Goethes Briefe: GB 2, Nr. 257
An Anna Louisa Karsch

Offenbach , Frankfurt a. M. , 17.–28. August 1775. Donnerstag–Montag → 〈Berlin〉


Ich treibe mich auf dem Land herum, liebe Frau um das Leid u. Freud ​1 was eben Gott iungen Herzen zu ihrem Theil geben hat, in freyer Lufft zu geniessen. Neulich lief ich einmal in die Stadt u. Griesb. brachte mir Ihren Brief. Es machte mir herzliche Freude dass Sie Ihre Feder so an mich lauffen liesen, und nun für Ihre Grüse und Freundlichkeit meinen danck. Ich wollte dass mir Ihre Tochter auch schrieb, wie und wenns ihr einkömmt, denn kein Spiegel ist das der Eitelkeit, was ein Brief, der von wunderbaaren Verhältnissen gedrängten Seele, ist, wenn sie drinn gleiche Stimmung horcht, und müde des ewigen Solo, mit Freüden pausirt, und dem freundlichen Mitspieler neue Wonne ablauscht.

Schicken Sie mir doch auch manchmal was aus dem Stegreife, mir ist alles lieb u. werth was treu u. starck aus dem Herzen kommt, mag's übrigens aussehn wie ein Igel oder wie ein Amor. Geschrieben habe ich ​allerley, gewissermassen ​wenig, und im Grunde ​nichts. Wir schöpfen den Schaum von dem grosen Strome der Menscheit mit unsern Kielen und bilden uns ein, wenigstens schwimmende Inseln gefangen zu haben. Von meiner Reise in die Schweiz hat die ganze Cirkulation meiner kleinen Individualität viel gewonnen. Vielleicht peitscht mich bald die unsichtbaare Geisel der Eumeniden, wieder aus meinem Vaterland, wahrscheinlich nicht nordwärts, ob ich gleich gern Lot und seine hausgenossen in euerm Sodom wohl einmal grüssen mögte. Addio. Offenbach am Mayn. dℓ. 17 Aug. 1775.

Goethe /


die Aufgabe von der Männer Schlappsinn unter gewissen Umständen, kann und darf ich heut nicht erörtern. die Ursachen liegen in dem Schreibtisch hier, dem Caffee Tisch dort, und der Figur dran im Neglischee die mir den Rücken kehrt und ihr Frühstück schlürpft – Heiliger Yorick, wolltest du aus deinen himmeln herüber sehen, und der guten Karschin die vernünftig herzliche Stimmung dieses Unsinns vorträumen denn du allein hättest Kopf und Herz dazu. – – – Nur eine klassische Stelle zur Erörterung: Les gens amoureux, sagt die superkluge Gemahlinn des unvergleichlichen Schah Bahams, ne dorment gueres, a moins qu'ils ne soit2 favorisés.

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Biss den 28 Aug ist dieses Brieflein liegen blieben. Nun noch einen guten Morgen und Adieu. Frfurt.

G.

  1. Freund​d​ ↑
  2. que lorsqu'ils sonta moins qu'ils ne soit​ ↑

Der Brief wurde am 17. August in Offenbach (vgl. 209,2) begonnen, an einem anderen Tag fortgesetzt und nach Verlauf einer weiteren Frist am 28. August in Frankfurt beendet (vgl. 209,15–16).

H: FDH/FGM Frankfurt a. M., Sign.: 15650. – Doppelblatt 11,2 × 18,7 cm, 1 ⅔ S. beschr., egh., Tinte. – Faksimiles: Stargardt-Katalog 559, Auktion am 27. November 1962, Tafel 98; Stargardt-Katalog 570, Auktion am 24. und 25. November 1964, Tafel 13 (jeweils ohne den Briefteil: die Aufgabe 〈…〉 G. [209,4–17]).

E: Aurikeln. Eine Blumengabe von deutschen Händen, herausgegeben von Helmina von Chezy, geb. Freyin von Klencke. Bd 1. Berlin 1818, S. 27 f.

WA IV 2 (1887), 281–283, Nr 348 (nach E; Textkorrekturen nach H in den „Lesarten“ [vgl. WA IV 2, 213] sowie in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 213).

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Anna Louisa Karschs (vgl. 208,11–13). – Anna Louise Karsch antwortete am 4. September 1775 (vgl. RA 1, 63, Nr 55).

Postsendungen: 29. August 1775 (AB, 14).

Anna Louisa Karsch geb. Dürbach (1722–1791), als ‚deutsche Sappho‘ bezeichnete Dichterin vor allem von Gelegenheitsgedichten, wurde auf einem Meiereihof zwischen Züllichau (heute Sulechów) und Krossen a. d. Oder (heute Krosno Odrzanskie) in Niederschlesien (heute Polen) als Tochter des Gastwirts und Brauers Christian Dürbach (gest. 1728) geboren, nach dessen Tod sie einige Jahre bei ihrem Großonkel Martin Fetke in Tirschtiegel (heute Trzciel) in der Nähe von Posen (heute Poznań) verbrachte. Nach Hause zurückgekehrt, arbeitete sie als Rinderhirtin und Magd. 1738 heiratete sie den Tuchweber Michael Hiersekorn und nach der Scheidung der Ehe 1749 den Schneider Daniel Karsch, einen Trinker, der auf Betreiben ihres Gönners, des Barons Rudolf Gotthard von Kottwitz, 1760 zum preußischen Militär eingezogen und damit von ihr entfernt wurde. Daraufhin wurde die Ehe als geschieden betrachtet. Öffentliche Aufmerksamkeit hatte Anna Louisa Karsch schon zuvor mit Gelegenheitsgedichten erregt, insbesondere mit panegyrischen Gedichten auf Friedrich II. Kottwitz verhalf ihr Anfang 1761 nach Berlin, wo sie von Ramler, Sulzer u. a., besonders aber von Gleim gefördert wurde, der ihr von Herbst 1761 bis Herbst 1762 einen Aufenthalt in Halberstadt und Magdeburg ermöglichte. Gleim besorgte auch die Veröffentlichung der „Auserlesenen Gedichte von Anna Louisa Karschin“ (Berlin 1764) auf Subskriptionsbasis, was der Verfasserin einen Gewinn einbrachte, von dem eine kleine Rente finanziert wurde. Darüber hinaus war sie auf private Spenden und den Ertrag ihrer schriftstellerischen Produktion (Gelegenheitsgedichte, Publikationen in Zeitschriften) angewiesen. Ihre Verehrung des preußischen Hofes kam ihr erst 1789 zugute, als Friedrich Wilhelm II. für sie ein kleines Haus in Berlin bauen ließ, in dem sie ihre letzten Lebensjahre verbrachte.

Die Initiative zu einer Korrespondenz mit dem fast 27 Jahre jüngeren Dichter des „Götz“ und des „Werther“ ging von Anna Louisa Karsch aus. Ihr erster Brief, auf den der vorliegende antwortet, stammt vermutlich ebenfalls aus dem August 1775. Karsch bewunderte Goethes Werke, insbesondere seine Dramen, deren Berliner Aufführungen sie, ausgestattet mit einer Freikarte für die Doebbelinsche Truppe, besuchte und in Briefen an Gleim kommentierte (vgl. ihre Briefe vom 4. November 1774, 18. Juli 1775, 3. Februar und 27. April 1776; in: Karsch-Gleim 2, 71, 81, 108 und 111). Umgekehrt dürfte Goethes Interesse an der im allgemeinen Literaturbetrieb kurios und original anmutenden Dichterin begrenzt gewesen sein. Jedenfalls ließ er nach Empfang des Antwortbriefes vom 4. September 1775 (vgl. DjG​2 6, 497–499, zu Nr 369) die Korrespondenz offenbar längere Zeit ruhen. Es sind nur zwei weitere Briefe Goethes an die Adressatin überliefert; sie stammen vom 11. September 1776 (WA IV 3, 104 f., Nr 508) und vom 18. Mai 1778 (WA IV 51, 50, Nr 703a). Anna Louisa Karsch ihrerseits wandte sich wiederholt an Goethe, u. a. mit für sie typischen „Versbrieffchen“ (Karsch an Gleim, 27. April 1776; Karsch-Gleim 2, 111), und beklagte sich über Goethes Schweigen (vgl. ebd.). Überliefert sind außer der Antwort auf den vorliegenden Brief allerdings nur vier weitere Briefe an Goethe (vgl. RA 1, 71, Nr 86, 87 und 88 sowie Ergänzungsbd zu den Bänden 1–5, 541, Nr 88+). Drei davon stammen aus der Zeit von Goethes Aufenthalt in Berlin vom 15. bis 23. Mai 1778; am 18. Mai kam es zur einzigen persönlichen Begegnung zwischen Anna Louisa Karsch und Goethe. – Vgl. Barbara Becker-Cantarino: Die „deutsche Sappho“ und „des Herzogs Spießgesell“. Anna Louisa Karsch und Goethe. In: Anna Louisa Karsch (1722–1791). Von schlesischer Kunst und Berliner „Natur“. Ergebnisse des Symposions zum 200. Todestag der Dichterin. Hrsg. von Anke Bennholdt-Thomsen und Anita Runge. Göttingen 1992, S. 110–131.

auf dem Land] Goethe hielt sich mit Anna Elisabeth Schönemann bei deren Verwandten und Freunden in Offenbach auf (vgl. zu 170,3).

die Stadt] Frankfurt.

Griesb.] Vermutlich Johann Jacob Griesbach, Studiengenosse Goethes in Leipzig, seit 1773 Theologieprofessor in Halle, Ende 1775 in Jena (vgl. Goethe's Werke. 〈…〉 Th. 23: Dichtung und Wahrheit. Mit Einleitung und Anmerkungen von G.〈ustav〉 von Loeper. Vierter Theil. Berlin 1877, S. 221 f.), oder dessen Vater Conrad Caspar Griesbach, Konsistorialrat und Prediger an der St. Peter-Kirche in Frankfurt.

Ihre Tochter] Caroline Louise Hempel geb. Karsch, ab 1782 von Klencke, Tochter von Anna Louise Karsch. Es ist kein Brief von ihr an Goethe überliefert, nur ein Brief Goethes an sie (vom 11. September 1776; WA IV 3, 105, Nr 509).

was aus dem Stegreife] Es dürften Proben der Stegreif- und Gelegenheitsgedichte gemeint sein, für die Anna Louisa Karsch bekannt war und die „als Sammelobjekte schon damals beliebt waren“ (Barbara Becker-Cantarino: Die „deutsche Sappho“, S. 112). Karsch teilte mit vielen ihrer Zeitgenossen auch die Vorliebe für launige Gedichtbriefe und lyrische Briefeinlagen.

schwimmende Inseln] Vielleicht Anspielung auf den Titel des Romans „Naufrage des isles flottantes, ou Basiliade du célèbre Pilpai“ (2 Bde. Messina [recte: Paris] 1753. – Untergang der schwimmenden Inseln oder Königsgesang vom berühmten Pilpai) von dem französischen Gesellschaftskritiker Étienne-Gabriel Morelly.

Reise in die Schweiz] Goethe hatte sie vom 14. Mai bis 22. Juli unternommen, u. a. wohl auch in der Absicht, Distanz zu Anna Elisabeth Schönemann zu gewinnen (vgl. zu 207,8).

Eumeniden] Wohlgesinnte (nach griech. εὐμενής: wohlwollend, freundlich), euphemistischer Name der Erinnyen, der antiken Rachegöttinnen, die mit schlangenbedeckten Häuptern und drohend geschwungenen Fackeln Frevler auf der Flucht verfolgen.

Vaterland] So wurde im 18. Jahrhundert im Deutschland der Kleinstaaten oft das engere Geburtsland (Fürstentum, Herzogtum, Reichsstadt) genannt; hier ist die Freie Reichsstadt Frankfurt gemeint.

nicht nordwärts] Zu ergänzen wäre: nicht nach Berlin, sondern südwärts nach Italien.

Lot und seine hausgenossen in euerm Sodom] Gemeint sind Anna Louisa Karsch und ihre Familie in Berlin. – Lot, Neffe Abrahams, und seine Familie wurden vom Herrn gerettet, als er die Städte Sodom und Gomorra der Sünden ihrer Bewohner wegen vernichtete (vgl. 1 Mose 18 f.). Schon im Brief an seine Schwester Cornelia vom 13. Oktober 1766 (GB 1 I, Nr 23) hatte Goethe Berlin als gottlosen Ort (GB 1 I, 68,20) bezeichnet.

der Männer Schlappsinn] In ihrem Antwortbrief vom 4. September greift Anna Louisa Karsch den Zusammenhang noch einmal auf: „Dank sei es meinem Geiste, der mich vor diesem Schlappsein, vor dieser schläfrigen Trägheit bewahrt. Ich kenne das häßliche Ding, das man bösen Humor nennt, nicht in mir; ich habe keine Sonderlingslaunen, 〈…〉 ich denke, der Vater des Ganzen wird's auch mit mir einzelnem Theil bis an's Ende gut machen.“ (DjG​2 6, 498 f., zu Nr 369.)

Figur] Anna Elisabeth Schönemann.

Yorick] Figur aus Lawrence Sternes Romanen „The life and opinions of Tristram Shandy“ (1759–1767) und „A sentimental journey through France and Italy by Mr. Yorick“ (1768), hinter der sich kaum verhüllt der Autor verbirgt. Der durch Frankreich reisende Yorick ist der Typus des ebenso naiven wie sensiblen ‚Narren‘.

Les gens 〈…〉 favorisés.] Franz.: Verliebte Leute schlafen kaum, sofern sie nicht begünstigt sind. – Das Zitat soll aus dem Roman „Le sopha, conte moral“ (Paris 1742) von Claude Prosper Jolyot de Crébillon stammen (vgl. u. a. Goethes Briefe. Ausgewählt und in chronologischer Folge mit Anmerkungen hrsg. von Eduard von der Hellen. Bd 1. Stuttgart und Berlin [1901], S. 215; DjG​2 6, 497, zu Nr 369; DjG​3 5, 545; auch noch FA/Goethe II 1, 979). In dem Roman versucht der Brahmane Amanzéi – in Anknüpfung an die Märchen von „Tausendundeiner Nacht“ – dem Sultan Schah Baham, welcher „ein ungebildeter, völlig verweichlichter Fürst“ ist, die Langeweile zu vertreiben, indem er erotische Geschichten aus seiner, des Brahmanen, früheren Existenz als Sofa erzählt. Des Sultans verständnislose Kommentare zu den erzählten Geschichten führen zu Streitgesprächen mit seiner Frau, in denen diese sich in spöttisch-kritischen Bemerkungen als die intellektuell Überlegene erweist; „um ihres Geistes willen bildete sie das Entzücken aller, die an einem so oberflächlichen Hof noch den Mut aufbrachten, selbständig zu denken und sich zu bilden.“ (Zitate aus: Crébillon der Jüngere: Das Gesamtwerk in acht Bänden. Hrsg. und eingeleitet von Erich Loos. 〈…〉 Von Erika Höhnisch, Eva Rechel-Mertens und Ernst Sander ins Deutsche übertragen. 〈…〉 Bd 3. Berlin 1968, S. 178 und 179.) Obwohl der Kontext im vorliegenden Brief auf Crébillons Roman hinweist, konnte das Zitat selbst nicht nachgewiesen werden.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 257 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR257_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 208–209, Nr 257 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 524–527, Nr 257 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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