Goethes Briefe: GB 2, Nr. 70
An Johanna Fahlmer

〈Frankfurt a. M. 〉, 23. November 1773. Dienstag → Düsseldorf


Diesmal liebe Tante vom Töpfer. Ich danck Ihnen dass Sie wollen meine Meynung drüber transpiriren1 lassen. Das Stück ​2 ist um der Musick willen da, zeugt ​3 von der guten menschenfreundlichen Seele des Verfassers und ist dem Bedürfniss unsers Theaters gewachsen, dass Ackteur und Zuschauer ihm folgen können. Hier und da ist eine gute Laune doch würde seine Einformigkeit sich ohne Musick nicht erhalten.

Die ​4 Musick selbst ist auch mit vieler Kenntniss der gegenwärtigen Kräffte unsrer Theater komponirt. der Verfasser hat gesucht richtige Deklamation, mit leichter fliessender Melodie zu verbinden, und es wird nicht mehr Kunst erfordert seine Arietten zu singen, als zu den beliebten Kompositionen Hℓ. Hillers und Wolfs nötig ist. Um nun dabey ​5 das Ohr nicht leer zu lassen, wendete er all seinen Fleis aufs Akkompagnement, welches er so / vollstimmig und harmonisch zu setzen suchte als es ohne Nachteil der Singmelodie thunlich war. Zu dem Ende hat er offt Blas instrumente gebraucht, und manchmal eins von diesen unisono mit der Singstimme gesetzt, damit sie dadurch verstarckt und angenehm werde wie Z. B. in dem ersten duett mit der einen Flöte geschehen. Man kann ihm nicht nachsagen dass er kopirt noch raubt. Und es lässt sich immer mehr von ihm hoffen. In einigen Arien könnte das da-Capo kürzer seyn w. Z. E. in der Ariette: wie ​mancher6​ plumper Baueriunge p. 78.

Dass er die ganze Partitur hat stechen lassen billig ich, wenn es mehrere thäten würde der Kenner und Liebhaber befriedigt werden. Auch zum Behuf auswärtiger und ​privat Theater gut seyn /

So was, ​auf oder ​ab könnte der Merkur sagen ohne sich zu prostituiren ich ​saue das so in der Eil. Verzeiht s lieb Täntgen. die Liebe Frau und Lotten grüsen Sie mir. Ich binn wie immer bald leidlich bald unleidlich. Hab einige Tage Kopfweh gehabt und war sehr menschenfreundlich. Lassen Sie bald was von sich hören. Bölling ist von seiner Reise wieder da. Er hätte bald den Bassa zu Weimar besucht. Was macht unsre Wette. Adieu Täntgen. Meine Schwester, ist glücklich angelandet, und bald eingerichtet. Ade.      am 23 Nov 1773.

Goethe

  1. drüber wollen transpiriren​ ↑
  2. s​Stück​ ↑
  3. zei​ugt​ ↑
  4. Die​ ↑
  5. daf​bey​ ↑
  6. ​ma​ch​n​cher​ ↑

H: Bibliotheca Bodmeriana Cologny-Genève. – Doppelblatt 19,1 × 23(–23,2) cm, 3 ¾ S. beschr., egh., Tinte; S. 4 Adresse: An Mamsell / Mamsell ​Fahlmer / bey Hℓ. HofkammerR. / Jakobi / in / ​Düsseldorf. / ​franck Cöln.; S. 4 oben links von Johanna Fahlmers Hd, Tinte: „N ​r​o 5“ (vgl. die erste Erläuterung zu 46,5); oben Mitte und unten Mitte Reste eines Initialsiegels: „G“, ferner geringe Papierbeschädigung durch Öffnen des Siegels.

E: Goethe-Fahlmer (1875), 37–39, Nr 6.

WA IV 2 (1887), 123–125, Nr 185 (nach E; Textkorrekturen nach H in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 208).

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Johanna Fahlmers (vgl. 54,1–2). – Möglicherweise war der nicht überlieferte Brief Johanna Fahlmers, auf den Goethe am 29. November 1773 antwortete (Nr 72), der Antwortbrief auf den vorliegenden.

Töpfer] Komische Oper von Johann André. – Goethe wirbt im vorliegenden Brief mit dem Entwurf einer lobenden Besprechung in Wielands „Teutschem Merkur“ für Andrés Werk; trotzdem hatte die Oper keinen Erfolg bei den Kritikern (vgl. zu 51,8–10).

transpiriren] Hier „bildlich gebraucht im Sinne von ‚ruchbar werden, sich verbreiten; verlauten, durchsickern (lassen)‘“ (Deutsches Fremdwörterbuch 5, 405).

Deklamation] In der Musik die ausdrucksstarke Wiedergabe bei Vokalwerken unter Beachtung von Wort- und Sinnakzenten sowie der syntaktischen Gliederung des Textes. – In den „Ephemerides“ findet sich ein Exzerpt Goethes aus dem Artikel „Fortsetzung über den musikalischen Ausdruck“ (Anfang im 3. Stück vom 15. Januar: „Ueber den musikalischen Ausdruck nach dem Rousseau“), der 1770 in den Leipziger „Musikalischen Nachrichten und Anmerkungen“ (4. Stück vom 22. Januar, S. 25–30) erschienen war (vgl. DjG​3 1, 428); darin werden verschiedene Regeln über musikalische Deklamation aufgestellt.

Arietten] In der Opéra comique Lieder in volkstümlichem Ton.

Hillers] Johann Adam Hiller, Komponist und Musikschriftsteller in Leipzig; Goethe kannte dessen ‚Handwerker-Opern‘ und Singspiele aus seiner Leipziger Zeit.

Wolfs] Ernst Wilhelm Wolf, Komponist (von Singspielen) und Hofkapellmeister in Weimar.

Akkompagnement] Franz. accompagnement: Begleitung.

unisono] Ital.: einstimmig, im Einklang.

kopirt] Gerade dies, dass die Oper eine schlechte Kopie sei, behauptete die öffentliche Kritik (vgl. zu 51,8–10).

da-Capo] Ital.: von Anfang an.

Ariette 〈…〉 p. 78] Die Ariette findet sich im Textbuch der Oper (vgl. zu 51,8–10) auf Seite 68 f.; Goethe bezieht sich hier also auf die Partitur; ein Exemplar hatte er demnach am 31. Oktober nach Düsseldorf geschickt. Es ist nicht mehr nachzuweisen. – p.: lat. pagina/franz. page: Seite.

zum Behuf] Mhd. behuof: Zweck, Nutzen; im 18. Jahrhundert nur noch in dieser Wendung.

prostituiren] Nach lat. prostituere: bloßstellen

ich ​saue das so in der Eil] Der Handschriftenbefund widerspricht dieser Feststellung. Die Passagen über den „Töpfer“ sind in großen, klaren Schriftzügen niedergeschrieben, vermutlich in der Absicht, sie könnten dem gewünschten „Merkur“-Artikel zur Vorlage dienen.

die Liebe Frau und Lotten] Elisabeth (Betty) und Charlotte (Lotte) Jacobi.

Bölling] Johann Caspar Bölling, Frankfurter Handelsmann „in Spezerei- und Farbwaaren en gros“ (Dietz, Bürgerbuch, 13); er war mit Goethes Eltern befreundet. Für Wieland verwaltete er das „Haupt-Comptoir“ des „Teutschen Merkur“ in Frankfurt a. M. (vgl. WB 6 III, 1361).

Bassa zu Weimar] Gemeint ist Wieland. – Türk. paša (Pascha; bei den Europäern früher: Bassa): Titel der höchsten Offiziere und Beamten im Osmanischen Reich.

unsre Wette] Vgl. zu 47,15–16 und zu 52,6.

Meine Schwester 〈…〉 eingerichtet.] Cornelia war nach ihrer Hochzeit mit Johann Georg Schlosser am 14. November nach Karlsruhe gezogen.

 

 
 

Nutzungsbedingungen

Kontrollen

Kontrast:
SW-Kontrastbild:
Helligkeit:

Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 70 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR070_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 54–55, Nr 70 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 146–147, Nr 70 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

Zurück zum Seitenanfang