Goethes Briefe: GB 2, Nr. Z1
An Anna Elisabeth Schönemann

〈Am Zürichsee , Mitte Juni 1775〉 → 〈Frankfurt a. M.?〉

〈Zweifelhafter Brief〉


Zurchseefahrt1═══ im Juni 1775.═══ Und frische Krafft u. frisches Blut Trinck ich aus neuer Welt, Wie​2 ist Natur so hold u. gut die mich am Busen hält. Die Welle wieget unsern Kahn, Im Rudertackt hinauf Und Berge, Wolcken angethan Entgegnen unserm Lauf.═══ Liebes Aug was sinckst du nieder? Goldne Träume kommt ihr wieder? Weg du Traum so Gold du bist: Hier auch Lieb und Leben ist═══ Auf der Welle blincken Tausend schwebende Sterne Holde Nebel trincken Rings die türmende Ferne Morgenwind umflügelt die beschattete Bucht Und im See bespiegelt Sich die reifende Frucht.═══ Oberried vom Berge. Wenn ich liebe Lili, dich nicht liebte Welche Wonne​3 gäb mir dieser Blick! Und doch liebste Lili wenn dich nicht liebte, Wär? Was wär mein Glück.═══
  1. Zurchseefahrd​t​ ↑
  2. U​Wie​ ↑
  3. w​Wonne​ ↑

Die Datierung folgt Goethes Schweizer Reisetagebuch, in dem unter dem ​15 Junius 1775. / Donnerstags morgen / ​aufm Zürchersee (GT I 1, 3) eine leicht abweichende Fassung der vorliegenden Verse überliefert ist (vgl. GT I 1, 4 f.). Ob Goethe die offenbar für Anna Elisabeth (Lili) Schönemann bestimmte Reinschrift des Gedichts schon am selben Tag niederschrieb, ist nicht sicher. Es ist jedoch anzunehmen, dass die Niederschrift nicht sehr viel später erfolgte.

H: Bibliothèque Nationale et Universitaire de Strasbourg, Fonds de Turckheim, boîte 88, f. 649–650. – Doppelblatt 11,5(–11,9) × 18,7(–19) cm, 1 S. beschr., egh., Tinte; jeweils in der Mitte einmal längs und einmal quer gefaltet, im unteren Teil noch einmal quer gefaltet; die Mittelbrüche der Rückseite des zweiten unbeschriebenen Blattes sind stark gebräunt, das Blatt lag nach der Faltung offenbar außen; Papier vielfach durchstochen, mit Verfärbungen. – Faksimile: Jules Keller: Goethe & Lili. Variante inédite du poème Zurchseefahrt, 1775 (Fonds de Turckheim, B. N. U. S.). Strasbourg 2000, Titelseite.

E: Jules Keller: Goethe & Lili. Variante inédite du poème Zurchseefahrt, 1775 (Fonds de Turckheim, B. N. U. S.). Strasbourg 2000, S. 3. – Spätere Fassung: Und frische Nahrung, neues Blut 〈…〉, unter dem Titel „Auf dem See“, sowie Wenn ich, liebe Lili, dich nicht liebte, 〈…〉, unter dem Titel „Vom Berge“, zuerst in: Goethe's Schriften. Bd 8. Leipzig 1789, S. 144 und 145; ebenso in: WA I 1 (1887), 78 und 79; eine weitere frühe Fassung aus Goethes Schweizer Reisetagebuch von 1775: Ich saug an meiner Nabelschnur 〈…〉; GT I 1, 4 f.; WA I 1 (1887), 387 f.

WA: In der vorliegenden Fassung nicht gedruckt.

Ein Bezugs- und ein Antwortbrief sind nicht bekannt.

Der Briefcharakter des vorliegenden Textes ist nicht sicher. Die äußere Beschaffenheit der Handschrift, die wie ein Brief gefaltet ist, und auch die Überlieferung sprechen dafür, dass es sich um einen Gedichtbrief handeln könnte, den Goethe wahrscheinlich während seiner Schweizer Reise anstelle eines Briefes oder als Beilage zu einem nicht überlieferten Brief an Anna Elisabeth Schönemann in Frankfurt schickte. Die Provenienz der Handschrift aus dem Familienarchiv der Türckheims (vgl. Überlieferung) bestätigt, dass das Gedicht in den Besitz Anna Elisabeth Schönemanns verh. von Türckheim gelangt ist (vgl. auch die einleitende Erläuterung zu Nr 249). – Nicht auszuschließen ist aber auch, dass der Empfängerin das Gedicht nach der Rückkehr Goethes nach Frankfurt geschenkt worden ist.

Goethe lernte Anna Elisabeth (Lili) Schönemann (1758–1817) wahrscheinlich in der ersten Januarhälfte 1775 kennen. Sie war die Tochter des Frankfurter Bankiers Johann Wolfgang Schönemann und seiner Frau Susanne Elisabeth geb. d'Orville. Seit dem Tod ihres Mannes im Jahr 1763 führte Susanne Elisabeth Schönemann gemeinsam mit einem Teilhaber das Bankhaus (auf dem großen Kornmarkt 15) weiter. In das Schönemannsche Haus war Goethe wahrscheinlich durch seinen Offenbacher Freund, den Komponisten und Musikverleger Johann André, eingeführt worden. Der sich bald nach der ersten Bekanntschaft entwickelnden Beziehung zwischen Goethe und Anna Elisabeth Schönemann standen beide Familien ablehnend gegenüber. In der Zeit der Ostermesse 1775 soll es durch die Vermittlung Helene Dorothea Delphs aus Heidelberg, einer Freundin der Familien Goethe, Schönemann und d'Orville, zur Einwilligung der Eltern in eine inoffizielle Verlobung gekommen sein. Die Möglichkeit eines unbefangeneren Umgangs mit der Verlobten bot sich Goethe vor allem bei deren Verwandten in Offenbach, dem Kaufmann Jean George d'Orville und dessen Frau Jeanne Rahel sowie dem Fabrikanten Nicolaus Bernard (vgl. die zweite Erläuterung zu 170,3). Zu den wenigen Zeugnissen aus Goethes Verlobungszeit gehören seine Briefe an Herder, Johanna Fahlmer und vor allem an Augusta zu Stolberg, die er zur Vertrauten seines spannungsreichen Verhältnisses zu Lili machte (vgl. bes. die einleitende Erläuterung zu Nr 188). Die Verlobung wurde im Herbst 1775 gelöst, kurz darauf verließ Goethe Frankfurt. Anna Elisabeth Schönemann heiratete 1778 den Straßburger Bankier Bernhard Friedrich von Türckheim und folgte ihm in seine Heimatstadt. Dort kam es am 26. September 1779 zum ersten und einzigen Wiedersehen mit Goethe, als dieser auf seiner zweiten Schweizer Reise auch Straßburg besuchte (vgl. Goethe an Charlotte von Stein, 24.–28. September 1779; WA IV 4, 67 f.).

Bis auf das vorliegende möglicherweise als Brief oder als Beilage zu einem Brief verschickte Gedicht und zwei spätere Briefe aus den Jahren 1801 und 1807 haben sich keine weiteren Briefe Goethes an Elisabeth von Türckheim geb. Schönemann erhalten (vgl. WA IV 15, 210 f., Nr 4374; WA IV 19, 471 f., Nr 5467). Sowohl der Briefcharakter wie auch der Adressat eines in Goethes Nachlass gefundenen Konzeptfragments, von Ernst Beutler als ‚Brief‘, später als ‚Briefentwurf‘ an ‚Lili‘ angesehen, sind fraglich (vgl. die einleitende Erläuterung zu Z 2). – Briefe Anna Elisabeth Schönemanns an Goethe sind aus der Zeit ihrer Verlobung nicht überliefert, lediglich aus den Jahren 1801 und 1807 haben sich zwei Briefe der nunmehr verheirateten Elisabeth von Türckheim erhalten (vgl. RA 3, 313, Nr 1133; RA 5, 256, Nr 725), darunter ein Empfehlungsschreiben für ihren Sohn Karl, der Goethe Ende September 1807 und danach noch mehrfach (1821 und 1829) in Weimar besuchte.

Das vorliegende Gedicht entstand auf der Schweizer Reise, zu der Goethe am 14. Mai 1775 gemeinsam mit Friedrich Leopold und Christian zu Stolberg sowie Christian Curt von Haugwitz aufgebrochen war (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 266). Wie es scheint, hatte sich Goethe vor Reiseantritt nicht von seiner Verlobten verabschiedet, wohl auch ein Zeichen dafür, dass er sich von einer zeitweisen Trennung eine Klärung ihres Verhältnisses erhoffte (vgl. Datierung und einleitende Erläuterung zu Nr 249).

Zurchseefahrt] Goethes Tagebuch seiner ersten Schweizer Reise beginnt mit dem Eintrag: ​Den 15 Junius 1775. / Donnerstags morgen / ​aufm Zürchersee. (GT I 1, 3.) Darunter folgen neun Vierzeiler, von denen nur der erste von Goethe selbst stammt. Goethe eröffnete damit die ‚bouts-rimés‘ (franz.: Endreime), ein Gesellschaftsspiel, bei dem vorgegebene Endreime zu einer vollständigen Strophe aufgefüllt werden mussten. Die folgenden acht Strophen stammen von den übrigen Teilnehmern der Fahrt auf dem Zürichsee, über die auch Goethes Reisebegleiter Friedrich Leopold zu Stolberg in einem Brief an seine Schwester Henriette von Bernstorff vom 16. Juni 1775 berichtet: „Donnerstag früh machten wir uns auf und gingen zum See, der ganz nahe bei unserer Hütte ist, da kam denn auch das Boot aus der Stadt, darin waren Lavater, Heß 〈…〉; sein Schwager, ein herrlicher junger Mann, Göthe und zwei Frankfurter 〈Jacob Ludwig Passavant und Philipp Christoph Kayser〉, recht gute Leute. Wir ließen uns zwei Stunden weit auf dem See rudern, es war ganz stille, dann reizten uns die schönen Ufer zu sehr und wir beschlossen, zu gehen.“ (Friedrich Leopold Graf zu Stolberg. Größtentheils aus dem bisher noch ungedruckten Familienarchiv dargestellt von Johannes Janssen. Bd 1: Stolberg bis zu seiner Rückkehr zur katholischen Kirche. 1750–1800. Freiburg im Breisgau 1877, S. 43.) – Noch unter demselben Datum folgen in Goethes Tagebuch unmittelbar danach die Verse Ich saug an meiner Nabelschnur 〈…〉. (GT I 1, 4 f.; vgl. dazu auch AA DuW 1, 609 f. [18. Buch].)

Oberried vom Berge.] Oberrieden ist eine Gemeinde am linken Ufer des Zürichsees, etwa 11 km südöstlich von Zürich. – In Goethes Tagebuch folgen nach dem Gedicht Ich saug an meiner Nabelschnur 〈…〉 noch immer unter dem 15. Juni die Verse Wenn ich liebe Lili dich nicht liebte 〈…〉, überschrieben mit: Vom Berge in die See / Vid. das Privat Archiv des Dichters / Lit. L. (GT I 1, 5; lat. vide: siehe; lat. Littera L: Buchstabe L 〈für ‚Lili‘〉.) – Vgl. dazu den Bericht Friedrich Leopold zu Stolbergs: „Die Ufer des Züricher Sees sind gar zu schön; hart am Wasser geht der Fußsteig, der immer von den schönsten Wallnußbäumen beschattet ist. 〈…〉 Zu Mittag aßen wir bei einem Landpfarrer 〈Pfarrer Däniker in Oberrieden〉, der uns sehr liebreich empfing und uns der Milch, der Butter und des Kalbfleisches, wie Abraham, reichlich vorsetzte. 〈…〉 Von da gingen wir weiter, immer am See, niedliche Häuser lagen uns zur Rechten, Weinberge erhoben sich über die Häuser und über die Weinberge hohe Gebirge. Wir verließen den See, um in den Canton Schwyz nach dem Kloster Einsiedeln zu gehen. Lavater hatte Geschäfte und mußte umkehren. Die Scene änderte sich plötzlich, nun mußten wir einen schmalen, rauhen, steinigten Fußpfad hinaufklimmen, der auf beiden Seiten oft die schönsten Wiesen hatte und den unzählig viele Bäche durchschnitten.“ (Brief an Henriette von Bernstorff, 16. Juni 1775; Friedrich Leopold Graf zu Stolberg. Größtentheils aus dem bisher noch ungedruckten Familienarchiv dargestellt von Johannes Janssen. Bd 1, S. 43.) In „Dichtung und Wahrheit“ ist der Besuch in Oberrieden und die etwa 15 km lange Wanderung am Seeufer entlang ausgelassen. Im Anschluss an die Zürichseefahrt sei die Reisegesellschaft in Richters Weyher 〈Richterswil〉 gelandet, wo wir an Doctor Hotze 〈Johannes Hotz〉 durch Lavater empfohlen waren. 〈…〉 Aufs beste bewirthet aufs anmuthigste und nützlichste auch über die nächsten Stationen unsrer Wanderung unterhalten, erstiegen wir die dahinter liegenden Berge. Als wir in das Thal von Schindelegge wieder hinabsteigen sollten, kehrten wir uns nochmals um, die entzückende Aussicht über den Zürcher See in uns aufzunehmen. (AA DuW 1, 610 [18. Buch].)

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr Z 1 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_ZB001_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 285, Nr Z 1 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 567ߝ570, Nr 1 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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