Goethes Briefe: GB 2, Nr. 51
An Johann Christian Kestner

〈Frankfurt a. M. , Mitte August〉 – 21. August 〈1773. Samstag〉 → 〈Hannover〉


Viel Glück zu allem was ihr unternehmt und eurer besten Frau alle Freuden des Lebens.

Ich kann euch nicht tadlen dass ihr in der Welt lebt, und Bekanntschafft macht mit Leuten von Stand und Pläzzen. Der Umgang mit Grossen ist immer dem ​1 vorteilhafft der ihrer mit Maas zu brauchen weis. Wie ich das Schiespulver ehre dessen Gewalt mir ​2 einen Vogel aus der Lufft herunter hohlt, und wenns weiter nichts wäre. Aber auch sie wissen Edelmuth und Brauchbaarkeit zu schäzzen, und ein iunger Mann wie ihr muss hoffen, muss auf den besten Plaz aspiriren. Sakerment und wenn ihrs nur eures Weibes willen tähtet. Was die häuslichen Freuden betrifft, die ​3 hat dünckt mich der Canzler sogut als der Sekretarius, und ich wollte Fürst seyn und mir sie nicht nehmen lassen. Also treibts in Gottes Nahmen nach eurem Herzen und kümmert euch nicht um Urteile und verschliesst euer Herz dem Tadler wie dem Schmeichler. Hören mag ich sie bey/de gern hören, biss sie mich ennüiren. Mad. la Roche war hier, sie hat uns acht glückliche Tage gemacht, es ist ein Ergötzen mit solchen ​4 Geschöpfen zu leben. O Kestner und wie wohl ist mirs, hab ​5 ich sie nicht bey mir so stehn sie doch vor mir immer die lieben all. Der Kreis von edlen Menschen ist das wehrteste alles dessen was ich errungen habe. Und nun meinen lieben Götz! Auf seine gute Natur verlass ich mich, er wird fortkommen und dauern. Er ist ein MenschenKind mit viel Gebrechen und doch immer der besten einer. Viele werden sich am Kleid stosen und einigen rauhen Ecken. Doch hab ich schon so viel Beyfall dass ich erstaune. Ich glaube nicht dass ich so bald was machen werde das wieder das Publikum findet. Unterdessen arbeit ich so fort, ob etwa dem Strudel ​6 der Dinge belieben mögte was gescheuters mit mir anzufangen. /


am 21 August

Das war lang geschrieben biss einmal die Zeit zu siegeln bey mir kommt. Da ich euch nichts mehr zu sagen habe als liebt mich immer fort. und Lotte soll mich liebbehalten und glücklich ist sie.

Adieu.

  1. ⎡dem⎤​ ↑
  2. mi×​r​ ↑
  3. da​ie​ ↑
  4. solg​chen​ ↑
  5. ich​hab​ ↑
  6. Str×​udel​ ↑

Bevor der Brief am 21. August beendet und abgeschickt wurde, war er schon einige Zeit lang geschrieben (39,28) und liegen geblieben. Das Jahr wurde nach dem Inhalt ergänzt, dem zufolge der „Götz“ gerade erschienen war (vgl. 39,19).

H: GSA Weimar, Sign.: 29/264,I,2, Bl. 45–46. – Doppelblatt 11,2(–11,4) × 18,6 cm, 2 ¼ S. beschr., egh., Tinte; S. 1 oben links von fremder Hd, Bleistift: „1773. Aug.“ – Beischluss zu Nr 52? (vgl. die erste Erläuterung zu 40,1).

E: Goethe und Werther​1 (1854), 177 f., Nr 80.

WA IV 2 (1887), 99 f., Nr 164 (Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 207).

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Kestners (vgl. zu 38,22). – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

was ihr unternehmt] Offenbar antwortet Goethe hier und im Folgenden auf einen nicht überlieferten Brief Kestners aus Hannover.

Leuten von Stand und Pläzzen] Etablierte Leute. – Stand: hier „der feste platz, den jemand in seinem dienste oder berufe hat“ (vgl. Grimm 10 II 1, 692).

ein iunger Mann 〈…〉 muss hoffen] Vgl. zu 36,10–11.

aspiriren] Trachten, streben, sich bewerben.

Sakerment] Entstellte Form von ‚Sakrament‘ zur Bestätigung und Verstärkung der Aussage (vgl. Grimm 8, 1673). In dieser derben Form von Goethe auch im „Götz von Berlichingen“ gebraucht: Hauptmann. / Ich mögt euch alle mit eigener Hand umbringen, ihr tausend sakerment. (DjG​3 3, 248.)

ennüiren] Von franz. ennuyer: langweilen.

Mad. la Roche war hier] Sophie La Roche hielt sich von Ende Juli bis Anfang August in Frankfurt auf.

Götz] „Götz von Berlichingen“ war etwa im Juni 1773 im Druck erschienen (vgl. zu 32,22).

Viele werden sich am Kleid stosen 〈…〉 so viel Beyfall dass ich erstaune.] Die zeitgenössische literarische Auseinandersetzung um den „Götz von Berlichingen“ setzte fast unmittelbar nach dessen Erscheinen ein. Den Auftakt bildete die anerkennende Rezension von Matthias Claudius im „Wandsbecker Bothen“ vom 2. und 3. Juli 1773, der bis zum 20. August noch etwa fünf weitere Besprechungen in unterschiedlichen Blättern folgten (vgl. dazu Hans Henning: Goethes „Götz von Berlichingen“ in der zeitgenössischen Rezeption. Leipzig 1988, Dokumente 1–25, S. 207–353). Zwar nahmen einige Rezensenten Anstoß an der äußeren Form des Dramas, „worinn alle drey Einheiten auf das grausamste gemißhandelt werden“ (Christian Heinrich Schmid in: Der Teutsche Merkur. 3. Bd. 3. Stück. September 1773, S. 267). Insgesamt überwog aber die Begeisterung für den nationalen Stoff und das Neuartige der Darstellung, so auch beim Rezensenten des „Merkur“. Beyfall hatte Goethe von seinen Freunden und Bekannten erhalten. Neben Merck, von dem der Anstoß zur Drucklegung des Stückes ausgegangen war, könnten Gotter, Lavater (vgl. RA 1, 51, Nr 9) und vor allem Herder gemeint sein, der sich bereits über die erste Fassung des Stückes anerkennend geäußert hatte: „Ich schicke nächstens Göthens Berlich[ingen] zurück: da wird er ihn wohl Merken schicken, und denn werden auch Sie einige himmlische Freudenstunden haben, wenn Sie ihn lesen. Es ist ungemein viel Deutsche Stärke, Tiefe und Wahrheit drinn, obgleich hin und wieder es auch nur gedacht ist.“ (Brief an Caroline Flachsland, Ende Juli 1772; Herder-Flachsland 2, 176.) Dennoch gingen entscheidende Anregungen zur Umarbeitung der ersten Fassung des Stückes gerade von Herder aus, dessen kritisches Urteil darüber zwar nicht schriftlich überliefert ist, sich aber aus Goethes Antwort erschließen lässt (vgl. GB 1 II, zu 232,22–23; erste Erläuterung zu 232,27). – Zustimmung hatte Goethe auch aus Göttingen erfahren. Am 10. Juli hatte er sich bei Boie für dessen Anteilnahme am „Götz“ bedankt und ihn gebeten, die Anzahl der im Bekanntenkreis benötigten Exemplare mitzuteilen (vgl. 35,9–10). Zu Boies engsten Freunden gehörte Gottfried August Bürger, einer der größten Bewunderer des „Götz“, wie sein Brief vom 8. Juni 1773 belegt: „Boie! Boie! Der Ritter mit der eisernen Hand, welch ein Stück! Ich weiß mich vor Enthusiasmus kaum zu lassen. Womit soll ich dem Verfasser mein Entzücken entdecken? Den kann man doch den deutschen Shakespeare nennen, wenn man einen so nennen will. Brechen möcht' ich mich vor Ekel, wenn man Weißen so nennt. Welch ein durchaus deutscher Stoff! Welch kühne Verarbeitung! Edel und frei wie sein Held tritt der Verfasser den elenden Regelnkodex unter die Füße und stellt uns ein ganzes événement mit Leben und Odem bis in seine kleinsten Adern beseelt vor Augen. Erschütterung, wie sie Shakesp. nur immer hervorbringen kann, habe ich in meinem innersten Mark gefühlt. Mitleid! Schrecken! – Grausen, kaltes Grausen, wie wenn einen kalter Nordwind anweht! 〈…〉 Mag doch das Rezensentengeschmeis, mag doch der Lesepöbel, der die Nase beim Schnickschnack der Orsina rümpfte, bei dem A– lecken den Rüssel verziehen! Solches Gesindel mag diesen Verfasser im – – ! O Boie, wissen Sie nicht, wer es ist? Sagen Sie, sagen Sie mir's, daß ihm meine Ehrfurcht einen Altar baue! Ich behalte das Stück, will's gerne bezahlen, und wenn es auch noch soviel kostete und wenn ich alle Werke Voltaires und Corneilles darum verkaufen sollte. 〈…〉 Mein Verdruß ist nur itzt, daß ich keinen um mich habe, mit dem ich mich recht über den Götz exklamieren kann. Meine Freude will mir schier das Herz abstoßen.“ (Blumenthal, 36 f.) Sicher wurde Goethe von Boie über Bürgers Enthusiasmus für den „Götz“ in Kenntnis gesetzt: Im Februar 1774 übersandte er in seinem ersten Brief an Bürger ein Exemplar des Stückes (vgl. Beilage zu Nr 93). – Zur Rezeption des „Götz“ vgl. Peter Müller: Der junge Goethe im zeitgenössischen Urteil. Berlin 1969, S. 68–118; Johann Wolfgang Goethe: Götz von Berlichingen. Erläuterungen und Dokumente. Hrsg. von Volker Neuhaus. Stuttgart 1973 (erweiterte und bibliographisch ergänzte Ausgabe 2003).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 51 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR051_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 38–39, Nr 51 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 103–105, Nr 51 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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