Goethes Briefe: GB 2, Nr. 61
An Charlotte Kestner

Frankfurt a. M. ,  31. Oktober 1773. Sonntag → 〈Hannover〉


Ich weis nicht liebe Lotte ob meine Muthmasung Grund hat, dass Sie in kurzem ein Negligee brauchen werden, wenigstens kommt mirs so vor. Und da ich über diesen wichtigen Punckt nach dachte, sprach ich zu mir selbst: Sie geht gerne weis, alles Nesseltuch1 ist verbannt im Winter, ausser gesteppt und da sieht sie zu altmütterlich drinn aus pp. hierüber trat die vorsichtige Göttin der Mode zu mir und überreichte mir beykommendes Zeug, das ausser der Dauer alle Qualitäten hat. Es ist Nesseltuch, hat also alle dessen Tugenden, die Atlassstreifen machen es zur Wintertracht; kurz und gut, zum Schneider mit, dass der aber fein saüberlich verfahre. Nota Bene es darf mit keiner andern Farbe als weis gefüttert werden, die ich gesehen habe, hatten weis Leinwand drunter. Das Stück gibt iust ein Negligee, über Poschen.

Zugleich ​2 überschicke auch, die hinterlassnen Läppgen des blau und weisen Nachtiäckgens, und bitte über die neu angekommne vornehme Freundschafft die alte treue nicht zu vergessen. Adieu liebe Lotte grüssen Sie mir das Männgen, errinnern Sie sich der alten Zeit wie ​3 ich.

Frfurt am 31 ​4 Oktbr. 1773 als am Tage Wolfgang — — — Goethe.

  1. 30​1​ ↑
  2. M​Nesseltuch​ ↑
  3. ×​Zugleich​ ↑
  4. wic​eh ​(h​ versehentlich nicht gestr.)​ ↑

H: GSA Weimar, Sign.: 29/263,I, Bl. 6–7. – Doppelblatt 19(–19,2) × 23,3 cm, 1 S. beschr., egh., Tinte; S. 1 oben rechts von fremder Hd, Bleistift: „1773. Oct. 31.“

E: Goethe und Werther​1 (1854), 190 f., Nr 87.

WA IV 2 (1887), 116 f., Nr 177 (Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50, 208).

Stoff (vgl. zu 49,7) und Stoffproben (vgl. 49,13–14).

Ein Bezugs- und ein Antwortbrief sind nicht bekannt.

meine Muthmasung] Anspielung auf Charlotte Kestners erste Schwangerschaft.

Negligee] Von franz. négligé: Haus- oder Morgenkleid; hier: Umstandskleid.

Sie geht gerne weis] Wohl in Erinnerung an die erste Begegnung Goethes mit Charlotte (vgl. GB 1 II, zu 238,7–8).

Nesseltuch] Franz. toile d'Ortie: eine besondere Art von feinem unbehandeltem Leinentuch (Batistleinen), die in der Gegend von St. Quentin in Frankreich hergestellt wurde (vgl. Waaren-Lexikon 2, 318).

gesteppt] Steppen: nähen. – Gemeint ist hier eine besondere Art, einen Stoff mit Futter zu versehen: „Ein gesteppter Rock, in welchen man, nachdem er mit Haaren oder Wolle unterlegt worden, Blumen oder Figuren gesteppet hat 〈…〉.“ (Adelung 4, 352.)

beykommendes Zeug] Der im Folgenden beschriebene und offenbar mit dem Brief übersandte Stoff zu einem Umstandskleid für Charlotte Kestner.

Poschen] Von franz. poches: Taschen oder Falten an einem Kleidungsstück.

die hinterlassnen Läppgen 〈…〉 Nachtiäckgens] Charlottes blaugestreiftes Hausjäckchen erwähnt Goethe mehrfach in seinen Briefen an Kestner und Hans Buff (vgl. zu 32,25, zu 44,4–5 sowie GB 1 II, 240,12).

die neu angekommne vornehme Freundschafft] Wahrscheinlich als scherzhafte Anspielung auf den zugleich übersandten Stoff zu verstehen.

am Tage Wolfgang] Der 31. Oktober ist der Namenstag für Wolfgang.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 61 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR061_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 49, Nr 61 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 127–128, Nr 61 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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