Goethes Briefe: GB 2, Nr. 71
An Johann Caspar Lavater

〈Frankfurt a. M. , zwischen 23. und 26. November 1773〉 → 〈Zürich〉

〈Abschrift〉


〈…〉 ​Ich bin kein Christ. 〈…〉

Auf den vorliegenden Brief antwortete Lavater am 30. November 1773. Zuletzt hatte Lavater am 19. November geschrieben. Der vorliegende Brief ist die Antwort darauf. Die Post zwischen Frankfurt und Zürich brauchte in der Regel etwa vier Tage (vgl. Datierung zu Nr 67 und 84). Demnach wurde der vorliegende Brief wahrscheinlich zwischen dem 23. und 26. November 1773 geschrieben.

H: Verbleib unbekannt.

h: Zentralbibliothek Zürich. – Zitat in einer von Lavater veranlassten Abschrift seines Briefes an Goethe vom 30. November 1773 (vgl. Goethe-Lavater​2, 3, Beilage 131, Nr 7), dessen Original Goethe vermutlich verbrannt hat; vgl. dessen Tagebücher unter dem 2. und 9. Juli 1797 (GT II 1, 119 und 120) sowie die „Tag- und Jahres-Hefte“ für 1797 (WA I 35, 73).

E: Goethe-Lavater​2 (1898), 3, Beilage 131, Nr 7 (nach h).

D: Goethe-Lavater​3 (1901), 9, Nr 7 (nach h).

WA IV 50 (1912), 209 (in den „Berichtigungen“ zu Nr 216, nach D).

Textgrundlage: h.

Der Brief beantwortet Lavaters Brief vom 19. November 1773 (vgl. RA 1, 53, Nr 15; Goethe-Lavater​3, 7–9, Nr 6; abgedruckt im Anschluss an die Erläuterungen zu Nr 67). – Lavater antwortete am 30. November 1773 (vgl. RA 1, 53, Nr 16; Goethe-Lavater​3, 9 f., Nr 7; abgedruckt im Anschluss an die folgenden Erläuterungen).

In seinem Brief vom 19. November hatte Lavater zum wiederholten Mal die Darstellung eines Christuskopfes von Goethes eigener Hand erbeten. Lavater interessierte sich für eigenhändige Zeichnungen anderer, weil er dadurch Aufschlüsse über die Person des Zeichners erhalten zu können glaubte (vgl. die Erläuterung zu Zeile 11 Lavaters Brief). In der Folge kam es zwischen Goethe und Lavater zur Auseinandersetzung über Fragen des christlichen Glaubens, die auf Lavaters Seite von Anfang an mit dem Versuch einer ‚Bekehrung‘ Goethes verbunden war. Goethe erinnert sich im 14. Buch von „Dichtung und Wahrheit“: Alle Bekehrungsversuche, wenn sie nicht gelingen, machen denjenigen, den man zum Proselyten ausersah, starr und verstockt, und dieses war um so mehr mein Fall, als Lavater zuletzt mit dem harten Dilemma hervortrat: „Entweder Christ, oder Atheist!“ Ich erklärte darauf, daß wenn er mir mein Christenthum nicht lassen wollte, wie ich es bisher gehegt hätte, so könnte ich mich auch wohl zum Atheismus entschließen, zumal da ich sähe, daß Niemand recht wisse, was beydes eigentlich heißen solle. (AA DuW 1, 500.)


Lavaters Antwortbrief (nach h):


Mein lieber Bruder,

Gott weiß es, du bist's noch mehr, seit du's mir gesagt hast: ​Ich bin kein Christ. Ich nehm's keiner Seele übel, die nicht glauben kann; aber von denen wend' ich mein Angesicht, die sagen: Sie glauben, u. nicht glauben. Wer glaubt? – u: wem ist des Herrn Arm offenbar?

Aber nun – Bruder, sage mirs, wie ​du's sagen kannst; Was hast du wider den Christus, deßen Name ich zuverherrlichen dürste, noch nicht verherrliche.

Ich schwöre dir Ehrlichkeit. Sage mir, ist Christus nicht ​Gottes Ebenbild u: Urbild der Menschheit? – u: ich will stille horchen, was du darwider hast, u: gewiß nicht ​schikaniren, u: gewiß nicht ​Parthey Sache machen.

Aber von dir – u: deiner empfindsamen Tiefsicht erwart' ich auch, was ich von keinem, keinem unglaübigen, Zweifler, Spötter erwarte.

Dränge mich, so zeig' ich dir Christus – oder ich ergreife wider ihn die Feder. Es ist kein Christ auf Erden; ich bin noch keiner; Aber du sollst ​Einer werden – oder ich werde, was du bist. Innigst umarm' ich meine Brüder – Nicht Worte geb' ich dir – Geist, oder nichts. – Rede – ich werde hören, u: verstehn – denn ich bin – von Ewigkeit zu Ewigkeit dein Bruder

L.

Z. dℓ 30. Nov:

1773.


9 Urbild der Menschheit] Die Briefstelle ist ein Beleg für Lavaters Auffassung, dass in Christus die ganze Menschheit – wie im Keim die Pflanze – angelegt sei: „Ich kenne keinen Gott, als in der Menschheit“, schrieb Lavater am 28. Juni 1782 an Goethe (Goethe-Lavater​3, 206). Diesen verborgenen Keim in jedem Menschen zu entdecken und zur Entfaltung zu bringen, betrachtete Lavater als seine Lebensaufgabe. In diesem Zusammenhang gewinnt auch die Physiognomik für Lavater ihre spezifische Bedeutung (vgl. auch die Erläuterungen zum Brief Lavaters an Goethe vom 19. November 1773).


 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 71 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR071_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 55, Nr 71 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 147–149, Nr 71 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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