Goethes Briefe: GB 2, Nr. 44
An Friedrich Wilhelm Gotter

〈Frankfurt a. M. , Juni 1773〉 → 〈Gotha〉

〈Abschrift〉


Schicke dir hier den alten Götzen. Magst ihn nun zu deinen Heilgen setzen, Oder magst ihn in die Zahl Der ungeblätterten stellen zumal. Habs geschrieben in guter Zeit, Tags, Abends und Nachts Herrlichkeit. Und find nicht halb die Freud so mehr, Da nun gedruckt ist ein groses Heer. Find daß es wie mit den Kindern ist, Da doch wohl immer die schönste Frist Bleibt wenn man in der schönen Nacht Sie hat der lieben Frau gemacht. Das andre geht dann seinen Gang, Und Rechnen, Wehn, und Tauf' und Sang. Mögt euch nun auch ergötzen dran, So habt ihr doppelt wohlgethan. Magst wie ich höre denn allda Agiren tragiren Commödia, / Vor Stadt und Land, und Hof und Herrn, Die sehn das Schattenspiel wohl gern. So such dir dann in deinem Haus Einen recht tüchtigen Bengel aus, Und gieb ihm die Roll von meinem Götz, In Panzer, Blechhaub und Geschwäz Dann nimm den Weisling vor dich hin, In Pumphos, Kragen und stolzem Kinn, Und​1 Spada wohl nach Spanierart Und Weitnaslöchern, Stüzleinbart, Und sey ein Falscher an den Frauen, Laß dich zuletzt vergiftet schauen. Und bring, da hast du meinen Dank, Mich vor die Weiblein ohn Gestank, Must alle garst'ge Worte lindern, Aus Scheiskerl Schurken, aus Arsch mach Hintern, Und gleich das alles so fortan, Wie du's wohl ehmals schon getahn.Goethe.
  1. Kinn, / Mit Weitnaslöchern, Stüzleinbart, / Und​ ↑

Der Gedichtbrief begleitete die Übersendung der Buchausgabe des „Götz von Berlichingen“ (vgl. 33,5), die im Juni 1773 (QuZ 4, 737, Anm. 3: „Mitte Juni“) ausgeliefert worden war (vgl. auch zu 32,22).

H: Verbleib unbekannt; früher im Besitz von Abraham Voß (vgl. Im neuen Reich. Bd 1 [1880], S. 913).

h​1: Verbleib unbekannt; 1834 im Besitz der Nachkommen von Johann Heinrich Voß d. J. (vgl. Im neuen Reich. Bd 1 [1880], S. 912 f. und WA IV 2, 317).

h​1a: Verbleib unbekannt. – Abschrift von h​1 durch Wilhelm Stricker, 1834 (vgl. Im neuen Reich. Bd 1 [1880], S. 912 f. und WA IV 2, 317).

h​1b: Verbleib unbekannt. – Niederschrift von Theodor Creizenach aus dem Gedächtnis nach der Vorlesung (nach h​1a?) durch einen „Frankfurter Sammler“, um 1837 (vgl. Wilhelm Creizenach: GJb III [1882], 325 f.). Da Stricker berichtete, dass er seine Abschrift Theodor Creizenach mitgeteilt habe, war er vermutlich der „Frankfurter Sammler“ (vgl. Im neuen Reich. Bd. 1 [1880], S. 912).

h​1c: Verbleib unbekannt. – Niederschrift von Wilhelm Stricker aus dem Gedächtnis nach dem Verlust von h​1a (vgl. WA IV 2, 317).

h​2: Verbleib unbekannt. – Abschrift von H (?) durch Johann Diederich Gries, um 1830? (vgl. DjG​2 6, 161, zu Nr 160, und WA I 5.2, 122).

h​2a: Verbleib unbekannt. – Kollation von h​2 durch K. Th. Gaerdertz, 1900 dem GSA übermittelt (vgl. WA I 5.2, 122: H​476), im GSA nicht mehr nachweisbar.

h​3: SBB/PK Berlin, Nachlass Ludwig Tieck, Sign.: K 41. – Doppelblatt, 4 S. beschr. (S. 1 f. Gedichtbrief Goethes, S. 3 f. Anfang der Anwort Gotters, abgedruckt in der Erläuterung zu 34,12). – Abschrift von August Wilhelm Schlegel, Tinte; S. 1 über dem Brieftext: „An Gotter, / bei Übersendung des Götz von Berlichingen.“, S. 3 über dem Text: „Antwort an Goethe.“

E: Zeitung für die elegante Welt. Leipzig 1837, Nr 97 vom 22. Mai, S. 385 (nach h​1b).

D​1: WA IV 2 (1887), 93–95, Nr 159 (nach h​1c).

D​2: DjG​2 3 (1910), 48 f., Nr 161 (nach h​2a).

Textgrundlage: h​3. – Obwohl nicht zu belegen ist, dass h​3 eine direkte Abschrift von H darstellt, zeigt der Vergleich von h​3 mit E–D​2, dass keine der diesen Drucken zugrunde liegenden Abschriften die Vorlage für h​3 gewesen sein kann: h​2a, die Morris noch zugänglich war und die im Vergleich zu h​1b und h​1c H näher steht, liegt D​2 zugrunde (vgl. DjG​2 6, 265, zu Nr 161; danach bei Fischer-Lamberg, vgl. DjG​3 3, 38 f.). Die Nähe von h​3 zu D​2 (nach h​2a) ist größer als zu h​1c, die dem Druck in der WA zugrunde liegt. Abweichungen zwischen h​3 und D​2 bestehen hauptsächlich in der Orthographie und der Interpunktion, vereinzelt auch im Wortlaut. So weist h​3 z. B. größere Inkonsequenzen bei der Groß- und Kleinschreibung sowie bei der ss-, s- und ß-Schreibung auf als D​2, außerdem werden Apostrophe sehr viel seltener gesetzt als in D​2. Diese Schreibgewohnheiten sind charakteristisch für die Briefe des jungen Goethe (vgl. bes. Nr 10, 24). Als weiteres Indiz für die vergleichsweise große Authentizität von h​3 ist zu werten, dass Gotters Antwort, die sich in h​3 unmittelbar an die Abschrift von Goethes Brief an Gotter anschließt, in Schlegels Abschrift sechs Verse mehr umfasst als die Drucke in E und D​2 (vgl. zu 34,12). Schlegel muss demzufolge eine vollständigere Vorlage zugänglich gewesen sein.

dir] Dir ​E D​1 Götzen.] Götzen, ​E D​1 Götzen; ​D​2​  ihn nun zu] ihn zu ​D​2 deinen] Deinen ​E D​1 Heilgen] Heiligen ​D​1 ungeblätterten] Ungeblätterten ​E D​1​ D​2 Habs] Hab's ​E D​1​ D​2 Tags] Tag's ​E Nachts Herrlichkeit.] Nachtsherrlichkeit; ​E Herrlichkeit.] Herrlichkeit, ​D​1 Herrlichkeit; ​D​2  find] find' ​E D​1 D​2 Freud so] Freude ​E Freud' so ​D​2      groses] ganzes ​E D​1 grosses ​D​2 Find] Find', ​E D​1 D​2      daß] dass ​D​2 Da doch wohl] Bei denen doch ​E D​1  Bleibt] Bleibt, ​E D​1 D​2 Frau gemacht.] Frau —— ——. ​(die folgenden zwei Verse fehlen) E gemacht; ​D​1 andre] Andre ​D​2 Gang,] Gang ​D​1 Wehn] Wehen ​D​1 euch] Euch ​E D​1 ihr] Ihr ​D​1 wohlgethan] wohl gethan ​D​2      Magst] Läss'st, ​E D​1 Magst, ​D​2 höre] höre, ​E D​1 D​2 denn] auch ​E D​1 denn ​D​2 Agiren] Agiren, ​E D​1 D​2 Commödia,] Komödia, ​E D​1 Komödia ​D​2 Land, und] Land, vor ​E D​1 Land und ​D​2 sehn] säh'n ​E D​1 D​2 Schattenspiel] Trauerspiel ​E Trauerstück ​D​1 wohl] wol ​D​1 such] such' ​E dir] Dir ​E D​1 dann] denn ​E D​1 D​2 deinem] Deinem ​E D​1 recht] rechten ​E D​2 aus,] aus ​D​2 Und] Dem ​E D​1 gieb ihm] gieb ​E D​1 Roll] Roll' ​E D​1 D​2 Götz,] Götz ​E D​1 Blechhaub] Blechhaub' ​E D​1 D​2 Geschwäz] Geschwätz. ​E D​1 D​2 dich] Dich ​E D​1 In Pumphos] Mit breitem ​E D​1 In Pumphos' ​D​2 Kragen und stolzem] Kragen, stolzen ​E D​1 Und] Mit ​E D​1 Spanierart] Spanier Art, ​E D​1 D​2  Und] Mit ​E D​1 Stüzleinbart] Stützleinbart ​E D​1 D​2 sey] sei ​D​1 Laß dich] Laß sich ​E Läßt sich ​D​1 Lass dich ​D​2 bring] bring' ​D​2 du] Du ​E D​1      Dank] Danck ​D​1 ohn] ohn' ​E D​1 D​2 Gestank,] Gestank. ​E  Gestank! ​D​1 Gestanck. ​D​2 Must alle garst'ge Worte] Mußt all' die garstigen Wörter ​E D​1 Musst alle garst'gen Worte ​D​2 lindern,] lindern: ​D​1 Scheiskerl] –kerl ​E Scheißkerl ​D​1 Schurken] Schurk ​E D​1 Schurcken ​D​2 aus Arsch mach] aus —— mach' ​E  gleich] gleich' ​D​2 alles] Alles ​D​2 du's wohl ehmals schon] Du schon ehmals wohl ​E D​1 getahn] gethan ​E D​1 D​2 Goethe.] ​fehlt in E D​1 D​2

1 Exemplar des „Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel. 1773“ (vgl. 33,5).

Ein Bezugsbrief ist nicht bekannt. – Gotter antwortete im Juni oder Juli 1773, ebenfalls mit einem Gedichtbrief (vgl. RA 1, 51, Nr 8; Brief abgedruckt im Anschluss an die folgenden Erläuterungen).

Friedrich Wilhelm Gotter (1746–1797) wuchs in Gotha auf. Er erhielt eine Privaterziehung, die ihn sehr früh mit französischer Sprache, Literatur und Kultur vertraut machte, welche unter dem Einfluss der frankophilen Herzogin Luise Dorothea in der Residenzstadt hohes Ansehen genoss. Während seines Studiums der Rechte in Göttingen von Ostern 1763 bis zum Spätsommer 1766 fasste Gotter aus Anlass eines Besuchs der Ackermannschen Schauspieltruppe eine solche Leidenschaft zum Theater, dass er ein kleines Privattheater einrichtete und Aufführungen veranstaltete. Auch später, in Wetzlar und in Gotha, betätigte er sich als Regisseur und Schauspieler an Liebhabertheatern. Die Reputation des französischen Dramas und der Schauspielkunst zu heben, blieb Gotter zeit seines Lebens ein Anliegen. Auch eigene poetische Versuche in deutscher Sprache unternahm er in Göttingen. Einer von Gotters Kommilitonen war Johann Christian Kestner.

Nach abgeschlossenem Studium wurde Gotter zweiter geheimer Archivar in Gotha. Bereits im Frühjahr 1767 unterbrach er jedoch diese Tätigkeit, um als sachsen-gothaischer Legationssekretär nach Wetzlar zu gehen. Dort traf er Kestner wieder, mit dem er sich eng befreundete. Ein Jahr später, im Mai 1768, trat Gotter vorübergehend aus dem Staatsdienst aus, um zwei Barone als Hofmeister nach Göttingen zu begleiten; es war geplant, anschließend mit ihnen auf Reisen zu gehen. In Göttingen begegnete er Heinrich Christian Boie. Gemeinsam mit ihm begründete er im selben Jahr den Göttinger „Musen Almanach“, an dem Gotter jedoch nur im ersten Jahrgang als Redaktor mitwirkte. Statt die erhofften Reisen anzutreten, verlor Gotter im Herbst 1769 seine Stelle als Hofmeister und nahm sein Amt als Archivar in Gotha wieder auf.

Im September 1770 wurde er erneut als Legationssekretär nach Wetzlar geschickt. Während dieses zweiten Aufenthalts in Wetzlar lernte er Goethe kennen, der von Mai bis September 1772 Praktikant am Reichskammergericht war. Beide gehörten zu der ‚Rittertafel‘ der Sekretäre und Praktikanten im Gasthof „Zum Kronprinzen“ (weiter vgl. GB 1 II, zu 237,26 und GB 1 II, zu 239,2). In August Siegfried von Goués Drama „Masuren oder der junge Werther“ (Frankfurt a. M. und Leipzig 1775), in dem die Rittertafel geschildert wird, treten Goethe und Gotter als gute Freunde unter den Namen Götz und Fayel auf. Zu diesem geselligen Umfeld passt der Ton des vorliegenden Gedichtbriefs. Im September 1772 kehrte Gotter nach Gotha zurück, wo er mit wenigen Unterbrechungen durch Reisen bis an sein Lebensende als Geheimsekretär in herzoglichem Dienst stand. Er schrieb und bearbeitete eine Vielzahl von Lust- und Singspielen sowie einige Tragödien. An seinen Gedichten wurden „leichter Witz“ und „gute Versification“ geschätzt (Johann Heinrich Merck in den FGA, Nr 19 vom 6. März 1772, S. 149).

In einem Brief vom 1. August 1772 an Christian Gottlob Heyne berichtet Gotter, er habe in Wetzlar „den Dr. Goethe von Frankfurt“ kennen gelernt, „einen jungen Mann, dessen Genie Ihnen gewiß Gnüge leisten würde und zu dessen Vorteile ich nur dieses sagen will, daß er ein Liebling Herders ist.“ (Bode 1, 30.) Goethe seinerseits erinnert sich in „Dichtung und Wahrheit“, es sei ihm höchst lieb gewesen, ​Gottern gefunden zu haben, der sich mit aufrichtiger Neigung an mich schloß, und dem ich ein herzliches Wohlwollen erwiederte. Sein Sinn war zart, klar und heiter, sein Talent geübt und geregelt; er befleißigte sich der französischen Eleganz und freute sich des Theils der englischen Literatur, der sich mit sittlichen und angenehmen Gegenständen beschäftigt. (AA DuW 1, 441 [12. Buch].) Die freundschaftliche Beziehung führte zu einem intensiven Gedankenaustausch über literarische Arbeiten, Pläne und ästhetische Fragen. Gemeinsam mit Gotter unternahm Goethe den Versuch, Maximen auszufinden, wonach man beym Hervorbringen zu Werke gehn könnte. (Ebd., 445.) Gleichzeitig übersetzten sie Oliver Goldsmith' Gedicht „The deserted village“, was Gotter besser als mir geglückt ist, wie Goethe anerkennt (ebd., 450). Gotter war es, der Goethe die Bekanntschaft Heinrich Christian Boies und Johann Christian Kestners vermittelte. Die gegenseitige Sympathie hatte trotz grundsätzlicher Unterschiede, die zwischen den Zeilen der zitierten Charakterisierung Gotters in „Dichtung und Wahrheit“ deutlich werden, Bestand: Mit französischer Eleganz und moralisierender englischer Literatur hatte der Dichter des „Götz von Berlichingen“ und Verehrer Shakespeares in Wetzlar nichts im Sinn, umgekehrt Gotter nichts mit der Sturm und Drang-Mentalität; „seine dichterische Individualität empörte sich dagegen, die Ausschreitungen und Freiheiten Shakespeares und der Shakespeare-Nachahmer in Deutschland als einzige für den Dramatiker geltende Norm anzuerkennen.“ (Schröder und Gotter. Eine Episode aus der deutschen Theatergeschichte. 〈…〉 Eingeleitet und hrsg. von Berthold Litzmann. Hamburg und Leipzig 1887, S. 23.) In seiner gereimten „Epistel über die Starkgeisterey“ (Der Teutsche Merkur. 3. Bd. 1. Stück. Juli 1773, S. 3–38) zieht Gotter gegen „jene Rotte“ von modernen „Cynickern“ zu Felde, „Die alles läugnet, widerlegt, / Verkleinert, lästert, was den Stempel / Von Heiligkeit an seiner Stirne trägt“ (S. 5), um sich „Vom Glaubensjoche zu befreyn, / Des Aberglaubens Träumereyn, / Der Vorurtheile Kindereyn, / Und allen Schulpedantereyn / Auf ewig gute Nacht zu sagen“ (S. 6 f.). Von diesem Standpunkt aus dürfte Gotter die „Prometheus“-Ode Goethes ebenso bedenklich erschienen sein wie „Faust“, auf den folgende Verse bezogen werden könnten: „Der arme Thor“, schreibt Gotter über den zeitgenössischen Typus des ‚Zynikers‘,


Nun will er selber laboriren, 〈…〉 fängt an zu destilliren – Ach! aber die Phiole springt, da liegt Des Weisen Stein am Boden, und verfliegt. Hätt er sich doch, gleich andern Thieren, Statt dieses Uebermuths, mit dem Instinkt begnügt!

(S. 8.)

Das Verhältnis zwischen Goethe und Gotter lockerte sich nach dem Ende der gemeinsamen Wetzlarer Zeit. Schon in seinem Brief an Johann Christian Kestner vom 27. Oktober 1772 zeigte sich Goethe irritiert über eine eckelhaffte unbedeutende Zweydeutigkeit (GB 1 I, 240,21) in einem Brief Gotters und spottete – ähnlich wie im Fall der Brüder Jacobi (vgl. zu 55,17–18; zu 75,17–18) – über sein gutes Herz (GB 1 I, 240,21–22). Auch im Brief an Charlotte Kestner vom 27. August 1774 heißt es nach einem Besuch Gotters in Frankfurt nicht ohne Ironie: Vorgestern war Gotter da, 〈…〉 ist immer gut, u. sehr kranck (118,22–24). Ende 1774 bot Goethe dem sprachkundigen Gotter die Übersetzung von Lavaters „Physiognomischen Fragmenten“ ins Französische an, erhielt jedoch eine Absage (vgl. 146,18–19 und die einleitende Erläuterung zu Nr 178). Es folgten einige weitere persönliche Begegnungen in Gotha und Weimar. Über das Zusammentreffen in Gotha (in der letzten Dezemberwoche 1775), das „kaum eine Viertelstunde“ dauerte, schreibt Gotter am 2. Januar 1776 an Jakob Michael Reinhold Lenz, seinerseits mit dezenter Distanzierung: „Er 〈Goethe〉 weiß noch nicht, wie lang er in Weimar bleiben wird, wo er den Günstling in bester Form und Ordnung spielt und den ihm eignen vertraulichen, nachlässigen, hingeworfnen Ton überall eingeführt hat.“ (Bode 1, 155.)

Der vorliegende Gedichtbrief ist der einzige überlieferte Brief Goethes an Gotter; ebenso ist dessen Antwort der einzige überlieferte Brief Gotters an Goethe. Dass der Briefwechsel umfangreicher gewesen sein muss und bereits im Jahr zuvor begonnen hatte, belegen Hinweise auf nicht überlieferte Briefe Goethes an Gotter (vgl. EB 51, EB 198 sowie GB 1 I, EB 27). Beide überlieferten Briefe bestehen aus Knittelversen, die Goethe seit seiner Beschäftigung mit Hans Sachs, spätestens im Herbst oder Winter 1772 (vgl. seine Stammbucheintragung für Johann Jakob Heß vom 26. April 1773; DjG​3 3, 80), wiederholt verwendete (vgl. zu 11,26 –12,20), nicht nur in Briefen (vgl. z. B. die Briefe an Merck, Nr 165, 166 und 177), sondern auch in Farcen und Satiren (Jahrmarktsfest zu Plundersweilern, Fastnachtsspiel 〈…〉 vom Pater Brey). Goethes Knittelvers im vorliegenden Brief ist ein Vers mit vier Hebungen, Paarreim und freier Taktfüllung, die in Gotters Antwortbrief regelmäßiger gehalten ist. Mit der Altertümlichkeit von Vers und Sprache knüpft Goethe an die Rittertafel in Wetzlar an.

Schicke Dir 〈…〉 Götzen.] Goethe übersandte ein Exemplar des Erstdrucks von „Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand“ (vgl. zu 32,22).

Götzen] Akkusativform, die mit Blick auf die Heilgen in Vers 2 doppeldeutig gemeint sein dürfte.

deinen Heilgen] Französische Dramen, die einer anderen ‚Konfession‘ angehörten als der in shakepearescher Manier daherkommende altdeutsche Götz.

die Zahl / Der ungeblätterten] ‚Blättern‘ hier: „In Gestalt dünner Blätter von einander theilen.“ (Adelung 1, 1051.) – Gemeint ist: die Zahl der unaufgeschnittenen, also nicht gelesenen Bücher.

Magst 〈…〉 Commödia] Gotter war Leiter eines Liebhabertheaters in Gotha (vgl. die einleitende Erläuterung).

Agiren] Hier: als Schauspieler auftreten, spielen (vgl. GWb 1, 287).

tragiren] Eine Tragödie spielen (vgl. Grimm 11 I 1, 1141).

Commödia] Im 18. Jahrhundert auch in weitester Bedeutung ‚Schauspiel‘.

Hof und Herrn] In Gotha regierte seit 1772 Herzog Ernst II. Ludwig von Sachsen-Gotha-Altenburg.

Geschwäz] Hier ist der Rollentext eines Schauspielers gemeint.

nimm den Weisling] Gemeint ist, Gotter solle die Rolle des Weislingen übernehmen.

Pumphos] Eine „weitbauschige oberschenkelhose“ (Grimm 7, 2232).

Spada] Span. espada: Degen.

Weitnaslöchern] Kennzeichen adligen Hochmuts (vgl. Götz von Berlichingen V 1 [DjG​3 3, 276]; Die Leiden des jungen Werthers, 2. Teil, Brief vom 15. März; DjG​3 4, 151).

Stüzleinbart] Das „Deutsche Wörterbuch“ deutet das Wort an vorliegender Stelle als „stummelbart“ (Grimm 10 IV, 800), wie ‚Stutzbart‘: „kurz geschnittener schnurrbart“ (Grimm 10 IV, 741).

Must alle garst'ge Worte lindern] Gotter unterläuft in seiner Antwort den Spott, indem er ganz auf den ironischen Ton Goethes eingeht und die Vorliebe des Gothaer Publikums fürs französische Theater karikiert. Im Übrigen hat Goethe selbst bei der Überarbeitung des „Götz“ für die Ausgabe von 1787 die Regeln der Dezenz stärker beachtet als in der Erstausgabe.

Wie du's wohl ehmals schon getahn] Ob sich dies auf eine entsprechende Kritik Gotters an der ersten Fassung des „Götz“ bezieht, ist ungewiss. Sicher ist, dass Gotter Goethes mündliche Ausdrucksweise unfein fand (vgl. die einleitende Erläuterung).


Vermutlich noch im Juni 1773 bestätigte Gotter den Erhalt von Goethes Brief und Sendung in einer gleichfalls in Versform abgefassten Antwort (vgl. RA 1, 51, Nr 8), von der sich eine Abschrift August Wilhelm Schlegels erhalten hat (h​3; vgl. Überlieferung):
Ich schon bis in den neunten Tag Am Röthlein hart darnieder lag, Wobei von Weiblein jung und zart, Wie Weislingen gepfleget ward, Als mir der Göz zu Händen kam, Den alsobald ein Mägdlein nahm, Und mir, weil selbst nicht lesen sollt, Mit süßer Stimme lesen wollt. Als aber kaum das Werk begann, Sie wider einen Scheiskerl rann, Und wurde flugs wie Scharlach roth, Drob ich mich lachen thät halb todt. Sie ließ sich drum nicht schrecken ab, Marien sie gut Zeugniß gab, Auch Gözens Hausfrau liebgewann, Die ihrem rauhen Panzermann Stets unbedingt Gehorsam leist, Was man an Luthers Käth nicht preist. Die Adelheid nicht konnt ausstehn, Doch Georgen gern hätt leben sehn, Auch Weißlingen ein besser End Aus Christenliebe hätt gegönnt. Den Gözen nicht genug verstand, Ihn etwas Donquixottisch fand. Dafür soll sie verurtheilt seyn Des kleinen Jacobs Liedelein Und Kolbles frommes Judenkind Straks herzubeten für ihre Sünd. Ob aber gleich gesonnen wär Den Göz zu spielen zu deiner Ehr, Auch einen Bub, der rüstig ist, Von Schweizer Blut, für Gözen wüßt; So thut mir doch im Kopf rum gehn Wo ich die Thäler und die Höhn, Die Wälder, Wiesen und Moräst, Die Warten und die Schlösser fest, Und Bambergs Bischoffs Zimmer fein, Und des Thurmwärters Gärtlein klein, Soll nehmen her und so staffier, Daß Hokuspokus! all changier. Auch möchte gar wen graun, daß nicht Der Reuter seine Noth verricht Und Göz dem Feind zum Schur und Graus Steck seinen Ars zum Fenster raus. Das Weibsbild hier gar körrisch ist, Weil's Tag und Nacht französisch liest. Das Mannsvolk, in Paris gewest, Nur das Theatrum hält fürs best Wo alles züchtiglich geschicht, Und alles in Sentenzen spricht. Drum lass Dir nur die Lust vergehn Bei ihnen in der Gnad zu stehn. Nimm denn mit meinem Dank vorlieb! Was dich den Göz zu schreiben trieb Das zwickt auch mich so lange bis Ich mich vom Bösen blenden ließ. Da hast du die Epistel mein, Sollts was für deine Mädel seyn, So freute doppelt mich der Spaß. Ich liebe dich ohn Unterlaß, Und weiß nicht, was in deinem Stil Der Weltfreund neulich sagen will. Schrieb ich gleich nicht in langer Frist Du mir doch stets im Sinne bist, Bald schlendr' ich so nach Weilburg mit, Und bald nach Gießen zu dem Schmid. Du nächstens im Merkurius Was finden wirst von meiner Mus', Und wünschete von Herzensgrund Daß dir der Dreck gefallen kunnt. Schick mir dafür den Doktor Faust, Sobald dein Kopf ihn ausgebraust!

Gotter.
2 Röthlein] Röteln (vgl. Grimm 8, 1305). 3–4 von Weiblein 〈…〉 gepfleget] Vermutlich sind Gotters Schwestern oder Stiefschwestern gemeint. Eine von diesen könnte auch das „Mägdlein“ gewesen sein, das ihm den „Götz“ vorlas (vgl. 6–8). 14 Marien] Götz' Schwester. 18 Luthers Käth] Katharina Luther geb. von Bora. 26 Des kleinen Jacobs Liedelein] Vielleicht sind ganz allgemein Lieder für kleine Kinder gemeint, als Gegensatz zum derben „Götz“. In der Fassung von Gotters Gedichtbrief, den die „Zeitung für die elegante Welt“ (Nr 97 vom 22. Mai 1837, S. 385 f.) abdruckt, heißt es: „Des Herrn Jacobi's Liedelein“. Damit bezieht sich der Herausgeber Theodor Creizenach wohl auf einen der Brüder Jacobi, vermutlich auf Johann Georg, und seine frommen Gedichte (vgl. DjG​3 3, 422). 27 Kolbles frommes Judenkind] In der „Zeitung für die elegante Welt“ heißt es: „Köbler's frommes Judenkind“. Gemeint ist die von Johann Balthasar Kölbele herausgegebene fiktive Autobiographie: Die Begebenheiten der Jungfer Meyern eines Jüdischen Frauenzimmers von ihr selbst beschrieben. Frankfurt a. M. 2 Tle. 1765. 31 einen Bub] Es wird vermutet, es sei Gotters Freund, der junge Arzt Friedrich Gabriel Sulzer, gemeint (vgl. H. A. O. Reichard. [1751–1828.] Seine Selbstbiographie überarbeitet und hrsg. von Hermann Uhde. Stuttgart 1877, S. 99). 38 des Thurmwärters Gärtlein] Mit Bezug auf den 5. Akt von „Götz von Berlichingen“ (vgl. DjG​3 3, 295). 40 changier] Franz. changer: vertauschen, wechseln, verändern; hier zu beziehen auf den vielfachen Orts- und Szenenwechsel im „Götz“. 42 Der Reuter seine Noth verricht] Mit Bezug auf den 3. Akt von „Götz von Berlichingen“ (vgl. DjG​3 3, 241; 1. Fassung: DjG​3 2, 157). 43 Schur] Eigentlich Femininum: „schererei, plage, ärger, verdrusz, unannehmlichkeit, absichtliche kränkung, schabernack, possen“ (Grimm 9, 2030). 45 körrisch] Körisch: „wählig“ (Grimm 5, 1810), ein in der mitteldeutschen und niederdeutschen Volkssprache vorkommendes Wort (vgl. ebd.) in der Bedeutung von ‚wählerisch‘ (von mhd. koren: wählen). – Die auch dem Kontext nach irrtümliche Lesung in der „Zeitung für die elegante Welt“ lautet: „störrisch“. 62 Weltfreund] Nicht ermittelt. 65 Weilburg] Stadt an der Lahn (etwa 25 km flussabwärts von Wetzlar). 66 nach Gießen zu dem Schmid] Gemeint ist Christian Heinrich Schmid, Professor der Beredsamkeit und Dichtkunst in Gießen, Herausgeber des Leipziger „Almanachs der deutschen Musen“ (auf das Jahr 1770 bis 1781). Gotter und Boie waren bei Erscheinen des ersten Jahrgangs entrüstet darüber, dass ohne ihre Erlaubnis Gedichte von Gotter und anderen aus dem (noch nicht erschienenen) Göttinger „Musen Almanach“ abgedruckt waren. Dieser „Diebstahl“ (Weinhold, 237) war dadurch möglich geworden, dass Boie Druckbogen des Almanachs in falsche Hände hatte geraten lassen (vgl. im Einzelnen Weinhold, 234–243). Goethe hatte Schmid im August 1772 persönlich kennen gelernt, als er sich mit Merck, Schlosser und wahrscheinlich auch mit Gotter in Gießen traf (vgl. AA DuW 1, 451 f. [12. Buch]); vgl. auch Goethes derbe Anspielung auf Schmid im Brief an Johann Christian Kestner vom 25. Dezember 1772 (GB 1 I, 252,23). 67 Merkurius] Im Juli-Heft 1773 von Wielands „Teutschem Merkur“ erschien Gotters „Epistel über die Starkgeisterey“ (vgl. die einleitende Erläuterung). 71 Doktor Faust] Gotter wird von Goethes Plan eines Faust-Dramas in Wetzlar gehört haben. Wann erste Niederschriften vorgenommen wurden, ist umstritten, nach DjG​3 5, 467 bereits im Winter 1771/72.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 44 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR044_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 33–34, Nr 44 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 78–87, Nr 44 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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