriefe| 3 | nicht – Wahrheit Gottes drinn fühlt.

 O Baßedow, wenn Goethe dieß dir vorlieset, so mögt' ich mit Petrus oder Paullus Blick in die tiefste Tiefe deines Herzens schauen, ob dir der Funke Gottes in dir nicht aufglühen, Gottes Stimme nicht sagℓ wird – "Ich streite wider Gott – wenn ich hier nicht anbethe."

 Ob das Ding wegen Grebel in den Journal gedruckt werde, ist mir an sich ziemlich gleich – aber – aber! Meine Herrn werden denken, ich habe sie zum beßten; denn förmlicher Auftrag ists doch, so was (und dies hat der Präses der Censur gelesen u: gebilligt) drucken zulaßen. Setze dich genau in mei| 4 |ne Situation u: entscheide, oder schreib mir einen zeigbaren umständlichen Brief, den der Präses lesen muß – Der geradeste Weg aber wär, es laufen zulaßen.

 Du hast den Wunderthäter auch gesehℓ? Sprich – auch ein einziges mal, eine Viertelstunde.

 Menschengesicht ist mir mehr als alle Erzählungen u: Urkunden – drum will ich den Mann sehen.

 Sage Baßedown, daß wir nun die nächste Woche zusammen kommen, ihm zuschreiben. Herders Philosophie soll er mir schleünigst senden.

 Dank, daß du meiner allweg gedenkst.| 5 | Es ist mächtiges Zutrauen in dich, daß ich – am Ende der Perspektife auf die Erbärmlichkeiten, die du an mir wahrgenommen haben mußt – noch an dich schreiben kann.

 Und die III. Ep: an T.? Arme Seele – Aber! schone meiner!

 Klopstok – nun, ich gönn' ihn Schloßern mehr, wie dir – u: doch – ich schweige – Herr Jesus, wie viel lieber bist du mir, deiner Natürlichkeit, deiner Unschriftstellerhaftigkeit wegen, als der liebste, bewunderteste aller meiner LieblingsSchriftsteller – Freund Baßedow, FrizJacobi ist gewiß auch in der Gnadenwahl| 6 | wie Kl. sagt.

 Werther durch Fink über die Post - u: Faust – ein par Stellen draus – u: dann Billiets von meinem Weibchℓ - u: von mir. Adieü.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 34, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0034_00036.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 34.

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