Goethes Briefe: GB 2, Nr. 265
An Johann Caspar Lavater

〈Frankfurt a. M. , 27. September 1775. Mittwoch〉 → 〈Zürich〉


Zimmerm. ist fort, und ich bin biss zehn im Bette liegen blieben um einen Catharr auszubrüten, mehr. aber um die Empfindung häuslicher ​1 Innigkeit wieder in mir zu ​2 beleben, die das gottlose Geschwärmme der Tage her ganz zerflittert3 hatte. Vater und Mutter sind vors Bett gekommen, es ward vertraulicher diskurirt, ich hab meinen Thee getrunken und so ists besser. Ich hab wieder ein Wohngefühl in meinen vier Wänden wie lange es währt.

Z. und ich waren treffℓ. zusammen. du stellst dirs vor, und hätte vielerley zu sagen, wenn du nicht iederman meine Briefe wiesest. Es kan wohl deine Art seyn, auch unterhaltend ​4 für andre, aber ich kann nicht leiden dass meine Briefe einem Menschen das offenbaaren, dem ich den zehenten Theil davon nicht mündlich sagen würde.

Sein Betragen gegen dich, bleibt besser unentschuldigt, es ist besser dass einem so was unerklärlich bleibt. Ich hab ihn sehr drüber gepeinigt, ob er gleich mit ​5 einer sehr wizzigen Captat. benev. die Geschichte anfing. – Seine Tochter ist so in sich, nicht verriegelt nur zurückgetreten ist sie ​6, und hat die Thüre leis angelehnt. Eh würde sie ein leise lispelnder Liebhaber, als ein pochender Vater öffnen. – Es that ihm sehr weh dich so geängstet zu haben, und du guter es wird dir nicht das lezte mal so gegangen / seyn.

C'est le sort d'un amour extreme De faire toujours des ingrats.

Mir wird ie länger ie mehr das Treiben der Welt und der Herzen unbegreifflich. Einzelne Züge die sich überall gleichen, und doch nie dran zu dencken dass der grösste menschliche Kopf ein Ganzes der Menschen wirthschafft übersehen werde.

Schliesse wegen der Phisig. II Theil Ich bitte! bitte! Es wird warrlich sonst nichts. Neujahr ist gleich da! Besonders das erste Sokratische Capitel bald.

═══

Hab gestern ein bissgen über die vier Wahnsinnigen, und Brutus geklimpert. Bruder Bruder wie schweer ists das todte Kupfer zu beleben, wo der Charackter durch missverstandne Striche nur durchschimmert, und man immer schwanckt warum das ​was bedeutet und doch ​nichts bedeutet. Beym Leben wie anders. Schliese nur und schicke bald. denn es giebt der Zerstreuungen die Menge der Herz v. Weimar ist hier, wird nun bald Louisen davon tragen. Könntest mir nicht einen Storchschnabel schicken. Grüs Bäben, sie soll mir doch was über sich und dich schreiben! Ich bin schon seit 14 tagen ganz im Schauen der grosen Welt! – ——

Ist die Tafel raphaelischer Köpfe numerirt wie die Hogärthische

  1. häusle​icher​ ↑
  2. d​zu​ ↑
  3. g​zerflittert​ ↑
  4. ×​unte×​rhaltend​ ↑
  5. ein mit​ ↑
  6. ist s​sie (langes s aus Schluss-s)​ ↑

Aus dem Anfang des Briefes ergibt sich, dass er am Tag der Abreise Johann Georg Zimmermanns aus Frankfurt geschrieben wurde. Dies war der 27. September 1775, wie aus Zimmermanns Brief an Herder vom 3. November hervorgeht; dort berichtet er über seine Rückreise von Frankfurt nach Hannover und von einem Besuch „den 27. September in der Wetterau“ (Aus Herders Nachlaß 2, 350). Diese Gegend nördlich von Frankfurt erreichte Zimmermann bereits am Tag seines Aufbruchs. Zu diesem Datum passt, dass Goethe laut „Ausgabebüchlein“ unter dem 28. September einen Brief an Zimmermann und einen Brief an Lavater abgeschickt hat (vgl. AB, 16).

H: UB Leipzig, Slg Hirzel, Sign.: B 57. – 1 Bl. 11,3 × 19,2 cm, 2 S. beschr., egh., Tinte.

E​1: Goethe-Lavater​1 (1833), 9–11 (ohne den Text Schliesse 〈…〉 Capitel bald. [218,27–29], Schliese nur 〈…〉 denn [219,5–6] und Ist die 〈…〉 Hogärthische [219,11]).

E​2: Hirzel, Goethe-Bibliothek 1874, 183 (Teildruck: 218,1–3 Zimmerm. ist fort 〈…〉 zu beleben; 218,8–12 Z. und ich 〈…〉 sagen würde.).

E​3: DjG​1 3 (1875), 111 f.

WA IV 2 (1887), 296 f., Nr 357 (Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, WA IV 50 [1912], 213).

Ein Bezugs- und ein Antwortbrief sind nicht bekannt.

Postsendungen: 28. September 1775 (AB, 16).

Zimmerm. ist fort] Johann Georg Zimmermann hatte auf der Rückreise aus der Schweiz Goethe in Frankfurt besucht. Goethe schildert diesen Besuch im 15. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ (vgl. AA DuW 1, 538–542).

Geschwärmme] Mit Bezug auf Goethes Herumschwärmen auf Gesellschaften und Bällen in Offenbach und Frankfurt; vgl. die Schilderungen im Brief an Augusta zu Stolberg vom 14. bis 19. September (Nr 263).

zerflittert] Flittern: flattern (vgl. Grimm 3, 1807).

diskurirt] Diskurieren: „sich unterhalten, auch miteinander schwatzen“ (GWb 2, 1219).

Sein Betragen gegen dich] Zimmermann hatte sich in einem Brief vom 26. August bei Lavater in Zürich angekündigt (vgl. Goethe-Lavater​3, 396), dann aber von Bern aus, wo er Albrecht von Haller ärztlich behandelte, über Basel die Rückreise nach Deutschland angetreten, ohne den Weg über Zürich zu nehmen.

Captat. benev.] Lat. Captatio benevolentiae: Gewinn des Wohlwollens. Dieser Begriff aus der Rhetorik bezeichnet den Versuch eines Redners, sich zu Beginn seiner Rede einer affektiven Zustimmung der Zuhörer zu versichern.

Seine Tochter] Die fast 19-jährige Catharina; da Zimmermann sich nach dem Tod seiner Frau im Jahr 1770 nicht genügend um seine Kinder kümmern konnte, hatte er seine Tochter zunächst in die Obhut von Catharina Charlotte von Ompteda gegeben, der Hofmeisterin der dänischen Königin Caroline Mathilde (seit 1772 im Exil in Celle), 1773 dann ins Haus seines Freundes, des Arztes Samuel Auguste André David Tissot, in Lausanne. Catharina begleitete ihren Vater zurück nach Deutschland. Nach Goethes späterer Schilderung im 15. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ soll Catharina unter der Strenge ihres Vaters gelitten und bei Goethes Mutter um Aufnahme in deren Haus gebeten haben (vgl. AA DuW 1, 540). Die Zuverlässigkeit dieser Darstellung ist in der älteren Forschung wiederholt bestritten worden (vgl. u. a. Heinrich Düntzer: Frauenbilder aus Goethes Jugendzeit. Stuttgart und Tübingen 1852, S. 351–358). Zimmermann selbst erklärte die „gedrückte Stimmung und Stille“ seiner Tochter in Briefen an Lavater vom 28. Dezember 1775 und vom 26. April 1776 mit einer unglücklichen Liebesbeziehung, die sie in Lausanne angeknüpft habe (vgl. Goethe-Lavater​3, 398).

C'est le sort 〈…〉 ingrats.] Franz.: Es ist das Los einer außerordentlichen Liebe / Sich immer selbst Undankbare zu schaffen. – Die Herkunft des Zitats konnte nicht ermittelt werden.

Neujahr] Der Druck des 2. Bandes der „Physiognomischen Fragmente“ sollte offenbar am 1. Januar 1776 beginnen; Mitte Mai 1776 war er beendet (vgl. von der Hellen, 124).

das erste Sokratische Capitel] Das 8. Fragment des 2. Bandes: „Sokrates nach einem alten Marmor von Rubens“ (S. 64–70); als „Zweyte Zugabe“ dazu erschien eine weitere kurze Charakteristik: „Sokrates, neun Profilköpfe, Umrisse“ (S. 75–77).

die vier Wahnsinnigen] Gemeint ist die 3. Tafel („Vier Thorenköpfe, drey männliche, ein weiblicher“) zum 16. Fragment („Schwache, thörichte Menschen“) im 2. Band der „Physiognomischen Fragmente“ (S. 181–191, die Tafel zwischen S. 182 und 183; vgl. WA I 37, 378 f.). Nur die Charakteristik des ersten Kopfes stammt von Goethe (vgl. DjG​3 5, 371 f.). Vgl. von der Hellen, 171 f.

Brutus] Vgl. zu 211,25.

geklimpert] Klimpern: „nachlässig und ohne beruf arbeiten, pfuschen“ (Grimm 5, 1170).

der Herz 〈…〉 davon tragen] Carl August von Sachsen-Weimar und Eisenach hielt sich vom 20. bis 29. September 1775 in Frankfurt auf. Am 3. Oktober fand die Hochzeit mit Louise von Hessen-Darmstadt in Karlsruhe statt. Am 12. Oktober traf das Paar in Frankfurt ein und brach am Morgen des 14. Oktober nach Weimar auf, wo es am 17. Oktober feierlich empfangen wurde.

Storchschnabel] Auch Pantograph genannt: Zeichengerät zum Kopieren von Zeichnungen in vergrößertem oder verkleinertem Maßstab, besonders auch bei der Verkleinerung von Schattenrissen benutzt (vgl. zu 160,25).

Bäben] Barbara Schultheß; sie war mit Lavater befreundet.

sie soll 〈…〉 schreiben] Ein entsprechender Brief von Barbara Schultheß ist nicht überliefert.

Schauen der grosen Welt] Vgl. zu 218,3.

Ist die Tafel raphaelischer Köpfe numerirt wie die Hogärthische] Entsprechende Tafeln finden sich weder im 2. noch im 3. und 4. Band der „Physiognomischen Fragmente“ (vgl. von der Hellen, 187, Anm. 1). – Raffaelo Santi, italienischer Maler und Architekt. – William Hogarth, englischer Maler, Kupferstecher, Kunsttheoretiker und Karikaturist.

 

 
 

Nutzungsbedingungen

Kontrollen

Kontrast:
SW-Kontrastbild:
Helligkeit:

Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 265 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR265_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 218–219, Nr 265 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 545–547, Nr 265 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

Zurück zum Seitenanfang