Goethes Briefe: GB 2, Nr. 84
An Johann Caspar Lavater

〈Frankfurt a. M. , 31. Dezember 1773. Freitag〉 → 〈Zürich〉

〈Abschrift〉

〈…〉 gehe behutsam mit deinen Briefen um 〈…〉

〈…〉 Wenn du einen Meßias brauchst, so halte dich an dem, der dir von immer quellendem Waßer versprochen hat. 〈…〉

In Lavaters Brief vom 4. Januar 1774 (abgedruckt im Anschluss an die folgenden Erläuterungen) heißt es: „Du erscheinst – ein Wort, 〈…〉 u: du – verschwindst für 14. Tage; Am Christtage eine unvernehmliche Stimme u: verschwunden; am lezten 1773. einen ​Blick, 〈…〉 und verschwunden!“ Damit sind drei Briefe Goethes gemeint: ein nicht überlieferter Brief etwa vom 11. Dezember 1773 (14 Tage vor Weihnachten [EB 17]), ein ebenfalls nicht überlieferter Brief vom 25. Dezember (EB 18), den Lavater auch in seinem Brief vom 28. Dezember erwähnt („Deinen ChristtagsBrief hab' ich vor mir 〈…〉“ [Goethe-Lavater​3, 10]), und schließlich ein Brief vom 31. Dezember. Dabei handelt es sich um den vorliegenden Brief, denn die Formulierung „am lezten 1773.“ in Lavaters Brief vom 4. Januar bezieht sich wie die Angabe „Am Christtage“ auf das Datum der Niederschrift des Briefes, nicht auf das Datum des Empfangs.

H: Verbleib unbekannt.

h: Zentralbibliothek Zürich. – Zitat in einer von Lavater veranlassten Abschrift seines Briefes an Goethe vom 4. Januar 1774 (vgl. Goethe-Lavater​2, 3, Beilage 131, Nr 9), dessen Original Goethe vermutlich verbrannt hat; vgl. dessen Tagebücher unter dem 2. und 9. Juli 1797 (GT II 1, 119 und 120) sowie die „Tag- und Jahres-Hefte“ für 1797 (WA I 35, 73).

E: Goethe-Lavater​2 (1898), 3, Beilage 131, Nr 9 (nach h).

D: Goethe-Lavater​3 (1901), 11 und 13, Nr 9 (nach h).

WA IV 50 [1912], 209 (in den „Berichtigungen“ zu Nr 216, nach D).

Textgrundlage: h.

Der Brief beantwortet Lavaters Brief vom 28. Dezember 1773 (vgl. RA 1, 53, Nr 17; Goethe-Lavater​3, 10 f., Nr 8). – Lavater antwortete am 4. Januar 1774 (vgl. RA 1, 53, Nr 18; Goethe-Lavater​3, 11–13, Nr 9; Brief abgedruckt im Anschluss an die folgende Erläuterung).

der dir von immer quellendem Waßer versprochen hat] Gemeint ist Jesus Christus (vgl. Johannes 4,14). – Goethe wehrte sich gegen seine Stilisierung zum ‚Messias‘ durch Lavater in dessen Brief vom 28. Dezember: „O Goethe, unser Gedanke! Du Räthsel – u. Offenbarung! 〈…〉 Nächstens, send' ich dir viele Fragen, mein Lehrer u. Bruder 〈…〉.“ (Goethe-Lavater​3, 10.) Noch in Lavaters Antwortbrief vom 4. Januar heißt es am Schluss: „Willst du mein ​Lehrer bleiben?“


Lavaters Antwortbrief vom 4. Januar 1774 (nach h):


​Goethe! Du fängst an zusinken – – aus Güte, denk' ich, aus Weisheit – du glaubst nicht an meinen Glauben an dich, doch liebst du mich. – Du weißest noch nicht, was ich tragen kann – doch der Starke rühme sich nicht seiner Stärke – – Goethe – must du ​mir ​sagen „gehe behutsam mit deinen Briefen um“ – Goethe! warum sinkst ​du unter ​mich – o du!! Lieber! … Zehn Minuten halte ich die Feder schon – B heißt mich fortschreiben; ich weiß nicht, wie mir geschehen ist durch deinen Brief; Welch ein Eindruk das ist in meinem Gemüthe, so was wehmüthiges herrscht darinn, daß ich nicht weiß, was thun – ich löffe am liebsten zu dir, u: kann's nicht ausstehen, daß es unmöglich ist. Denkst du auch, was das für eine Ewigkeit ist, von izt bis wieder Antwort da ist? Wie grausam weh thust du uns! … Du erscheinst – ein Wort, ein Blick dazu, daß tausend Fragen erzeügt werden, u: du – verschwindst für 14. Tage; Am Christtage eine unvernehmliche Stimme u: verschwunden; am lezten 1773. einen ​Blick, der mir durch Mark u: Gebein dringt, und verschwunden! Bruder, Bruder! Plag' unsere Seelen nicht so …. Ach, u: warum zurükziehen? Das schmerzt auch so!

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„Wenn du einen Meßias brauchst, so halte dich an dem, der dir von immer quellendem Waßer versprochen hat.“

Also wär' doch die Sache unaussprechlich einfältig diese: Wenn man von diesem Waßer hätte, bekäme die Fülle auch für andere … so könnte sich doch alsdann kein MenschenVerstand zwingen, zulaügnen, daß der Brunn

Ach! Ja! Ja! Bruder – du hast für dich, nur für dich – genug – aber (doch ich habe schon oft zuviel versprochen) aber – ich habe sehr oft noch für andere, die ich freylich weniger erquiken kann. – O Goethe, was ich bin, muß ich dir seyn – was ich seyn werde, werd' ich dir seyn – Nimm's dann, oder gieb's, wem du willst; ich muß geben, was ich habe.

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Schöne, edle, himmlische Seele – die Dehmuthsängerinn – Ach – ach – ach – wo bin ich – doch Jesus Christus ist – o wie bin ich ihm oft so nahe – u: ich darf, darf's nicht sagen, was ich ihm – ​zuwinken darf. – O du – lache meiner ​Einfalt nicht – du EinfaltFreünd – trage den Schwachen, der auch trägt.


Aber – du Nichtantworter – antworte mir doch nächstens –

1.o)  Was urtheilst du von den gesandten Bildern oder Schatten?

2.o)  Was liesest du am liebsten?

3.o)  Dein genauer, scharfer Schattenriß, u: Herders u: Herderinn.

4.o)  Willst du mein ​Lehrer bleiben? Ich umarme dich.          L.

dℓ 4. Jenner. 1774.


3 der Starke rühme sich nicht seiner Stärke] Vgl. Jeremia 9,22. 6 B] Barbara (Bäbe) Schultheß geb. Wolf, mit Lavater befreundete Ehefrau des Zürcher Kaufmanns und Hauptmanns David Schultheß (weiter vgl. die erste Erläuterung zu 112,12). 8 löffe] Konjunktiv zur Präteritumform ‚loff‘ (von ‚laufen‘), die bis ins 19. Jahrhundert gebräuchlich war (vgl. Grimm 6, 315). 11–14 Du erscheinst 〈…〉 verschwunden!] Vgl. Datierung. 32 du Nichtantworter] In seinem Brief vom 28. Dezember 1773 hatte Lavater geschrieben: „Nächstens, send' ich dir viele Fragen, mein Lehrer u. Bruder – auf jede setzest du zwo Zeilen Antwort bey – Unterdeßen ein paar zum Voraus. Was hast du schon alles druken laßen? Welcher Schriftsteller – u. welcher Mensch ist dir unter den wirklichen – der liebste?“ (Goethe-Lavater​3, 10 f.) Am 7. Januar bedankt sich Lavater für die Beantwortung einiger seiner Fragen (vgl. Goethe-Lavater​3, 13). Goethes Brief ist nicht überliefert (vgl. EB 20). 33 den gesandten Bildern oder Schatten] Welche Bilder und Schattenrisse Lavater im Einzelnen übersandte, wurde nicht ermittelt. 35 Dein genauer, scharfer Schattenriß] Für ein (Miniatur-)Ölgemälde Goethes (vgl. Schulte-Strathaus, 7 f. [Erläuterungen], Tafel 8 [Abb.]) hatte Lavater sich bereits in seinem Brief vom 6. November 1773 bedankt (vgl. Goethe-Lavater​3, 5); es stammt von Johann Daniel Bager und erschien in einem Kupferstich von Johann Gottfried Saiter in den „Physiognomischen Fragmenten“ (Bd 3. Leipzig und Winterthur 1777, S. 220 f.; abgebildet auch in: Goethe-Lavater​3, Tafel II, Abb. 5). 35 Herders u: Herderinn] Um Schattenrisse von Herder und seiner Frau Caroline bat Lavater erneut in seinem nächsten Brief vom 7. Januar (vgl. Goethe-Lavater​3, 14). Caroline Herders Silhouette hatte Lavater am 29. Dezember erhalten (vgl. Lavater an Herder, 30. Dezember 1773; Aus Herders Nachlaß 2, 76). Herder wollte die seinige nicht senden, weil sie unkenntlich sei (vgl. Caroline Herder an Lavater, 26. Oktober 1773, und Herder an Lavater, 20. Februar 1775; Aus Herders Nachlaß 2, 65 und 129). 36 mein ​Lehrer bleiben] Vgl. die Erläuterung zu Goethes vorliegendem Brief.


 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 84 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR084_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 66, Nr 84 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 175–178, Nr 84 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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