Goethes Briefe: GB 2, Nr. 58
An Heinrich Wilhelm von Gerstenberg

Frankfurt a. M. , 16. Oktober 1773. Samstag → 〈Kopenhagen〉


Ich kenne Sie schon so lang, und Ihr Freund Schönborn, der mich nun auch kennt, will zwischen uns einen Briefwechsel stifften. Wie Noth mir an meinem Ende der Welt offt eine Erscheinung thut, werden Sie auch an dem Ihrigen fühlen. Mein bester Wunsch ist immer gewesen, mit den Guten ​1 meines Zeitalters verbunden zu seyn, das wird einem aber so sehr vergällt, dass mann schnell in sich wieder zurück kriecht. Sie haben in Ihrem Freunde all mein Zutrauen, ob ich s Ihm zu verdienen scheine mag er selbst sagen. Da ich in der Welt noch keine Rolle spiele bring meine besten Stunden, im Aufzeichnen meiner Phantasien zu, und meine grösste Freude ist wenn iemand den ich ehre und liebe mit Theil daran nehmen will. Ich hoffe noch ​2 viel auf Sie, und wünschte auch Ihnen einige Stunden dieses wetterwendischen Lebens versüssen zu können. Franckfurt. am 16. Okbr 1773.

Goethe.

  1. g​Guten​ ↑
  2. nun​och​ ↑

H: FDH/FGM Frankfurt a. M., Sign.: 2. – 1 Bl. 11,6 × 18,6 cm, 1 S. beschr., egh., Tinte, sorgfältig geschrieben. – Beischluss zu Gottlob Friedrich Ernst Schönborns Brief an Gerstenberg vom 21. September–16.? Oktober 1773 (vgl. zu 45,20).

E: 〈Carl〉 Redlich: Ein ungedruckter Brief Goethe's. In: Zum 29. Januar 1878. Herrn Professor Georg Reinhard Röpe Dr. am Tage seines 50jährigen Jubiläums als Lehrer am Hamburgischen Johanneum mit collegialischem Glückwunsche dargebracht von Director und Lehrercollegium der höheren Bürgerschule. Hamburg 1878, S. III f.

WA IV 2 (1887), 112 f., Nr 174 (nach E; Hinweis auf H in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 208).

Der Brief beantwortet keinen Brief Gerstenbergs, an den sich Goethe zum ersten Mal wendet. – Gerstenberg antwortete am 5. Januar 1774 (vgl. RA 1, 54, Nr 19); der Brief ist als Konzept überliefert (FDH/FGM; abgedruckt im Anschluss an die folgenden Erläuterungen).

Heinrich Wilhelm von Gerstenberg (1737–1823), dänischer Rittmeister in Kopenhagen, von 1775 bis 1783 dänischer Konsul in Lübeck, von 1789 bis 1812 Lotteriedirektor in Altona, war ein vielseitiger Schriftsteller. In den Gedichten seiner „Tändeleyen“ (Leipzig 1759) zeigt er sich als anakreontischer Lyriker; im „Gedicht eines Skalden“ (Kopenhagen, Odense und Leipzig 1766) griff er auf die Tradition der nordischen Dichtung zurück und wurde zum Begründer der Bardendichtung. Seine „Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur“ (3 Bde. Schleswig und Leipzig 1766–1767) machten ihn zum Wegbereiter Shakespeares und der deutschen Shakespeare-Begeisterung, und sein Trauerspiel „Ugolino“ (Hamburg und Bremen 1768) weist ihn als Vorläufer des Sturm und Drang aus. Der von Gottlob Friedrich Ernst Schönborn angeregte Briefwechsel mit Goethe wurde nach Gerstenbergs Antwort nicht fortgesetzt; auch persönlich kennen gelernt haben sich Goethe und Gerstenberg nicht.

Ich kenne Sie schon so lang] Goethe hatte z. B. den „Ugolino“ gelesen (vgl. GB 1 II, erste Erläuterung zu 151,14) – und zunächst sehr ambivalent beurteilt (vgl. GB 1 I, 165,14–24). Schönborn hingegen berichtete, Goethe habe gesagt, „daß er 〈Ugolino〉 mit Götterkrafft gemacht sey.“ (Brief an Gerstenberg, 21. September–16.? Oktober 1773 [Briefteil vom 12. Oktober]; H: FDH/FGM; vgl. auch Zum 29. Januar 1878 [E], S. VI sowie BG 1, 239.)

der mich nun auch kennt] Schönborn hielt sich seit etwa dem 10. Oktober zu Besuch in Frankfurt auf.

einen Briefwechsel stifften] Im schon zitierten Brief Schönborns an Gerstenberg heißt es im Briefteil vom 12. Oktober: „Ich sagte ihm daß ich wünschte Zwey solche Männer wie Er u Sie möchten sich schrifftlich unterreden. Er wünsche es auch u da er erfuhr daß ich von hier aus an Sie schrieb sagte er mir er wolle ein par Zeilen mit beylegen u da sind sie.“ (H: FDH/FGM; vgl. auch Zum 29. Januar 1878 [E], S. VI sowie BG 1, 239.)

Gerstenbergs Antwortbrief (Konzept):


Kopenh. 5. Januar 1774.

Der Brief des deutschen Shakepear ist mir ​wirklich eine Erscheinung gewesen. Ich habe seinen Geist nicht nur von Angesicht zu Angesicht darinn gesehen, sondern den warmen Händedruck dieses edlen Geistes gar sehr gefühlt, und fühle ihn noch. Seitdem gehe ich tiefsinnig wie Hamlet, und denke übers Seyn und Nichtseyn derer, die itzt in Deutschland schreiben.

Fahren Sie fort, Original Deutscher, wie Sie angefangen haben. Der Beyfall, den Sie allenthalben finden, macht mir Muth zu hoffen, dass Sie der Mann sind, der in Deutschland ein Publikum von Deutschen werben wird. Ich halte es mir für eine Ehre, mich unter diesen, als einen Ihrer ersten Freunde unterschreiben zu dürfen.

Gerstenberg.


(Zitiert nach: Zum 29. Januar 1878 [E], S. VII; die Handschrift im FDH/FGM ist durch Feuchtigkeitsschäden weitgehend unleserlich.)

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 58 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR058_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 45–46, Nr 58 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 118–120, Nr 58 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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