Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 7
Von Johann Georg Christian Kestner

zwischen 20. und 29. November 1772, ? Wetzlar

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Stoff zur Erzählung, den
unglücklichen Tod Jerusalems
betrℓ.


Jerusalem ist die ganze Zeit seines hie-
sigen Aufenthalts durch misvergnügt
gewesen, es sey nun überhaupt wegen
der Stelle, die er hier bekleidete und daß
ihm gleich Anfangs │:bey Grav Bassenheim:│
der Zutritt in den grossen Gesellschaf-
ten auf eine unangenehme Art versaget worden, oder insbe-
sondere wegen des Braunschwℓ.
Gesandten, mit dem er bald nach
seiner Ankunft kundbare heftige Streitigkeiten
hatte, die ihm Verweise vom Hofe
zuzogen und noch weitere ver-
drießliche Folgen für ihn gehabt haben.
Er wünschte längst und arbeitete
daran, von hier wieder wegzukommen;
sein hiesiger Aufenthalt war ihm ver-
haßt, wie er oft gegen seine Bekannte
geäusert hat und durch mei-
nen Bedienten, dem es der seinige oft ge-
sagt, wußte ich dieses längst. Bis-
her hofte er, das hiesige Geschäft soll-
te sich zerschlagen; da nun seit einiger
Zeit mehrerer Anschein zur Wieder-
Vereinigung war, und man in Publico
solche schon nahe u. gewiß glaubte,
ist Er etwa vor 8 Tagen bey dem | 2 |
Gesandten Falcke │:dem er bekannt u. von dem Vater empfohlen war:│ gewesen, u. hat
diesen darüber auszuforschen gesucht,
der denn, obgleich keine völlige Ge-
wißheit, doch den Anschein u. Hoffnung
bezeuget.


Neben dieser Unzufriedenheit, war
er auch in des Pfalzlauterℓ. Secret. Hert
Frau verliebt. Ich glaube nicht, daß
diese zu dergℓ. Galanterien aufgelegt
ist, mithin, da der Mann noch dazu
sehr eyfersüchtig war,
mußte diese Liebe
vollends seiner Zufriedenheit
und Ruhe den Stoß geben.


Er entzog sich allezeit der mensch-
lichen Gesellschaft u. den übrigen Zeitver-
treiben u. Zerstreuungen, liebte einsame
Spatziergänge im Mondenschein, ging oft viele
Meilen weit u. hing da seinem
Verdruß und seiner Liebe ohne Hoff-
nung nach. Jedes ist schon im Stande
die erfolgte Würkung hervorzu-
bringen. Er hatte sich einst Nachts im
Walde verirrt, fand endlich
noch Bauern, die ihn zurecht
wiesen u. kam um 2 Uhr
zu Haus.


Dabey behielt er seinen ganzen Kum-
mer bey sich und entdeckte solchen,
oder vielmehr die Ursachen
davon, nicht einmahl seinen Freun-
den. Selbst dem Kielmansegge hat er | 3 |
nie etwas von der Herten gesagt,
wovon ich aber zuverlässig unter-
richtet bin.


Er las viel Romane, und hat
selbst gesagt, daß kaum ein
Roman seyn würde, den er nicht
gelesen hätte. Die fürchterlichsten
Trauerspiele waren ihm die liebsten.
Er las ferner philosophische Schrift-
steller mit grossem Eyfer und
grübelte darüber. Er hat auch
verschiedene philosophische Aufsätze
gemacht, die Kielmansegge gele-
sen und sehr von andern Mey-
nungen abweichend gefunden hat;
unter andern auch einen besondern
Aufsatz, worin er den SelbstMord
vertheidigete. Oft beklagte er sich gegen Kiel-
mansegge über die engen Gränzen, wel-
che dem menschlichen Verstande ge-
setzt wären, wenigstens dem Seinigen; er
konnte äuserst betrübt werden, wenn
er davon sprach, was er wissen
mögte, was er nicht ergründen
könne p │:diesen Umstand habe
ich erst kürzlich erfahren
u. ist, deucht mir, eine Schlüssel
eines grossen Theils
seines Verdrusses, und seiner
Melancholie, die man beyde aus
seinen Mienen lesen konnte; ein
Umstand der ihm Ehre macht und
seine letzte Handlung bey mir
zu veredlen scheint:│


   Mendelsohns Phädon war seine
liebste Lecture; in der Materie
vom Selbstmorde war er aber
immer mit ihm unzufrieden; wobey
zu bemerken ist, daß er denselben
auch bey der Gewißheit von
der Unsterblichkeit der Seele
, die er glaubte, er-
laubt hielt.


   Leibnitzens Werke las er mit
grossen Fleisse.


Als letzthin das Gerücht vom
Goué sich verbreitete, glaubte
er diesen zwar nicht zum Selbst-
Morde fähig, stritt aber in Thesi
eifrig für diesen, wie mir Kiel-
mansegge u. viele, die um ihn
gewesen, versichert haben. | 4 |
Ein Paar Tage vor dem unglück-
lichen, da die Rede vom SelbstMorde
war, sagte er zu Schleunitz, es müse
aber doch eine dumme Sache seyn, wenn
das Erschiessen misriethe.


Auch einige Tage zuvor sprachen
Brandten mit ihm von seinen
weiten einsamen Spatziergängen,
daß ihm da leicht einmahl ein Un-
glück zustossen könte, wie z. Ex.
vor einiger Zeit, da einer beym
entstandenen Gewitter sich unter
ein Gemäuer retiriret, u. dieses
über ihm eingestürzet wäre.
Er antwortete, das würde mir
eben recht seyn. Dorthel verspricht ihm ein Kränzchen
zu machen, wenn er hier stürbe.
Er hat in Brandten Hause sehr über Nieper
geklagt, daß dieser gar nicht schriebe,
er schäme sich zu ihnen zu kommen, da
er immer nichts von ihm sagen könne.
Mit einiger Hitze zu Annchen: Ja
ich versichere Sie, die Sünden meiner
Freunde schmerzen mich. │:Nieper war
Anbeter der Annchen:│ Zu Kielmansegge
hat er vom Nieper gesagt, dieser hätte
eine DreckSeele; was man noch in
der Welt machen solle, wo man einen
abwesenden Freund nicht einmahl
conserviren könne.


In diesen Tagen hat er mich,
da er im Brandtischen Hause war, ins
Buffische Haus gehen sehen │:oder viel-
mehr es geglaubt, da es eigentlich ein anderer
war:│ und gesagt, mit einem besondern Thon:
wie glücklich ist Kestner! wie ruhig er
dahin geht!


Vergangenen Dienstag kommt
er zum krancken Kielmansegge,
mit einem misvergnügten
Gesicht. Dieser frägt ihn, wie
er sich befände? Er: besser als
mir lieb ist. Er hat auch den Tag viel von der Liebe gesprochen,
welches er sonst nie gethan; und dann
von der Franckfurter Zeitung, die ihm
seit einiger Zeit mehr als sonst gefalle.
Nachmittags │:Dienstag:│ ist er bey Secret
Hert gewesen [Hirher gehört, was auf
der folgenden Seite eingeklammert steht.]
[Bis Abends 8. Uhr spielen sie Ta-
rock zusammen. Annchen Brand war
auch da; Jerusalem begleitet diese
nach Haus. Im Gehen schlägt Je-
rusalem oft unmuthsvoll vor
die Stirn u. sagt wiederholt: Wer
doch erst todt, – wer doch erst im
Himmel wäre! – Annchen spaßt
darüber; er bedingt
sich bey ihr im Himmel einen Platz
und beim Abschiednehmen sagt er
mit gezwungenem Lachen: Nun es bleibt dabey, ich bekomme bey
Ihnen im Himmel einen Platz.]


Am Mittewochen, da
im Kronprinz groß Fest war und
ieder iemand zu Gaste hatte, ging
er, ob er gleich sonst zu Haus aß, | 5 |
zu Tisch u. brachte den Secret. Hert
mit sich. Er hat sich da nicht
anders als sonst vielmehr munterer betragen. Nach
dem Essen nimmt ihn Secret. Hert
mit nach Haus zu seiner Frau. Sie
trincken Kaffee. Jerusalem sagt zu
der Herten: Liebe Frau Secretarin,
dieß ist der letzte Kaffee, den ich mit
Ihnen trincke. – Sie hält es für Spaß
und antwortet in diesem Thon.


Diesen Nachmittag │:Mittwochs:│
ist Jerusalem allein bei Herts gewesen,
was da vorgefallen, weiß man nicht,
vielleicht liegt hierin der Grund zum
folgenden. – Abends, als es eben dunckel
geworden, kommt Jerusalem nach Garben-
heim, ins gewöhnℓ Gasthaus, frägt
ob niemand oben im Zimmer wäre? Auf
die Antwort: Nein, geht er hinauf, kommt
bald wieder herunter, geht zum Hofe
hinaus, zur lincken Hand hin, kehrt
nach einer kleinen zurück, geht in den
Garten, es wird ganz dunckel, er
bleibt da lange, die Wirthin macht
ihre Anmerckungen darüber, er kommt
wieder heraus, geht bei ihr, alles ohne
ein Wort zu sagen, und mit heftigen
Schritten, vorbey zum Hofe hinaus, rechts
davon springend.


Inzwischen oder noch später ist unter
Hert u. seiner Frau etwas vorgegan-
gen, wovon Hert einer Freundin
vertrauet, daß sie sich
über Jerusalem etwas entzweyet und
die Frau endlich verlangt, daß
Er ihm das Haus verbieten
solle, worauf er es auch
folgenden Tags in einem Billet
gethan.


Nachts vom Mittewoch auf den Donnerstag ist er um 2.
Uhr aufgestanden, hat den Bedienten geweckt, ge-
sagt, er könne nicht schlafen, es sey nicht wohl,
läßt einheitzen, Thee machen, ist aber doch nachher
[ganz] wohl, dem Ansehen nach.


Donnerstags Morgens schickt Secret.
Hert an Jerusalem ein Billet. Die
Magd will keine Antwort a[b-] | 6 |
warten u. geht. Jerusalem hat sich eben rasiren lassen. Nachmittags schic[kt]
Jerusalem wiederum ein Billet an Secret.
Hert, dieser nimmt es dem Be-
dienten nicht ab, und sagt, er brau-
che keine Antwort, er könne sich in keine Correspondenz einlassen, und sie sähen
sich ia alle Tage auf der Dictatur.
Als der Bediente das Billet unerbrochen wieder
zurückbringt, wirft es Jerusa-
lem auf den Tisch u. sagt:
es ist auch gut. │:Vielleicht den Bedienten [glauben zu machen, daß es etwas gleichgültiges betreffe.:│]


Mittags isset er zu Haus, aber wenig,
etwas Suppe. Schickt um 1. Uhr ein
Billet an mich u. zugleich an seinen
Gesandten, worin er diesen ersucht,
ihm auf diesen │:oder künftigen:│ Monath
sein Geld zu schicken. Der Bediente
kommt zu mir. Ich bin nicht zu Hause,
mein Bedienter auch nicht. Jerusalem
ist inzwischen ausgegangen, kommt
um 1/2 4 Uhr zu Haus, der Bediente giebt
ihm das Billet
wieder. Dieser sagt: Warum
er es nicht in meinem Hause, etwa
an die Magd, abgegeben? Jener: Weil
es offen u. unversiegelt gewesen,
hätte er es nicht thun mögen. – Jeru-
salem: Das hätte nichts gemacht;
iedermann könnte es lesen er sollte es wieder hin-
bringen. – Der Be-
diente hielte sich hierdurch
berechtigt, es auch zu lesen, liest es,
u. schickt es mir darauf durch einen
Buben, der im Hause aufwartet. | 7 |
Ich war inzwischen zu Haus gekommen;
es mogte 1/2 4 Uhr seyn, als ich das
Billet bekam:


"Dürfte ich Ew. Wohlgebℓ. wohl
zu einer vorhabenden Reise um
ihre Pistolen gehorsamst er-
suchen?
   J."


Da ich nun von alle dem vorher
erzählten u von
seinen Grundsätzen nichts wußte,
indem ich nie besondern Umgang
mit ihm gehabt; – so hatte ich
nicht den mindesten Anstand, ihm
die Pistolen sogleich zu schicken.


Nun hatte der Bediente in dem Billet
gelesen, daß sein Herr verreisen
wollte, u. dieser ihm solches selbst
gesagt, auch alles auf den an-
dern Morgen um 6. Uhr zur Reise be-
stellt, sogar den Friseur, ohne daß der Bediente wußte
wohin, noch mit wem, noch auf
was Art? Weil Jerusalem aber
allezeit seine Unter-
nehmungen vor ihm geheim tractiret;
so schöpfte dieser keinen Argwohn.
Er dachte iedoch bey sich: Sollte mein
Herr etwa heimlich nach
Braunschweig reisen wollen, und
dich hier sitzen lassen? p
Er mußte die Pistolen zum Büchsen- | 8 |
schäfter tragen und sie mit Kugeln
laden lassen.


Den ganzen Nachmittag war Jeru-
salem für sich allein beschäftiget,
kramte in seinen Papieren, schrieb,
ging, wie die Leute unten im Hause
gehört, oft im Zimmer heftig auf
und nieder. Er ist auch verschiedene Mahl aus-
gegangen; Hat seine kleinen Schul-
den, u. wo er nicht auf Rechnung aus-
genommen, bezahlt; er hatte ein Paar
Manschetten ausgenommen, Er sagt zum
Bedienten, sie gefielen ihm nicht, er
sollte sie wieder zum Kauffmann
bringen, wenn dieser sie aber nicht
gern wieder nehmen wollte, so wäre
da das Geld dafür, welches der Kauf-
mann auch lieber genommen.


Etwa um 7 Uhr kam der Italiänische
SprachMeister zu ihm. Dieser fand
ihn unruhig und verdrießlich. Er
klagte, daß er seine Hypochon-
drie wieder starck habe, und über
mancherley; erwähnt auch, daß
das Beste sey, sich aus der Welt
zu schicken. Der Italiäner redet ihm
sehr zu, man müsse dergℓ. Passionen
durch die Philosophie zu unterdrücken suchen p.
Jerusalem: das liesse sich nicht so thun;
er wäre heute lieber allein, er möchte
ihn verlassen. Der Ital: er müsse in Ge-
sellschaft gehen, sich zerstreuen p. Jerus:
Er ginge auch noch aus. – Der Italiäner,
der auch die Pistolen auf dem Tisch liegen
gesehen, besorgt den Erfolg, geht um 1/2 8 Uhr weg u. zu Kiel-
mansegge, da er denn von nichts als von
Jerusalem, dessen Unruhe und Unmuth, spricht,
ohne iedoch von seiner Besorgniß zu er- | 9 |
wähnen, indem er geglaubt, man möchte
ihn deswegen auslachen.


Der Bediente ist zu Jerusalem gekommen,
um ihm die Stiefeln auszuziehen. Die-
ser hat aber gesagt, er gienge noch aus;
wie er auch würckℓ gethan hat, vor das
Silberthor auf die Starke Weide u.
sonst auf die Gasse, wo er bey ver-
schiedenen, den Huth tief in die Augen
gedrückt, vorbeygerauschet ist, mit
schnellen Schritten, ohne iemand anzu-
sehen. Man hat ihn auch um diese
Zeit eine ganze Weile an dem
Fluß stehen sehen, in einer
Stellung, als wenn er sich hinein-
stürzen wolle. │:so sagt man:│


Vor 9 Uhr kommt er zu Haus, sagt
dem Bedienten, es müsse im Offen noch
etwas nachgelegt werden, weil er
so bald nicht zu Bette ginge, auch solle
er auf Morgen früh 6 Uhr alles zurecht
machen. läßt sich auch noch einen
Schoppen Wein geben. Der Bediente um recht
früh bey der Hand zu seyn, da sein
Herr immer sehr accurat gewesen, legt
sich mit den Kleidern ins Bette.


Da nun Jerusalem allein war, scheint
er alles zu der schrecklichen Handlung
vorbereitet zu haben. Er hat seine Brief-
schaften alle zerrissen u. unter den Schreib-
tisch geworfen, wie ich selbst gesehen. Er
hat zwey Briefe, einen an seine Ver-
wandte, den andern an Hert geschrieben; | 10 |
man meynt auch einen an den Gesandten
Höffler, den dieser vielleicht unterdrückt.
Sie haben auf dem Schreibtisch ge-
legen. Erster, den der Medicus an-
dern Morgens gesehen, hat
überhaupt nur folgendes enthalte[n,]
wie Dr Held, der ihn gelesen, mir
erzählt:


   Lieber Vater, liebe Mutter, liebe
   Schwestern u. Schwager, verzeihen
   Sie Ihrem unglücklichen Sohn und
   Bruder; Gott, Gott, segne euch.


In dem Zweyten hat er Herten um Ver-
zeihung gebeten, daß er die Ruhe und
das Glück seiner Ehe gestöhret, und
unter diesem theuren Paar Uneinig-
keit gestiftet p Anfangs sey seine
Neigung gegen seine Frau nur Tugend
gewesen p In der Ewigkeit aber hoffe
er ihr einen Kuß geben zu dürfen. p.
Er soll 3 Blätter groß gewesen
seyn u. sich damit geschlossen
haben: "Um 1 Uhr In ienem Leben sehen wir uns
wieder." │:Vermuthℓ. hat er
sich sogleich erschossen, da er diesen
Brief geendigt:│


Diesen ohngefähren Inhalt habe
ich von iemand, dem der Gesandte Höf[f-]
ler ihn in Vertrauen gesagt, w[el-]
cher daraus auf einen würklich straf-
baren Umgang mit der Frau schlies-
sen will. Allein bey Herten war
nicht viel erforderℓ., um seine Ruhe
zu stöhren u. eine Uneinigkeit zu be-
würken. Der Gesandte, deucht mich, sucht
auch die Aufmerksamkeit ganz von
sich, auf diese Liebesbegebenheit zu | 11 |
lencken, da der Verdruß von ihm wohl
zugleich Jerusalem determiniret hat;
zumahl da der Gesandte verschiedentlich
auf die Abberuffung des Jerusalem
angetragen, und ihm noch kürzlich
starke Reprochen vom Hofe
verursacht haben soll. Hingegen hat der Erbprinz v. Braunschℓ.,
der ihm gewogen gewesen, vor
kurzen geschrieben, u. daß er sich hier
noch ein wenig gedulden mögte, u.
[wenn er] Geld bedürfe, es ihm nur
schreiben sollte, ohne sich an
seinen Vater, den Herzog, zu wenden.


Nach diesen Vorbereitungen, etwa
gegen 1 Uhr, hat er sich denn über das
rechte Auge hinein durch den Kopf ge-
schossen man findet die Kugel nirgends. Niemand im Hause hat
den Schuß gehört; sondern der Fran-
ciscaner Pater Guardian, der
auch den Blick vom Pulver gesehen,
weil es aber stille geworden, nicht
darauf geachtet hat. Der Bediente hatte die vorige Nacht
wenig geschlafen u. hat sein Zimmer
weit hinten hinaus, wie auch die
Leuthe im Haus, welche unten
hinten hinaus schlafen.


Es scheint sitzend im Lehnstuhl
vor seinem Schreibtisch geschehen zu seyn.
Der Stuhl hinten im Sitz war blutig,
auch die Armlehnen. Darauf ist er
vom Stuhl herunter gesunken, auf
der Erde war noch viel Blut. Er muß sich auf der Erde in
seinem Blute gewälzet haben; erst
beym Stuhle war eine grosse Stelle
von Blut; die Weste vorn ist auch
blutig; er scheint auf dem Gesicht ge-
legen zu haben; dann ist er weiter um
den Stuhl herum nach dem Fenster hin
gekommen, wo wieder viel Blut ge-
standen, u. er auf dem Rücken ent-
kräftet gelegen hat. │: er war in
völliger Kleidung, gestiefelt;
im blauen Rock mit gelber Weste:│


Morgens vor 6 Uhr
geht der Bediente zu seinem Herrn ins
Zimmer ihn zu wecken, das Licht war ausgebrannt;
es war dunkel, er sieht Jerusalem auf der Erde liegen,
bemerckt etwas Nasses und meynt
er mögte sich übergeben haben; wird aber | 12 |
die Pistole auf der Erde und darauf
Blut gewahr, ruft: Mein Gott, Hℓ.
Assessor was haben Sie angefangen,
schüttelt ihn, er giebt keine Antwort
und röchelt nur noch. Er
läufet zu Medicis
u. Wundärtzten. Sie kommen, es war
aber keine Rettung. Dr Held erzählte mir, als er
zu ihm gekommen, habe er auf
der Erde gelegen, der Puls noch
geschlagen; doch ohne Hülfe;
die Glieder alle wie gelähmt,
weil das Gehirn lädirt auch
herausgetreten gewesen; zum
Ueberflusse habe er ihm eine
Ader am Arm geöfnet, wobey
er ihm den schlaffen Arm halten
müssen, das Blut wäre doch
noch gelaufen. Er habe nichts
als Athem geholet, weil das
Blut in der Lunge noch
circuliret u. diese daher
noch in Bewegung gewesen. Das Gerücht
von dieser Begebenheit verbreitete sich
schnell; die ganze Stadt war
in Schrecken und Aufruhr. Ich hörte
es erst um 9 Uhr, meine Pistolen
fielen mir ein und ich weiß nicht, daß
ich kurzens so sehr erschrocken bin.
Ich zog mich an u. ging hin. Er
war auf das Bette gelegt, die Stirne
bedeckt, sein Gesicht schon wie
eines Todten, er rührte kein Glied
mehr, nur die Lunge war noch
in Bewegung, und röchelte fürchter-
lich, bald schwach bald stärcker, man
erwartete sein Ende.


Von dem Wein hatte er nur ein
Glaß getrunken. Hin und wieder
lagen Bücher und von seinen eigenen
schriftlichen Aufsätzen. Emilia Ga-
lotti lag auf einem Pult am Fenster
aufgeschlagen; daneben ein Manuscript | 13 |
ohngefähr 1 Finger dick in Quart,
philosophischen Inhalts, der Erste
Theil oder Brief war über überschrie-
ben: von der Freyheit, es war darin
von der moralischen Freyheit die Rede.
Ich blätterte zwar darin, um zu
sehen, ob der Inhalt auf seine
letzte Handlung einen Bezug habe,
fand es aber nicht, ich war
aber so bewegt und consternirt,
daß ich mich nichts daraus besinne,
noch die Scene, welche von der
Emilia Galotti aufgeschlagen
war, weiß, ohnergeachtet ich mit
Fleiß darnach sah.


Gegen 12 Uhr starb er. Ab[ends]
3/4 11 Uhr ward er auf dem gew[öhn-]
lichen Kirchhof begraben, ohne daß er Seciret ist,
weil man von dem Reichs-
Marschall Amt Eingriffe
in die Gesandtschaftℓ. Rechte
fürchtete. in de[r]
Stille mit 12. Lanternen u[nd]
einigen Begleitern, BarbierGesellen
haben ihn getragen; Das Kreutz ward
voraus getragen; kein Geistlicher hat
ihn begleitet.


Es ist ganz ausserordentlich, was
diese Begebenheit für einen Ein- | 14 |
druck auf aller Gemüther gemacht[.]
Leuthe, die ihn kaum einmahl
gesehen, können sich noch nicht beru-
higen; viele können seit dem noch
nicht wieder ruhig schlafen; besonders
Frauenzimmer nehmen grossen Antheil
an seinem Schicksal; er war ge-
fällig gegen das Frauenzimmer und
seine Gestalt mag gefallen haben. p.



| 15 |


Zur Geschichte von Jerusalems
Tode.


Man will geheime Nachrichten
aus Munde des Secret. Hert haben,
daß am Mittewochen vor Jersualems
Tode, da dieser beym Hert u. seiner
Frau zum Kaffee war, der Mann
zum Gesandten gehen
müssen;
Nachdem der Mann wieder kömmt,
bemerckt er an seiner Frau eine
ausserordentliche Ernsthaftigkeit und
bey Jerusalem eine Stille, welche
beyde ihm sonderbar u. bedenklich
geschienen, zumahl, da er sie nach
seiner Zurückkunft so sehr verändert
findet. – Jerusalem geht weg.
│:hieher gehört, aus der Geschichte,
daß er nach Garbenheim gekommen p:│
Secret. Hert macht über obiges seine
Betrachtungen; er faßt Argwohn,
ob etwa in seiner Abwesenheit
etwas ihm nachtheiliges vorgegan-
gen seyn möchte, denn er ist sehr arg-
wöhnisch u. eyfersüchtig. Er stellt
sich iedoch ruhig u. lustig; u. will
seine Frau auf die Probe stellen. Er
sagt: Jerusalem hätte ihn doch oft | 16 |
zum Essen gehabt p was sie meynte,
ob sie Jerusalem nicht auch einmah
zum Essen bey sich haben woll-
ten? – Sie, die Frau,antwortet: Nein;
und sie müßten den Umgang mit Je-
rusalem ganz abbrechen; er finge an
sich so zu betragen, daß sie seinen Um-
gang ganz vermeiden müßte. Und sie
hielte sich verbunden ihm, dem Mann, zu
erzählen, was in seiner Abwesenheit
vorgegangen sey. Jerusalem
habe sich vor ihr auf die Knie ge-
worfen und ihr eine förmliche Liebes-
Erklärung thun wollen. Sie sey na-
türlicher Weise darüber aufgebracht
worden u. hätte ihm viele Vorwür-
fe gemacht p.p. Sie verlange nun,
daß ihr Mann, ihm, dem Jerusalem,
das Haus verbieten solle, denn sie
könne und wolle nichts weiter von
ihm hören noch sehen.


Hierauf habe Hert andern Mor-
gens das Billet an Jerusalem
geschrieben p.p.


S: Stadtarchiv Hannover  D: GKL Nr. 19 und 135  B: 1772 November 20 (WA IV 2, Nr. 108)  A: 1772 November 29 (WA IV 2, Nr. 110)  V: Konzept 

Ausführlicher Bericht über den Freitod K. W. Jerusalems und die vorangegangenen Ereignisse.

| 1 |

 Stoff zur Erzählung, den unglücklichen Tod Jerusalems betrℓ.

 Jerusalem ist die ganze Zeit seines hiesigen Aufenthalts durch misvergnügt gewesen, es sey nun überhaupt wegen der Stelle, die er hier bekleidete und daß ihm gleich Anfangs │:bey Grav Bassenheim:│ der Zutritt in den grossen Gesellschaften auf eine unangenehme Art versaget worden, oder insbesondere wegen des Braunschwℓ. Gesandten, mit dem er bald nach seiner Ankunft kundbare heftige Streitigkeiten hatte, die ihm Verweise vom Hofe zuzogen und noch weitere verdrießliche Folgen für ihn gehabt haben. Er wünschte längst und arbeitete daran, von hier wieder wegzukommen; sein hiesiger Aufenthalt war ihm verhaßt, wie er oft gegen seine Bekannte geäusert hat und durch meinen Bedienten, dem es der seinige oft gesagt, wußte ich dieses längst. Bisher hofte er, das hiesige Geschäft sollte sich zerschlagen; da nun seit einiger Zeit mehrerer Anschein zur WiederVereinigung war, und man in Publico solche schon nahe u. gewiß glaubte, ist Er etwa vor 8 Tagen bey dem| 2 | Gesandten Falcke │:dem er bekannt u. von dem Vater empfohlen war:│ gewesen, u. hat diesen darüber auszuforschen gesucht, der denn, obgleich keine völlige Gewißheit, doch den Anschein u. Hoffnung bezeuget.

 Neben dieser Unzufriedenheit, war er auch in des Pfalzlauterℓ. Secret. Hert Frau verliebt. Ich glaube nicht, daß diese zu dergℓ. Galanterien aufgelegt ist, mithin, da der Mann noch dazu sehr eyfersüchtig war, mußte diese Liebe vollends seiner Zufriedenheit und Ruhe den Stoß geben.

 Er entzog sich allezeit der menschlichen Gesellschaft u. den übrigen Zeitvertreiben u. Zerstreuungen, liebte einsame Spatziergänge im Mondenschein, ging oft viele Meilen weit u. hing da seinem Verdruß und seiner Liebe ohne Hoffnung nach. Jedes ist schon im Stande die erfolgte Würkung hervorzubringen. Er hatte sich einst Nachts im Walde verirrt, fand endlich noch Bauern, die ihn zurecht wiesen u. kam um 2 Uhr zu Haus.

 Dabey behielt er seinen ganzen Kummer bey sich und entdeckte solchen, oder vielmehr die Ursachen davon, nicht einmahl seinen Freunden. Selbst dem Kielmansegge hat er| 3 | nie etwas von der Herten gesagt, wovon ich aber zuverlässig unterrichtet bin.

 Er las viel Romane, und hat selbst gesagt, daß kaum ein Roman seyn würde, den er nicht gelesen hätte. Die fürchterlichsten Trauerspiele waren ihm die liebsten. Er las ferner philosophische Schriftsteller mit grossem Eyfer und grübelte darüber. Er hat auch verschiedene philosophische Aufsätze gemacht, die Kielmansegge gelesen und sehr von andern Meynungen abweichend gefunden hat; unter andern auch einen besondern Aufsatz, worin er den SelbstMord vertheidigete. Oft beklagte er sich gegen Kielmansegge über die engen Gränzen, welche dem menschlichen Verstande gesetzt wären, wenigstens dem Seinigen; er konnte äuserst betrübt werden, wenn er davon sprach, was er wissen mögte, was er nicht ergründen könne p │:diesen Umstand habe ich erst kürzlich erfahren u. ist, deucht mir, eine Schlüssel eines grossen Theils seines Verdrusses, und seiner Melancholie, die man beyde aus seinen Mienen lesen konnte; ein Umstand der ihm Ehre macht und seine letzte Handlung bey mir zu veredlen scheint:│

  Mendelsohns Phädon war seine liebste Lecture; in der Materie vom Selbstmorde war er aber immer mit ihm unzufrieden; wobey zu bemerken ist, daß er denselben auch bey der Gewißheit von der Unsterblichkeit der Seele , die er glaubte, erlaubt hielt.

  Leibnitzens Werke las er mit grossen Fleisse.

 Als letzthin das Gerücht vom Goué sich verbreitete, glaubte er diesen zwar nicht zum SelbstMorde fähig, stritt aber in Thesi eifrig für diesen, wie mir Kielmansegge u. viele, die um ihn gewesen, versichert haben.| 4 | Ein Paar Tage vor dem unglücklichen, da die Rede vom SelbstMorde war, sagte er zu Schleunitz, es müse aber doch eine dumme Sache seyn, wenn das Erschiessen misriethe.

 Auch einige Tage zuvor sprachen Brandten mit ihm von seinen weiten einsamen Spatziergängen, daß ihm da leicht einmahl ein Unglück zustossen könte, wie z. Ex. vor einiger Zeit, da einer beym entstandenen Gewitter sich unter ein Gemäuer retiriret, u. dieses über ihm eingestürzet wäre. Er antwortete, das würde mir eben recht seyn. Dorthel verspricht ihm ein Kränzchen zu machen, wenn er hier stürbe. Er hat in Brandten Hause sehr über Nieper geklagt, daß dieser gar nicht schriebe, er schäme sich zu ihnen zu kommen, da er immer nichts von ihm sagen könne. Mit einiger Hitze zu Annchen: Ja ich versichere Sie, die Sünden meiner Freunde schmerzen mich. │:Nieper war Anbeter der Annchen:│ Zu Kielmansegge hat er vom Nieper gesagt, dieser hätte eine DreckSeele; was man noch in der Welt machen solle, wo man einen abwesenden Freund nicht einmahl conserviren könne.

 In diesen Tagen hat er mich, da er im Brandtischen Hause war, ins Buffische Haus gehen sehen │:oder vielmehr es geglaubt, da es eigentlich ein anderer war:│ und gesagt, mit einem besondern Thon: wie glücklich ist Kestner! wie ruhig er dahin geht!

 Vergangenen Dienstag kommt er zum krancken Kielmansegge, mit einem misvergnügten Gesicht. Dieser frägt ihn, wie er sich befände? Er: besser als mir lieb ist. Er hat auch den Tag viel von der Liebe gesprochen, welches er sonst nie gethan; und dann von der Franckfurter Zeitung, die ihm seit einiger Zeit mehr als sonst gefalle. Nachmittags │:Dienstag:│ ist er bey Secret Hert gewesen [Hirher gehört, was auf der folgenden Seite eingeklammert steht.] [Bis Abends 8. Uhr spielen sie Tarock zusammen. Annchen Brand war auch da; Jerusalem begleitet diese nach Haus. Im Gehen schlägt Jerusalem oft unmuthsvoll vor die Stirn u. sagt wiederholt: Wer doch erst todt, – wer doch erst im Himmel wäre! – Annchen spaßt darüber; er bedingt sich bey ihr im Himmel einen Platz und beim Abschiednehmen sagt er mit gezwungenem Lachen: Nun es bleibt dabey, ich bekomme bey Ihnen im Himmel einen Platz.]

 Am Mittewochen, da im Kronprinz groß Fest war und ieder iemand zu Gaste hatte, ging er, ob er gleich sonst zu Haus aß,| 5 | zu Tisch u. brachte den Secret. Hert mit sich. Er hat sich da nicht anders als sonst vielmehr munterer betragen. Nach dem Essen nimmt ihn Secret. Hert mit nach Haus zu seiner Frau. Sie trincken Kaffee. Jerusalem sagt zu der Herten: Liebe Frau Secretarin, dieß ist der letzte Kaffee, den ich mit Ihnen trincke. – Sie hält es für Spaß und antwortet in diesem Thon.

 Diesen Nachmittag │:Mittwochs:│ ist Jerusalem allein bei Herts gewesen, was da vorgefallen, weiß man nicht, vielleicht liegt hierin der Grund zum folgenden. – Abends, als es eben dunckel geworden, kommt Jerusalem nach Garbenheim, ins gewöhnℓ Gasthaus, frägt ob niemand oben im Zimmer wäre? Auf die Antwort: Nein, geht er hinauf, kommt bald wieder herunter, geht zum Hofe hinaus, zur lincken Hand hin, kehrt nach einer kleinen zurück, geht in den Garten, es wird ganz dunckel, er bleibt da lange, die Wirthin macht ihre Anmerckungen darüber, er kommt wieder heraus, geht bei ihr, alles ohne ein Wort zu sagen, und mit heftigen Schritten, vorbey zum Hofe hinaus, rechts davon springend.

 Inzwischen oder noch später ist unter Hert u. seiner Frau etwas vorgegangen, wovon Hert einer Freundin vertrauet, daß sie sich über Jerusalem etwas entzweyet und die Frau endlich verlangt, daß Er ihm das Haus verbieten solle, worauf er es auch folgenden Tags in einem Billet gethan.

 Nachts vom Mittewoch auf den Donnerstag ist er um 2. Uhr aufgestanden, hat den Bedienten geweckt, gesagt, er könne nicht schlafen, es sey nicht wohl, läßt einheitzen, Thee machen, ist aber doch nachher [ganz] wohl, dem Ansehen nach.

 Donnerstags Morgens schickt Secret. Hert an Jerusalem ein Billet. Die Magd will keine Antwort a[b-]| 6 | warten u. geht. Jerusalem hat sich eben rasiren lassen. Nachmittags schic[kt] Jerusalem wiederum ein Billet an Secret. Hert, dieser nimmt es dem Bedienten nicht ab, und sagt, er brauche keine Antwort, er könne sich in keine Correspondenz einlassen, und sie sähen sich ia alle Tage auf der Dictatur. Als der Bediente das Billet unerbrochen wieder zurückbringt, wirft es Jerusalem auf den Tisch u. sagt: es ist auch gut. │:Vielleicht den Bedienten [glauben zu machen, daß es etwas gleichgültiges betreffe.:│]   Mittags isset er zu Haus, aber wenig, etwas Suppe. Schickt um 1. Uhr ein Billet an mich u. zugleich an seinen Gesandten, worin er diesen ersucht, ihm auf diesen │:oder künftigen:│ Monath sein Geld zu schicken. Der Bediente kommt zu mir. Ich bin nicht zu Hause, mein Bedienter auch nicht. Jerusalem ist inzwischen ausgegangen, kommt um 1/2 4 Uhr zu Haus, der Bediente giebt ihm das Billet wieder. Dieser sagt: Warum er es nicht in meinem Hause, etwa an die Magd, abgegeben? Jener: Weil es offen u. unversiegelt gewesen, hätte er es nicht thun mögen. – Jerusalem: Das hätte nichts gemacht; iedermann könnte es lesen er sollte es wieder hinbringen. – Der Bediente hielte sich hierdurch berechtigt, es auch zu lesen, liest es, u. schickt es mir darauf durch einen Buben, der im Hause aufwartet.| 7 | Ich war inzwischen zu Haus gekommen; es mogte 1/2 4 Uhr seyn, als ich das Billet bekam:

 "Dürfte ich Ew. Wohlgebℓ. wohl zu einer vorhabenden Reise um ihre Pistolen gehorsamst ersuchen?  J."

 Da ich nun von alle dem vorher erzählten u von seinen Grundsätzen nichts wußte, indem ich nie besondern Umgang mit ihm gehabt; – so hatte ich nicht den mindesten Anstand, ihm die Pistolen sogleich zu schicken.

 Nun hatte der Bediente in dem Billet gelesen, daß sein Herr verreisen wollte, u. dieser ihm solches selbst gesagt, auch alles auf den andern Morgen um 6. Uhr zur Reise bestellt, sogar den Friseur, ohne daß der Bediente wußte wohin, noch mit wem, noch auf was Art? Weil Jerusalem aber allezeit seine Unternehmungen vor ihm geheim tractiret; so schöpfte dieser keinen Argwohn. Er dachte iedoch bey sich: Sollte mein Herr etwa heimlich nach Braunschweig reisen wollen, und dich hier sitzen lassen? p Er mußte die Pistolen zum Büchsen| 8 |schäfter tragen und sie mit Kugeln laden lassen.

 Den ganzen Nachmittag war Jerusalem für sich allein beschäftiget, kramte in seinen Papieren, schrieb, ging, wie die Leute unten im Hause gehört, oft im Zimmer heftig auf und nieder. Er ist auch verschiedene Mahl ausgegangen; Hat seine kleinen Schulden, u. wo er nicht auf Rechnung ausgenommen, bezahlt; er hatte ein Paar Manschetten ausgenommen, Er sagt zum Bedienten, sie gefielen ihm nicht, er sollte sie wieder zum Kauffmann bringen, wenn dieser sie aber nicht gern wieder nehmen wollte, so wäre da das Geld dafür, welches der Kaufmann auch lieber genommen.

 Etwa um 7 Uhr kam der Italiänische SprachMeister zu ihm. Dieser fand ihn unruhig und verdrießlich. Er klagte, daß er seine Hypochondrie wieder starck habe, und über mancherley; erwähnt auch, daß das Beste sey, sich aus der Welt zu schicken. Der Italiäner redet ihm sehr zu, man müsse dergℓ. Passionen durch die Philosophie zu unterdrücken suchen p. Jerusalem: das liesse sich nicht so thun; er wäre heute lieber allein, er möchte ihn verlassen. Der Ital: er müsse in Gesellschaft gehen, sich zerstreuen p. Jerus: Er ginge auch noch aus. – Der Italiäner, der auch die Pistolen auf dem Tisch liegen gesehen, besorgt den Erfolg, geht um 1/2 8 Uhr weg u. zu Kielmansegge, da er denn von nichts als von Jerusalem, dessen Unruhe und Unmuth, spricht, ohne iedoch von seiner Besorgniß zu er| 9 |wähnen, indem er geglaubt, man möchte ihn deswegen auslachen.

 Der Bediente ist zu Jerusalem gekommen, um ihm die Stiefeln auszuziehen. Dieser hat aber gesagt, er gienge noch aus; wie er auch würckℓ gethan hat, vor das Silberthor auf die Starke Weide u. sonst auf die Gasse, wo er bey verschiedenen, den Huth tief in die Augen gedrückt, vorbeygerauschet ist, mit schnellen Schritten, ohne iemand anzusehen. Man hat ihn auch um diese Zeit eine ganze Weile an dem Fluß stehen sehen, in einer Stellung, als wenn er sich hineinstürzen wolle. │:so sagt man:│

 Vor 9 Uhr kommt er zu Haus, sagt dem Bedienten, es müsse im Offen noch etwas nachgelegt werden, weil er so bald nicht zu Bette ginge, auch solle er auf Morgen früh 6 Uhr alles zurecht machen. läßt sich auch noch einen Schoppen Wein geben. Der Bediente um recht früh bey der Hand zu seyn, da sein Herr immer sehr accurat gewesen, legt sich mit den Kleidern ins Bette.

 Da nun Jerusalem allein war, scheint er alles zu der schrecklichen Handlung vorbereitet zu haben. Er hat seine Briefschaften alle zerrissen u. unter den Schreibtisch geworfen, wie ich selbst gesehen. Er hat zwey Briefe, einen an seine Verwandte, den andern an Hert geschrieben;| 10 | man meynt auch einen an den Gesandten Höffler, den dieser vielleicht unterdrückt. Sie haben auf dem Schreibtisch gelegen. Erster, den der Medicus andern Morgens gesehen, hat überhaupt nur folgendes enthalte[n,] wie Dr Held, der ihn gelesen, mir erzählt:

  Lieber Vater, liebe Mutter, liebe  Schwestern u. Schwager, verzeihen  Sie Ihrem unglücklichen Sohn und  Bruder; Gott, Gott, segne euch. 

 In dem Zweyten hat er Herten um Verzeihung gebeten, daß er die Ruhe und das Glück seiner Ehe gestöhret, und unter diesem theuren Paar Uneinigkeit gestiftet p Anfangs sey seine Neigung gegen seine Frau nur Tugend gewesen p In der Ewigkeit aber hoffe er ihr einen Kuß geben zu dürfen. p. Er soll 3 Blätter groß gewesen seyn u. sich damit geschlossen haben: "Um 1 Uhr In ienem Leben sehen wir uns wieder." │:Vermuthℓ. hat er sich sogleich erschossen, da er diesen Brief geendigt:│

 Diesen ohngefähren Inhalt habe ich von iemand, dem der Gesandte Höf[f-]ler ihn in Vertrauen gesagt, w[el-]cher daraus auf einen würklich strafbaren Umgang mit der Frau schliessen will. Allein bey Herten war nicht viel erforderℓ., um seine Ruhe zu stöhren u. eine Uneinigkeit zu bewürken. Der Gesandte, deucht mich, sucht auch die Aufmerksamkeit ganz von sich, auf diese Liebesbegebenheit zu| 11 | lencken, da der Verdruß von ihm wohl zugleich Jerusalem determiniret hat; zumahl da der Gesandte verschiedentlich auf die Abberuffung des Jerusalem angetragen, und ihm noch kürzlich starke Reprochen vom Hofe verursacht haben soll. Hingegen hat der Erbprinz v. Braunschℓ., der ihm gewogen gewesen, vor kurzen geschrieben, u. daß er sich hier noch ein wenig gedulden mögte, u. [wenn er] Geld bedürfe, es ihm nur schreiben sollte, ohne sich an seinen Vater, den Herzog, zu wenden.

 Nach diesen Vorbereitungen, etwa gegen 1 Uhr, hat er sich denn über das rechte Auge hinein durch den Kopf geschossen man findet die Kugel nirgends. Niemand im Hause hat den Schuß gehört; sondern der Franciscaner Pater Guardian, der auch den Blick vom Pulver gesehen, weil es aber stille geworden, nicht darauf geachtet hat. Der Bediente hatte die vorige Nacht wenig geschlafen u. hat sein Zimmer weit hinten hinaus, wie auch die Leuthe im Haus, welche unten hinten hinaus schlafen.

 Es scheint sitzend im Lehnstuhl vor seinem Schreibtisch geschehen zu seyn. Der Stuhl hinten im Sitz war blutig, auch die Armlehnen. Darauf ist er vom Stuhl herunter gesunken, auf der Erde war noch viel Blut. Er muß sich auf der Erde in seinem Blute gewälzet haben; erst beym Stuhle war eine grosse Stelle von Blut; die Weste vorn ist auch blutig; er scheint auf dem Gesicht gelegen zu haben; dann ist er weiter um den Stuhl herum nach dem Fenster hin gekommen, wo wieder viel Blut gestanden, u. er auf dem Rücken entkräftet gelegen hat. │: er war in völliger Kleidung, gestiefelt; im blauen Rock mit gelber Weste:│

 Morgens vor 6 Uhr geht der Bediente zu seinem Herrn ins Zimmer ihn zu wecken, das Licht war ausgebrannt; es war dunkel, er sieht Jerusalem auf der Erde liegen, bemerckt etwas Nasses und meynt er mögte sich übergeben haben; wird aber| 12 | die Pistole auf der Erde und darauf Blut gewahr, ruft: Mein Gott, Hℓ. Assessor was haben Sie angefangen, schüttelt ihn, er giebt keine Antwort und röchelt nur noch. Er läufet zu Medicis u. Wundärtzten. Sie kommen, es war aber keine Rettung. Dr Held erzählte mir, als er zu ihm gekommen, habe er auf der Erde gelegen, der Puls noch geschlagen; doch ohne Hülfe; die Glieder alle wie gelähmt, weil das Gehirn lädirt auch herausgetreten gewesen; zum Ueberflusse habe er ihm eine Ader am Arm geöfnet, wobey er ihm den schlaffen Arm halten müssen, das Blut wäre doch noch gelaufen. Er habe nichts als Athem geholet, weil das Blut in der Lunge noch circuliret u. diese daher noch in Bewegung gewesen. Das Gerücht von dieser Begebenheit verbreitete sich schnell; die ganze Stadt war in Schrecken und Aufruhr. Ich hörte es erst um 9 Uhr, meine Pistolen fielen mir ein und ich weiß nicht, daß ich kurzens so sehr erschrocken bin. Ich zog mich an u. ging hin. Er war auf das Bette gelegt, die Stirne bedeckt, sein Gesicht schon wie eines Todten, er rührte kein Glied mehr, nur die Lunge war noch in Bewegung, und röchelte fürchterlich, bald schwach bald stärcker, man erwartete sein Ende.

 Von dem Wein hatte er nur ein Glaß getrunken. Hin und wieder lagen Bücher und von seinen eigenen schriftlichen Aufsätzen. Emilia Galotti lag auf einem Pult am Fenster aufgeschlagen; daneben ein Manuscript| 13 | ohngefähr 1 Finger dick in Quart, philosophischen Inhalts, der Erste Theil oder Brief war über überschrieben: von der Freyheit, es war darin von der moralischen Freyheit die Rede. Ich blätterte zwar darin, um zu sehen, ob der Inhalt auf seine letzte Handlung einen Bezug habe, fand es aber nicht, ich war aber so bewegt und consternirt, daß ich mich nichts daraus besinne, noch die Scene, welche von der Emilia Galotti aufgeschlagen war, weiß, ohnergeachtet ich mit Fleiß darnach sah.

 Gegen 12 Uhr starb er. Ab[ends] 3/4 11 Uhr ward er auf dem gew[öhn-]lichen Kirchhof begraben, ohne daß er Seciret ist, weil man von dem ReichsMarschall Amt Eingriffe in die Gesandtschaftℓ. Rechte fürchtete. in de[r] Stille mit 12. Lanternen u[nd] einigen Begleitern, BarbierGesellen haben ihn getragen; Das Kreutz ward voraus getragen; kein Geistlicher hat ihn begleitet.

 Es ist ganz ausserordentlich, was diese Begebenheit für einen Ein| 14 |druck auf aller Gemüther gemacht[.] Leuthe, die ihn kaum einmahl gesehen, können sich noch nicht beruhigen; viele können seit dem noch nicht wieder ruhig schlafen; besonders Frauenzimmer nehmen grossen Antheil an seinem Schicksal; er war gefällig gegen das Frauenzimmer und seine Gestalt mag gefallen haben. p.

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 Zur Geschichte von Jerusalems Tode.

 Man will geheime Nachrichten aus Munde des Secret. Hert haben, daß am Mittewochen vor Jersualems Tode, da dieser beym Hert u. seiner Frau zum Kaffee war, der Mann zum Gesandten gehen müssen; Nachdem der Mann wieder kömmt, bemerckt er an seiner Frau eine ausserordentliche Ernsthaftigkeit und bey Jerusalem eine Stille, welche beyde ihm sonderbar u. bedenklich geschienen, zumahl, da er sie nach seiner Zurückkunft so sehr verändert findet. – Jerusalem geht weg. │:hieher gehört, aus der Geschichte, daß er nach Garbenheim gekommen p:│ Secret. Hert macht über obiges seine Betrachtungen; er faßt Argwohn, ob etwa in seiner Abwesenheit etwas ihm nachtheiliges vorgegangen seyn möchte, denn er ist sehr argwöhnisch u. eyfersüchtig. Er stellt sich iedoch ruhig u. lustig; u. will seine Frau auf die Probe stellen. Er sagt: Jerusalem hätte ihn doch oft| 16 | zum Essen gehabt p was sie meynte, ob sie Jerusalem nicht auch einmah zum Essen bey sich haben wollten? – Sie, die Frau,antwortet: Nein; und sie müßten den Umgang mit Jerusalem ganz abbrechen; er finge an sich so zu betragen, daß sie seinen Umgang ganz vermeiden müßte. Und sie hielte sich verbunden ihm, dem Mann, zu erzählen, was in seiner Abwesenheit vorgegangen sey. Jerusalem habe sich vor ihr auf die Knie geworfen und ihr eine förmliche LiebesErklärung thun wollen. Sie sey natürlicher Weise darüber aufgebracht worden u. hätte ihm viele Vorwürfe gemacht p.p. Sie verlange nun, daß ihr Mann, ihm, dem Jerusalem, das Haus verbieten solle, denn sie könne und wolle nichts weiter von ihm hören noch sehen.

 Hierauf habe Hert andern Morgens das Billet an Jerusalem geschrieben p.p.

 

 
 

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RA 1, Nr. 7, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0007_00008.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 7.

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