Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 16a+
Von Helene Elisabeth Jacobi

9. Dezember 1773, Düsseldorf

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Heute Morgen gereichts mir zur Kurzweil an Hn:
Doctor zu schreiben, liebe Tante. – Mir auch
Betti; und da gieng ein jedes zweckmäßig seiner
Wege. Nun, mein lieber Hr. Doctor, muß ich Ihnen
noch versichern, daß mich weder gestern noch vorge-
stern die Lust darzu anwandelte, und Sie werden
mich loben, daß ich so den Trieben der Natur über
alles gehorche. In der That gehen wir in diesem
Stücke oft Hand in Hand miteinander; ich schreibe
nicht an meine Freunde, wenns nicht von Herzen
geht: und ich bekomme die Kribel Krankheit in die
Finger, wenn ich mit Nachdenken schreiben will. –
Aber dennoch, Herr Doctor, war ich jüngst mit Ihrer
6 zeilen Antwort auf meinen langen Brief nicht
zufrieden; warum? weil die 6 zeilen keine Ant-
wort geben und keine Antwort foderten. Im gan-
zen Dinge, von Ihnen Wisch genannt, war keine Zeile
Text, wo ich hätte eine Note anbringen können.
Nun aber haben Sie alles wieder gut gemacht, u.
vornehmlich dadurch, welches sorgfältig zu Herzen | 2 |
zu nehmen bitte, daß Sie nicht der Vater des garsti-
gen Väterchens sind. Warum, mein lieber Hr. Dr;
da ich bey Lesung der ersten Zeilen puncto des Vä-
terchens mit Jauchzen darüber auffuhr, daß Sie nicht
Verfaßer davon wären, warum verdarben Sie mir
gleich darauf die Freude, indem Sie mir eben diesen
Mann, worüber ich mich so herzlich freute, daß er
mir gar nichts angieng, als Ihren Seelenfreund bey
mir einführen wollen? Nimmermehr, Herr Doctor,
Ihr Herz kann diesen Mann nie Freund heissen, und
bloß Ihre Laune macht Ihrem Herzen etwas von die-
ser Seelenverbindung weis. – Ein Mensch, der sich
in Bildung solcher Gegenstände gefällt, den sein
Geist antreibt, ins häßliche zu idealisieren, was
machen ich und die mich lieb haben damit zum
Freunde? Sie erlauben mirs ja, He. Doctor,
daß ich so frey heraus sage, wie mirs ans Herz
kommt. Mamachen ist keine Philosophin, sieht nicht
viel weiter als ihre Nase, glaubt unser Hr. Gott
habe den bon sens universel, weiß aber, daß sie
ihn nicht hat, sondern nur einen petit bon
sens particulier, mit dem sie in ihrem angewie- | 3 |
senen Stückelchen Welt herumschlendert und thut und
treibet. Nun kann aber Mamachen nicht anders als
nach ihrem geringen Alltagsverstand zu Werke gehen,
weil sie sonst sich ganz ohne Verstand behelfen müste,
und da hat sie denn das Väterchen verbrannt, theils
damits ihr selbst; und theils damits ihren naseweisen
Knaben aus der Wege käme. Soviel vom Väterchen
und Mütterchen, und auf immer sey das Seelenbrüder-
chen verbannt und vergessen, wenns Freund Goethe beliebt.


   Pater Brey ruht sicher und wohlverwahrt in meinem
Secretair, und soll mir noch eins zu lachen machen, wenn
meine   Augen ihre jetzigen Dünste von sich –
Hr. Doctor, ich bleibe stecken, es war eine unsinnige
Phrase, woran ein armer Sünder, den man so eben,
unserm Hause vorbey, zum Gericht führte, schuld war.
Die Trommel erschütterte meine Seele, ob ich den Mensch
gleich nicht sahe.


   Um Fastnacht also ein neues Stückchen Arbeit von Ihnen
ganz nach unserm Herzen und Geschmacke. – Es soll uns
sehr viel Freude machen, Hr. Doctor, das versichere ich
Ihnen; allein mischen Sie doch auch den pot pourri,
wenn Sie Mamachen noch mehr Freude machen wollen. Das
Stückchen Arbeit kann so gar hübsch für uns unersättliche
begierliche Frauenzimmer werden, und wird es werden | 4 |
wenn Sie es unternehmen wollen.


   Jungs christglaubige Seele hat ein Medicinal Rath all-
hier, wegen Theorie und Praxis, einige mahl lassen her-
wandern. Man hat ihn sehr chicanirt, nun kan er aber
vermuthlich ruhig bey sein Cristelchen bleiben.


Daß Sie meinen Franz nicht außer Acht laßen, thut
meinem mütterlichen Herzen recht gut. Er ist brav, fromm,
und hat viel Feuer in seinen großen braunen Augen, auch
ein angenehmes Organ. Einmahl war er sehr sehr krank.


Fritz u. George laßen vielmahl für die Violine danken. Vom
heiligen Geist wissen die kleinen Heiden nicht viel, aber mehr
vom Götz von Berlichingen, Hamlet u. d. gl. Die drey
Knaben haben benebst dem armen Sünder meinen Kopf
so verwirrt gemacht, daß ich die übrigen Sachen die Tante
muß beantworten lassen; nächstens die Wette, und Ihre
Lotte in Hannover, welche jemand gesehen hat. Adieu,
Hr. Doctor, grüßen Sie die guten Kinder Guerock, wel-
che nach meinem Begriff nicht wohl glücklich in dieser
Welt seyn können. Sie, sie können u. müßen es
seyn. Mamachen wünscht es.


S: Privatbesitz (Abschrift von J. H. Schenk)  D: JacobiII 1, 199-201  B: 1773 November 7 bis 16 (WA IV 2, Nr. 183); 1773 November Ende (WA IV 2, Nr. 187)  A: 1773 Dezember 31 (WA IV 2, Nr. 197) 

Von ihrer Lust, an G. oder andere Freunde zu schreiben; zu G.s kurzen Antworten. Freude darüber, daß G. nicht der Verfasser der "Lustspiele nach dem Plautus fürs deutsche Theater" (von J. M. R. Lenz) sei, aber Ärger, daß G. jenen (Lenz) als seinen Seelenfreund bei ihr einführen wolle. Reflexionen darüber. Geständnis, daß sie Lenz' Werk verbrannt habe. - G.s "Pater Brey" sei wohlverwahrt. Hoffnung auf ein neues Fastnachtsstück von G. ("Erwin und Elmire") sowie Bitte, den pot pourri (? geplantes poetisches Hochzeitsgeschenk für G.s Schwester) zu mischen. - Über J. H. Jungs medizinische Theorie und Praxis; erwähnt: dessen Frau (C. Jung). - Über ihre Kinder Franz, Fritz und Georg. Letztere ließen für die Violine danken; dabei erwähnt: G.s "Götz" und Shakespeares "Hamlet". - Ferner erwähnt: J. K. S. Fahlmer, A. L., C. und K. Gerock sowie C. Kestner.

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 Heute Morgen gereichts mir zur Kurzweil an Hn: Doctor zu schreiben, liebe Tante. – Mir auch Betti; und da gieng ein jedes zweckmäßig seiner Wege. Nun, mein lieber Hr. Doctor, muß ich Ihnen noch versichern, daß mich weder gestern noch vorgestern die Lust darzu anwandelte, und Sie werden mich loben, daß ich so den Trieben der Natur über alles gehorche. In der That gehen wir in diesem Stücke oft Hand in Hand miteinander; ich schreibe nicht an meine Freunde, wenns nicht von Herzen geht: und ich bekomme die Kribel Krankheit in die Finger, wenn ich mit Nachdenken schreiben will. – Aber dennoch, Herr Doctor, war ich jüngst mit Ihrer 6 zeilen Antwort auf meinen langen Brief nicht zufrieden; warum? weil die 6 zeilen keine Antwort geben und keine Antwort foderten. Im ganzen Dinge, von Ihnen Wisch genannt, war keine Zeile Text, wo ich hätte eine Note anbringen können. Nun aber haben Sie alles wieder gut gemacht, u. vornehmlich dadurch, welches sorgfältig zu Herzen| 2 | zu nehmen bitte, daß Sie nicht der Vater des garstigen Väterchens sind. Warum, mein lieber Hr. Dr; da ich bey Lesung der ersten Zeilen puncto des Väterchens mit Jauchzen darüber auffuhr, daß Sie nicht Verfaßer davon wären, warum verdarben Sie mir gleich darauf die Freude, indem Sie mir eben diesen Mann, worüber ich mich so herzlich freute, daß er mir gar nichts angieng, als Ihren Seelenfreund bey mir einführen wollen? Nimmermehr, Herr Doctor, Ihr Herz kann diesen Mann nie Freund heissen, und bloß Ihre Laune macht Ihrem Herzen etwas von dieser Seelenverbindung weis. – Ein Mensch, der sich in Bildung solcher Gegenstände gefällt, den sein Geist antreibt, ins häßliche zu idealisieren, was machen ich und die mich lieb haben damit zum Freunde? Sie erlauben mirs ja, He. Doctor, daß ich so frey heraus sage, wie mirs ans Herz kommt. Mamachen ist keine Philosophin, sieht nicht viel weiter als ihre Nase, glaubt unser Hr. Gott habe den bon sens universel, weiß aber, daß sie ihn nicht hat, sondern nur einen petit bon sens particulier, mit dem sie in ihrem angewie| 3 |senen Stückelchen Welt herumschlendert und thut und treibet. Nun kann aber Mamachen nicht anders als nach ihrem geringen Alltagsverstand zu Werke gehen, weil sie sonst sich ganz ohne Verstand behelfen müste, und da hat sie denn das Väterchen verbrannt, theils damits ihr selbst; und theils damits ihren naseweisen Knaben aus der Wege käme. Soviel vom Väterchen und Mütterchen, und auf immer sey das Seelenbrüderchen verbannt und vergessen, wenns Freund Goethe beliebt.

  Pater Brey ruht sicher und wohlverwahrt in meinem Secretair, und soll mir noch eins zu lachen machen, wenn meine Augen ihre jetzigen Dünste von sich – Hr. Doctor, ich bleibe stecken, es war eine unsinnige Phrase, woran ein armer Sünder, den man so eben, unserm Hause vorbey, zum Gericht führte, schuld war. Die Trommel erschütterte meine Seele, ob ich den Mensch gleich nicht sahe.

  Um Fastnacht also ein neues Stückchen Arbeit von Ihnen ganz nach unserm Herzen und Geschmacke. – Es soll uns sehr viel Freude machen, Hr. Doctor, das versichere ich Ihnen; allein mischen Sie doch auch den pot pourri, wenn Sie Mamachen noch mehr Freude machen wollen. Das Stückchen Arbeit kann so gar hübsch für uns unersättliche begierliche Frauenzimmer werden, und wird es werden| 4 | wenn Sie es unternehmen wollen.

  Jungs christglaubige Seele hat ein Medicinal Rath allhier, wegen Theorie und Praxis, einige mahl lassen herwandern. Man hat ihn sehr chicanirt, nun kan er aber vermuthlich ruhig bey sein Cristelchen bleiben.

 Daß Sie meinen Franz nicht außer Acht laßen, thut meinem mütterlichen Herzen recht gut. Er ist brav, fromm, und hat viel Feuer in seinen großen braunen Augen, auch ein angenehmes Organ. Einmahl war er sehr sehr krank.

 Fritz u. George laßen vielmahl für die Violine danken. Vom heiligen Geist wissen die kleinen Heiden nicht viel, aber mehr vom Götz von Berlichingen, Hamlet u. d. gl. Die drey Knaben haben benebst dem armen Sünder meinen Kopf so verwirrt gemacht, daß ich die übrigen Sachen die Tante muß beantworten lassen; nächstens die Wette, und Ihre Lotte in Hannover, welche jemand gesehen hat. Adieu, Hr. Doctor, grüßen Sie die guten Kinder Guerock, welche nach meinem Begriff nicht wohl glücklich in dieser Welt seyn können. Sie, sie können u. müßen es seyn. Mamachen wünscht es.

 

 
 

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RA 1, Nr. 16a+, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0016_00018.

Druck des Regests in: Ergbd. 1-5, 537.

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