Goethes Briefe: GB 2, Nr. 92
An Elisabeth Jacobi

〈Frankfurt a. M. , 1. Februar 1774. Dienstag〉 → 〈Düsseldorf〉


Mir ist's recht wohl liebe Frau, und danck Ihnen für Ihren doppelt und dreyfachen Brief. Diese dritthalb Wochen her ist geschwärmt worden, und nun sind wir zufrieden und glücklich, als mans seyn kann. ​Wir sag ich, denn seit dem funfzehnten Jenner ist keine Branche meiner Existenz einsam. Und das Schicksaal mit dem ich mich herumgebissen habe so offt, wird ietzt höflich betittelt, das schöne, weise Schicksal, denn gewiss das ist die erste Gabe, seit es mir meine Schwester nahm, die das Ansehn eines Aequivalents hat. Die Max ist noch immer der Engel der mit den simpelsten und werthesten Eigenschafften alle Herzen / an sich zieht, und das Gefühl das ich für Sie habe worinn ihr Mann nie Ursache zur Eifersucht finden wird, macht nun das Glück meines Lebens. Brentano ist ein würdiger Mann, eines offnen starcken Charackters, viel Schärfe des Verstands, und der tähtigste zu seinem Geschäfft. Seine Kinder sind munter einfach und gut. Thun sie noch den lieben Dümeix dazu und eine Freundinn, so haben Sie unser ganzes Klümpgen. Unsre Mama la Roche hat uns am lezten Jenner verlassen, und meine gelassne Freundschafft hat sich wieder belohnt gesehen. Ich fühle dass ich ihr weit mehr binn, sie mir weit mehr ist, als vor zwey Jahren, ia / als vorm halben Jahr. So wahr ist's dass wahre Verbindungen Zeit brauchen, wie Bäume um Wurzeln zu treiben, Kronen zu bilden und Früchte zu kriegen.

Wenn Sie wüssten liebe Frau mit welchem Herzen und welchen Worten, wir offt Ihrer erwähnt haben, Sie würden sich zu uns gesehnt haben, und sollten an unserm Tische nicht deplacirt gewesen seyn. Dancke für den Anteil an Andres Schicksaal. Er ist giftig, lässt mir aber nichts mercken, scheints traut er mir nicht, und glaubt ich hätte Ihnen gar nichts geschickt. Genug wir haben das unsrige gethan – Am meisten schierts ihn dass / man ​1 seine Producktion unter die Nachahmungen gesetzt hat. Tirelireli! Was ist's um einen Autor!

Eine mächtige Kälte zieht durchs Fenster bis hierher an mein Herz, zu tausendfacher Ergözung. Ein groser Wiesenplan draussen ist überschwemmt und gefroren. Gestern trugs noch nicht, heut wird gewagt. Vor 10 Tagen ohngefähr waren unsre Damen hinausgefahren unsren Pantomimischen Tanz mit anzusehen. Da haben wir uns prästirt. Gleich drauf thaut es, und ietzt wieder Frost. Halleluja! Amen!


Lotten und der Tante meinen Danck und meine Grüse.

  1. d man​ ↑

Der Brief wurde offensichtlich dritthalb Wochen (71,7) (zweieinhalb Wochen) nach dem funfzehnten Jenner 1774 (71,9) geschrieben, also am 1. oder 2. Februar. Für den 1. Februar spricht, dass der Brief nach Goethes Angabe zehn Tage nach dem Pantomimischen Tanz (72,11) verfasst wurde, welcher am 22. Januar stattgefunden hatte; vgl. Datierung zu Nr 90.

H: GSA Weimar, Sign.: 51/II,1,1, Bl. 4–5. – Doppelblatt 11,4(–11,7) × 18,8 cm, 4 S. beschr., egh., Tinte; S. 4 oben rechts Antwortvermerk, Tinte: „beantw. dℓ 8tℓ Mertz 1774“.

E: Goethe-Jacobi (1846), 17–19, Nr 8.

WA IV 2 (1887), 143 f., Nr 205 (Textkorrektur in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 208).

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Elisabeth Jacobis vom 11. Januar 1774 (vgl. den Anfang des Briefes sowie Überlieferung zu Nr 83). – Der Antwortbrief vom 8. März 1774 (vgl. Überlieferung) ist nicht überliefert.

dritthalb] Von der dritten Einheit die Hälfte, also „zwey und ein halb“ (Adelung 1, 1555).

geschwärmt] ,Schwärmen‘ bedeutet nach Adelung (3, 1716): „Rauschenden Vergnügungen und Ausschweifungen zur Ungebühr nachhängen.“

funfzehnten Jenner] Der Tag, an welchem die seit dem 9. Januar vermählte Maximiliane Brentano geb. La Roche, die Tochter Sophie La Roches, mit ihrem Mann Peter Anton Brentano und ihrer Mutter nach Frankfurt gekommen war, wo Brentano sein Handelshaus führte. – Einen Eindruck der folgenden Tage vermittelt Johann Heinrich Mercks Brief an seine Frau Louise Françoise vom 29. Januar: Merck bewunderte die Standhaftigkeit der Frau La Roche, mit der sie Gespräche und Scherze der groben Kaufleute aus Brentanos Umkreis und die kostbaren Diners ertragen habe. Von Goethe berichtet er: „Goethe est deja l'ami de la maison, il joue avec les enfans, et accompagne le Clavecin de Mdme avec sa Basse. Mr Brentano quoique asses jaloux pour un Italien, l'aime, et veut absolument qu'il frequente la maison.“ (Merck, Briefwechsel 1,444. – „Goethe ist bereits der Freund des Hauses, er spielt mit den Kindern und begleitet mit seinem Bass 〈Bassgeige: Cello〉 das Cembalo von Madame 〈Maximiliane Brentano〉. Herr Brentano, obgleich ziemlich eifersüchtig für einen Italiener, mag ihn sehr und möchte unbedingt, daß er im Haus verkehrt.“ [Ebd. 446.]) Das Cellospiel hatte Goethe in Straßburg gelernt (vgl. GB 1 I, 229,20–23)].

Branche] Franz.: Zweig, Ast.

die erste Gabe] Gemeint ist der Umstand, dass Maximiliane nach ihrer Hochzeit nach Frankfurt zog.

mir meine Schwester nahm] Cornelia Goethe hatte am 1. November 1773 Johann Georg Schlosser geheiratet und war mit ihm nach Karlsruhe gezogen.

Die Max] Maximiliane Brentano.

Brentano ist ein würdiger Mann] Vgl. dagegen die später weniger freundliche Beschreibung Brentanos im Brief an Sophie La Roche vom 19. November 1774 (Nr 159), ferner zu den Spannungen zwischen Goethe und Brentano die Briefe an Sophie La Roche vom 16. Juni 1774 und von Anfang Juli 1774 (Nr 119 und 122).

Seine Kinder] Brentano hatte aus erster Ehe mit Paula Walpurga Brentano-Gnosso fünf noch lebende Kinder: Anton, Franz, Peter, Dominicus und Paula. Sie waren zehn, acht, fünf, vier und drei Jahre alt. – Aus seiner zweiten Ehe mit Maximiliane gingen zwölf Kinder hervor (vgl. die Stammtafel der Familie in: Goethes Briefwechsel mit Antonie Brentano 1814–1821. Hrsg. von Rudolf Jung. Weimar 1896, Klapptafel nach S. 66; ferner: Stammreihen der Brentano mit Abriß der Familiengeschichte bearbeitet von Peter Anton von Brentano di Tremezzo. Bad Reichenhall 1933, S. 14–18).

Dümeix] Damian Friedrich Dumeiz, Dechant an St. Leonhard in Frankfurt, den Goethe über Johann Heinrich Merck oder Sophie La Roche kennen gelernt hatte. Im 13. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ berichtet Goethe über Dumeiz: Er war der erste catholische Geistliche, mit dem ich in nähere Berührung trat, und der, weil er ein sehr hellsehender Mann war, mir über den Glauben, die Gebräuche, die äußern und innern Verhältnisse der ältesten Kirche schöne und hinreichende Aufschlüsse gab. (AA DuW 1, 483.) Vgl. Adolf Bachs kritische Würdigung von Dumeiz (Bach, Goethes „Dechant Dumeiz“).

eine Freundinn] Vermutlich ist Maria Johanna Josepha Servière geb. Togny-Delsance gemeint, die Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ unmittelbar nach dem Bericht über Dumeiz erwähnt (vgl. ebd.). Die Frau des Frankfurter Weinhändlers, Likör- und Parfümeriefabrikanten Peter Joseph Servière war mit Dumeiz befreundet.

vor zwey Jahren] Goethe hatte Sophie La Roche im April 1772 in Frankfurt kennen gelernt und war zunächst nicht von ihr eingenommen; vgl. GB 1 II, einleitende Erläuterung zu Nr 117.

Andres Schicksaal] Gemeint ist der fehlgeschlagene Versuch, der Oper „Der Töpfer“ von Johann André durch eine wohlwollende Rezension im „Teutschen Merkur“ eine positive öffentliche Aufnahme zu verschaffen; vgl. im Einzelnen zu 51,8–10.

groser Wiesenplan] Die Rödelheimer Wiesen an der Nidda.

Pantomimischen Tanz] Vgl. zu 70,17.

uns prästirt] Sich prästieren (von lat. praestare): sich bewähren, sich auszeichnen.

Amen!] Aus dem Hebr.: So soll es sein; Schlussformel des christlichen Gebets; wiederholt in den frühen Briefen Goethes zur Bekräftigung am Briefschluss gebraucht. Vgl. auch Nr 19, 96, 146, 207, 216, 256, 259, 260, 263.

Lotten und der Tante] Charlotte Jacobi und Johanna Fahlmer.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 92 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR092_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 71–72, Nr 92 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 193–195, Nr 92 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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