Goethes Briefe: GB 2, Nr. 42
An Johann Christian Kestner

〈Frankfurt a. M. , etwa 12. Juni 1773〉 → 〈Hannover über Wetzlar〉


Euer Brief hat mich ergötzt, ich wusste Durch Hansen schon manches von euch. Heute Nacht hat mirs von Lotten wunderlich geträumt. Ich führte sie am Arm durch die Allee, und alle Leute ​1 blieben stehn und sahn sie an, Ich kann noch einige nennen ​2 die stehen blieben und uns nachsahen. Auf einmal zog sie eine Calesche über und die Leute waren sehr betreten |:Das kommt von Hansens Briefe der mir die Geschichte von Minden schrieb:| Ich bat sie sie mögte sie doch zurückschlagen das that sie. Und sah mich an mit den Augen, ihr wisst ia wies einem ist wenn sie einen ansieht. Wir gingen geschwind. Die Leute sahen wie vorher. O Lotte sagt ich zu ihr, Lotte dass sie nur nicht erfahren dass du eines andern Frau bist. Wir kamen zu einem Tanzplaz pp. /

Und so träum ich denn und gängle durchs Leben, führe garstige Prozesse schreibe Dramata, und Romanen und dergleichen. Zeichne und poussire und treibe es so geschwind es gehn will. Und ihr seyd geseegnet wie der Mann der den Herren fürchtet. Von mir sagen die Leute der Fluch Cains läge auf mir. Keinen Bruder hab ich erschlagen! Und ich dencke die Leute sind Narren.    Da hast du lieber Kestner ein Stück Arbeit das lies deinem Weiblein vor, wenn ihr euch sammlet in Gott und euch und die Tühren zuschliesst. Nota Bene. die Frau Archivarius |:ich hoffe das ist der rechte Titel:| wird hoffentlich ihr blaugestrieftes Nachtjäckgen nicht etwa aus leidigem Hochmuth zurückgelassen, oder es einer kleinen Schwester geschenckt / haben, es sollte mich sehr verdriessen, denn es scheint ich habe es fast lieber als sie selbst wenigstens erscheint mir offt das Jäckgen wenn ihre Gesichtszuge sich aus dem Nebel der Immagination ​3 nicht losmachen Können ​4.

  1. l​Leute​ ↑
  2. ste nennen​ ↑
  3. Iü​mmagination​ ↑
  4. k​Können​ ↑

Die Datierung folgt dem Empfangsvermerk in Verbindung mit den Bitten in den Briefen an Hans Buff etwa vom 12. Juni 1773 (Nr 43; vgl. 33,1–2) und von Mitte Juli 1773 (Nr 49; vgl. 37,22), wonach der vorliegende Brief ein Beischluss zu Nr 43 war und zunächst nach Wetzlar gesandt wurde, von wo aus ihn Hans Buff weiterbeförderte. Die Post von Frankfurt nach Wetzlar brauchte gewöhnlich einen Tag (vgl. GB 1 II, Datum und Überlieferung zu Nr 124), die von Wetzlar in das etwa 320 km entfernte Hannover etwa vier Tage (vgl. Datierung zu Nr 39). Möglicherweise wurde der Brief in Wetzlar nicht gleich am Ankunftstag weiterbefördert, so dass als Datierung etwa der 12. Juni in Frage kommt.

H: GSA Weimar, Sign.: 29/264,I,2, Bl. 41–42. – Doppelblatt 11,4 × 18,5 cm, 2 ¼ S. beschr., egh., Tinte; S. 1 oben links Empfangsvermerk, Tinte: „Acc. circa 18. Jun. 73.“, danach von fremder Hd, Bleistift: „in Hannover“. – Beischluss zu Nr 43 (vgl. zu 33,1–2).

E: Goethe und Werther​1 (1854), 169 f., Nr 76.

WA IV 2 (1887), 91 f., Nr 157 (Textkorrektur in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 207).

1 Exemplar des „Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel. 1773“ (vgl. zu 32,22).

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Kestners (vgl. 32,4). – Der Antwortbrief (vgl. zu 36,10–11) ist nicht überliefert.

Euer Brief hat mich ergötzt] Der nicht überlieferte Bezugsbrief Kestners war der erste Brief an Goethe nach dem Weggang aus Wetzlar.

Durch Hansen schon manches von euch] Vgl. zu 33,1.

wunderlich] Wohl im Sinne von ‚wunderbar‘.

Calesche] Eigentlich: leichter offener Reisewagen, hier frankfurterisch für ‚Kapuze‘. Im Rheinländischen wurde auch ein kleiner Mantel damit bezeichnet (vgl. Grimm 5, 63 f.).

die Geschichte von Minden] Offenbar hatte Hans Buff in einem nicht überlieferten Brief an Goethe von einem Reiseerlebnis Charlotte Kestners in Minden berichtet.

gängle] Gängeln: hier metaphorisch: sich spielend, ziellos bewegen (vgl. GWb 3, 1077).

garstige Prozesse] Garstig: unerfreulich, lästig (vgl. GWb 3, 1098). – Im Juni 1773 führte Goethe u. a. den Prozess des Buchhändlers und Lotterieeinnehmers Friedrich Christian Kochendörffer um einen Lotteriegewinn von 12 Gulden (vgl. DjG​3 3, 381–384) sowie den Prozess Johan Henrich Rügers um eine überforderte Schreinermeisterrechnung (vgl. DjG​3 3, 384–389; zu Goethes Anwaltstätigkeit insgesamt vgl. Georg Ludwig Kriegk: Deutsche Kulturbilder aus dem 18. Jahrhundert. Nebst einem Anhang: Goethe als Rechtsanwalt. Leipzig 1874).

Dramata] Gemeint sein könnten „Satyros oder der vergötterte Waldteufel“, der vermutlich zwischen Mai und September 1773 entstand (vgl. DjG​3 3, 463 f.), und Szenen der frühen Fassung des „Faust“ (vgl. Helgard Reich: Die Entstehung der ersten fünf Szenen des Goetheschen ‚Urfaust‘. München 1968, S. 120–124), möglicherweise auch schon die dramatische Prometheus-Dichtung.

Romanen] Nicht ermittelt; ob Goethe hier bereits an den „Werther“ dachte, ist fraglich (vgl. zu 42,23); nicht belegen lässt sich Fischer-Lambergs Vermutung, dass Goethe seine Arbeit an dem Fragment „Arianne an Wetty“, das in der Straßburger Zeit entstand, wieder aufgenommen hat (vgl. Hanna Fischer-Lamberg: Die Datierung des Goetheschen Romanfragments „Arianne an Wetty“. In: GJb N. F. 17 [1955], 246–253; zur Datierung von „Arianne an Wetty“ vgl. GB 1 II, einleitende Erläuterung zu Z 1).

Zeichne 〈…〉 gehn will.] Die Selbstdarstellung als bildender Künstler, insbesondere als Plastiker, könnte ein Hinweis auf Goethes Beschäftigung mit dem Prometheus-Mythos sein (vgl. zu 36,19–20).

poussire] Bossieren (von franz. bosse: Buckel, erhabene Arbeit): in Wachs oder Gips modellieren.

geseegnet wie der Mann der den Herren fürchtet] „Siehe, also wird gesegnet der Mann, der den Herrn fürchtet.“ (Psalm 128, 4; Luther-Bibel 1768 AT, 1160.)

der Fluch Cains] Anspielung auf den Fluch Gottes, dem Kain, der älteste Sohn Adams und Evas, nach dem Mord an seinem Bruder Abel verfällt: „Und nun verflucht seist du auf der Erden, die ihr Maul hat aufgethan, und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. / Wenn du den Akker bauen wirst, sol er dir fort sein Vermögen nicht geben; unstät und flüchtig solt du sein auf Erden 〈…〉.“ (1 Mose 4,11 f.; Luther-Bibel 1768 AT, 15.)

ein Stück Arbeit] In Verbindung mit Goethes nächstem Brief an Kestner (vgl. zu 36,17) kann nur der Erstdruck des „Götz“ gemeint sein. Goethe hatte die erste, nicht gedruckte Fassung, die nur einem kleinen Kreis von Freunden bekannt war, Anfang 1773 umgearbeitet (vgl. GB 1 II, zu 249,14–15); etwa im Februar/März 1773 hatte er sich gemeinsam mit Merck entschlossen, das Drama im Selbstverlag herauszubringen. Mitte Juni 1773 erschien es ohne Angabe des Verfassers unter dem veränderten Titel „Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel“ (vgl. Hagen, 102, Nr 46).

Frau Archivarius] Anspielung auf Kestners neues Amt als Registrator am Calenberger Archiv in Hannover, in das er am 5. Juni 1773 eingeführt worden war.

blaugestrieftes Nachtjäckgen] Gestrieft: von mundartlich ‚Striefe‘ für ‚Streifen‘ (vgl. Adelung 4, 450). Gemeint ist ein Hausjäckchen, d. h. ein kurzes, bequemes Kleidungsstück, das den Oberkörper und die Arme bedeckte (vgl. auch GB 1 I, 240,12).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 42 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR042_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 32, Nr 42 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 75–77, Nr 42 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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