Goethes Briefe: GB 2, Nr. 75
An Johanna Fahlmer

〈Frankfurt a. M. , Anfang Dezember 1773〉 → 〈Düsseldorf〉


Habe ein Geiglein gefunden, will es zurechte machen lassen, und mit einem Bogen, auf ​1 der fahrenden Post wohl einballirt über senden.

der Hℓ. Friz odℓ. Hℓ. Gorge. Werdens von mir als einen geringen heiligen Crist annehmen. Wünsche nur dem herren der vor der Hand sein Glück drauf ​2 probiren will, so viel zu lernen, als das liebe Geschöpf das es vor ihm ​3 unterm Kinn hatte. Und dann mög er ein Virtuos werden oder wenigstens fühlen lernen einen Virtuosen. /

Anbey sende das Liedlein unter den Bekanndten Bedingnissen. Und grüse die liebe Frau, und Lollo4, die Ihren Eifer über mich wohl in einem Brieflein ausschütten könnte, von Herzen.


Auf dem Land und in der Stadt Hat man eitel Plagen, Muss ums bissgen das man hat, Sich mi'm Nachbaar schlagen. Rings auf Gottes Erde weit, Ist nur Hunger, Kummer, Neid. Mögt eins 'nausser lauffen. Erdennoth ist keine Noth, Als dem Feig' und Matten. Arbeit schafft dir täglich Brod, Dach, und Fach und Schatten. Rings wo Gottes Sonne scheint Findst ein Mädgen findst ein' Freund Lass uns immer bleiben!
  1. a×​uf​ ↑
  2. draus​f​ ↑
  3. i×​hm​ ↑
  4. Lolo​lo​ ↑

Am 29. November 1773 (Nr 72) hatte Goethe angekündigt, er werde sich nach einer kleinen Violine umsehen (vgl. 55,23). Am 9. Dezember bedankt sich Elisabeth Jacobi in ihrem Brief an Goethe (abgedruckt im Anschluss an die Erläuterungen zu Nr 73) „für die Violine“; dies bezieht sich auf Goethes Mitteilung im vorliegenden Brief an die in Düsseldorf weilende Johanna Fahlmer, er habe eine Geige gefunden und wolle sie als Geschenk übersenden. Ebenso bezieht sich Elisabeth Jacobis Bemerkung „Vom heiligen Geist wissen die kleinen Heiden 〈die Söhne Fritz und Georg〉 nicht viel“ auf den vorliegenden Brief, in dem Goethe die Geige als einen geringen heiligen Crist (58,1–2), d. h. als Weihnachtsgeschenk, ankündigt. (In Elisabeth Jacobis Brief, der nur in Abschrift überliefert ist, könnte statt „Geist“ auch ‚Crist‘ gestanden haben; denn Goethe nimmt in seiner Antwort von Mitte Dezember [Nr 81] auf Elisabeth Jacobis Bemerkung Bezug und spricht wiederum von ‚Crist‘: Ob sie an ​Crist glauben, oder ​Göz [61,22].) Da der Postweg zwischen Düsseldorf und Frankfurt etwa drei Tage in Anspruch nahm (vgl. Datierung zu Nr 68), kann für den vorliegenden Brief der 6. Dezember als Terminus ante quem gelten. Terminus post quem ist der 29. November. Vermutlich wurde der Brief in den ersten Tagen des Dezember 1773 geschrieben.

H: Privatbesitz, Deutschland. – Doppelblatt 11,3(–11,5) × 19 cm, 2 S. beschr., egh., Tinte; S. 2 einige Verszeilen über den Seitenrand hinaus geschrieben; S. 1 oben links von Johanna Fahlmers Hd, Tinte: „N ​r​o 7“ (vgl. die erste Erläuterung zu 46,5).

E: Goethe-Fahlmer (1875), 45 f., Nr 8.

WA IV 2 (1887), 130 f., Nr 189 (nach E; Textkorrektur nach H in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 208).

Ein Bezugsbrief ist nicht bekannt. – Der Antwortbrief (vgl. Anfang und Ende von Elisabeth Jacobis Brief an Goethe vom 9. Dezember 1773, abgedruckt im Anschluss an die Erläuterungen zu Nr 73) ist nicht überliefert.

fahrenden Post] Postkutsche im Unterschied zur ‚reitenden Post‘; ein Postreiter beförderte gewöhnlich keine größeren Gegenstände.

einballirt] Franz. emballer: einpacken.

der Hℓ. Friz odℓ. Hℓ. Gorge.] Johann Friedrich und Johann Georg Arnold, die acht bzw. fünf Jahre alten Söhne von Friedrich Heinrich und Elisabeth Jacobi.

als einen geringen heiligen Crist] Als kleines Weihnachtsgeschenk.

das liebe Geschöpf] Urlichs denkt an die mit Goethe und seiner Schwester befreundete Antoinette Gerock sowie an Maximiliane La Roche, die Tochter von Sophie La Roche, die Goethe im Brief an Elisabeth Jacobi vom 1. Februar 1774 einen Engel (71,14) nennt (vgl. Goethe-Fahlmer, 45).

unter den Bekanndten Bedingnissen] Gemeint ist: unter der Bedingung, das Lied weder abzuschreiben noch aus der Hand zu geben; vgl. 46,29–47,2.

die liebe Frau, und Lollo] Elisabeth (Betty) und Charlotte (Lotte) Jacobi.

Ihren Eifer] Urlichs vermutet, ohne einen Beleg dafür zu nennen: „Wohl wegen der spöttischen Reden über den Pot.“ (Goethe-Fahlmer, 46.) Vgl. darüber zu 55,15–20.

Brieflein] Ein entsprechender Brief Charlotte Jacobis ist nicht überliefert.

Auf dem Land 〈…〉 immer bleiben!] Erste Fassung eines Liedes, das später in das Singspiel „Erwin und Elmire“ aufgenommen wurde; das Lied erschien im Erstdruck des Singspiels in Johann Georg Jacobis Zeitschrift „Iris“ (2. Bd. 3. Stück. März 1775, S. 196 f.; vgl. auch DjG​3 5, 50).

eitel] Hier: lauter; nach Adelung (1, 1779) bereits veraltet.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 75 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR075_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 57–58, Nr 75 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 160–161, Nr 75 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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