Goethes Briefe: GB 2, Nr. 254
An Johann Caspar Lavater

Offenbach , 〈3.〉 und 4. August 〈1775. Donnerstag und Freitag〉 → 〈Zürich〉


Louisens Portrait von Melling das ich für dich in Händen habe ​1, sollst ehstens kriegen. ich ​2 hab ihr geschrieben. das Gedicht an Sie ist das beste was du ie gemacht ​3 hast. Noch einige kalte Bäder und etwas roborantia und du bist ein unverbesserlicher Bruder.

Gott seegne deinen Buben dein Weib und alles.

Mein Vater macht ihr eine Galanterie in die Wochen, nehmts freundlich auf.

Schick Stella gleich an Lenz. Oder lass Pass dafür sorgen. Ehstens was für die Phisiogn.4 Schick mir doch auch. Ich sizze in Offenbach, wo freylich Lili ist. Ich hab sie von dir gegrüst. Ich schicke dir ehstens Ihr Silhouette weiblich. Mach ihr etwas in Versen. das sie im guten stärcke und erhalte. / Du kannst guts thun und du willst.


Gestern waren wir ausgeritten, Lili, D'orwille und ich, du solltest den Engel im Reitkleide zu Pferd sehn!

In Oberrad wartete die übrige Gesellschafft auf uns, und ein Gewitter trieb die alte Fürstin von Waldeck mit ihren Töchtern der Herz. v. Curland und der Fürstin ​5 von Usingen in unser haus und ​6 Saal. Da sie mich erkannten wurde ​7 gleich viel nach dir gefragt, und die alte Fürstin hat mit solcher Wahrheit und Wärme von dir geredt dass ​8 mir's wohl wurde. Sie sagte wenn ihm heut die Ohren nicht klingeln9, so halt ich nicht viel auf seine Ahndungskrafft, an uns liegt die Schuld nicht! Sie lässt dich / herzlich grüsen.

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Lili grüst dich auch! ​10

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Und mir wird Gott gnädig seyn Nota Bene ich bin eine Zeit her wieder fromm, habe meine Lust an dem Herrn, und sing ihm Psalmen davon du ehstens eine Schwingung haben sollst Ade. ═══ Ich bin sehr aufgespannt fast zu sagen

​über

doch wollt ich du wärst mit mir denn da ist wohl seyn in meiner Nachbaarschafft.

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Wie stehts ​11 mit dem Catalog der Predigten schickst du mir bald ein duzzend büchelgen mit Texten und Thematen bezeichnet.

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Schreibe doch dir auf was du wolltest dass ich für dich sähe. wenn ich nach Italien ging.

  1. haben​ ↑
  2. Schick ich​ ↑
  3. gemachst​t​ ↑
  4. P|h|isiogn.​ ↑
  5. f​Fürstin​ ↑
  6. haus um​nd​ ↑
  7. ×​wurde​ ↑
  8. das​ss​ ↑
  9. k×​lingeln​ ↑
  10. auch.​!​ ↑
  11. ste|h|ts​ ↑

Der Brief wurde an zwei verschiedenen Tagen geschrieben. Dass sich die Angabe dℓ. 4. Aug. (206,11) über dem zweiten Briefteil auf das Jahr 1775 bezieht, geht aus dem Inhalt des Briefes hervor. Der erste Briefteil mit dem Hinweis Ich sizze in Offenbach (206,7) stammt vom Tag zuvor, denn laut „Ausgabebüchlein“ war Goethe erst an diesem Tag nach Offenbach gekommen (Eintrag unter dem 3. August 1775; vgl. AB, 11).

H: UB Leipzig, Slg Hirzel, Sign.: B 54. – Doppelblatt 11,8 × 18,8 cm, 3 S. beschr., egh., Tinte.

E: Goethe-Lavater​1 (1833), 12–14, Nr 4.

WA IV 2 (1887), 276–278, Nr 344.

Der Brief beantwortet Lavaters Brief vom 29. Juli 1775 (vgl. RA 1, 62, Nr 51; Goethe-Lavater​3, 48 f., Nr 33). – Lavater antwortete am 1. September 1775 (vgl. RA 1, 63, Nr 54; Goethe-Lavater​3, 51–54, Nr 35).

Postsendungen: 4. August 1775 (AB, 12).

Louisens Portrait von Melling] Das Porträt der Prinzessin Louise von Hessen-Darmstadt, ein Brustbild, gestochen von Johann Heinrich Lips nach einer Zeichnung des Karlsruher Hofmalers Josef Melling, erschien im 3. Band der „Physiognomischen Fragmente“ Lavaters (zwischen S. 326 und 327).

sollst ehstens kriegen] Wann Goethe die Zeichnung schickte, geht aus dem Briefwechsel nicht hervor.

ich hab ihr geschrieben] Der nach dem „Ausgabebüchlein“ am 3. August abgesandte Brief ist nicht überliefert (vgl. auch EB 156).

das Gedicht an Sie] Lavater hatte mit dem Bezugsbrief Goethe sein Gedicht „An Louise“ geschickt (H: ThHStA). Es erschien, überarbeitet und unter dem Titel „An Theona. Den neun und zwanzigsten Julius 1775“, im 2. Band von Lavaters „Poesieen“ (Leipzig 1781, S. 95 f.).

kalte Bäder] Als nützliche Wirkung kalter Bäder wurde die Abhärtung der Haut betrachtet (vgl. Ersch/Gruber I 7, 55). Allgemein galt: „Der mäßige, wohlthätige Reiz der Kälte wirkt belebend, stärkend auf den ganzen Organismus und die Selenthätigkeit 〈sic〉.“ (Ebd., 56.)

roborantia] Stärkungsmittel (lat. roborare: stärken).

deinen Buben] Lavaters Sohn David war am 28. Juli geboren worden; dies hatte Lavater im Bezugsbrief mitgeteilt.

dein Weib] Anna Lavater geb. Schinz.

Mein Vater] Johann Caspar Goethe.

Galanterie] Hier: ein „kleines Geschenk an ein Frauenzimmer“ (Schweizer 1, 320).

Wochen] Verkürzt für ‚Kindbett‘ oder ‚Wochenbett‘, das Frauen nach der Entbindung sechs Wochen lang hüten mussten.

Stella] Vermutlich hatte Goethe ein Manuskript der „Stella“ auf seiner Schweizer Reise mitgeführt und es bei Lavater zurückgelassen.

Lenz] Jakob Michael Reinhold Lenz; er hielt sich in Straßburg auf.

Pass] Jacob Ludwig Passavant.

die Phisiogn.] Lavaters „Physiognomische Fragmente“; über den Beginn der Arbeit am 2. Band berichtet Lavater im Antwortbrief.

Lili] Anna Elisabeth Schönemann, seit April Goethes inoffizielle Verlobte.

Ich hab sie von dir gegrüst.] Darum hatte Lavater im Bezugsbrief gebeten.

Ich schicke dir ehstens] Vielleicht am 5. September (vgl. EB 190).

Ihr Silhouette] Gemeint ist ‚Ihre‘ Silhouette; Schreibversehen. – Dieser angekündigte Schattenriss Anna Elisabeth Schönemanns ist nicht überliefert, auch in den „Physiognomischen Fragmenten“ nicht abgedruckt.

D'orwille] Jean George d'Orville, Cousin von Anna Elisabeth Schönemann (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 223).

Oberrad] Dorf, 4 km östlich vom Stadtzentrum Frankfurts auf der südlichen Mainseite gelegen.

alte Fürstin von Waldeck] Christiane Fürstin von Waldeck geb. Prinzessin von Zweibrücken-Birkenfeld.

ihren Töchtern] Caroline von Curland geb. Prinzessin von Waldeck und Louise von Nassau-Usingen geb. Prinzessin von Waldeck.

die Ohren nicht klingeln] ‚Klingeln der Ohren‘ hier wohl als Symptom telepathischer Kräfte.

Ahndungskrafft] Ironische Anspielung auf Lavaters Glauben an die mediale Veranlagung von Menschen, welchen er die Fähigkeit zutraute, Kontakte zu Verstorbenen herzustellen, in die Zukunft zu sehen oder auf andere Weise telepathische Kräfte zu entfalten, was schon Zeitgenossen zu satirischer Kritik veranlasste.

fromm] Hier im Sinn von „,Gott lobpreisend, Gott dankend‘“ (Günter Niggl: „Fromm“ bei Goethe. Eine Wortmonographie. Tübingen 1967, S. 119).

Lust an dem Herrn] In der Diktion der Bibel; vgl. u. a. Jesaja 58,14.

sing ihm Psalmen] Vermutlich meint Goethe seine Übertragung „Das Hohelied Salomons“ oder auch die Parabeln „Salomons Königs von Israel und Juda güldne Worte von der Ceder biss zum Issop“ (DjG​3 5, 357–359, 360–365). – Psalmen (griech. ψαλμός: zum Saitenspiel vorgetragenes Lied) sind alttestamentarische (Lob-)Gesänge, gesammelt im Lieder- und Gebetbuch des Psalters.

davon du ehstens eine Schwingung haben sollst] Möglicherweise schickte Goethe am 5. September ein Manuskript an Lavater (vgl. EB 190).

Schwingung] Unter Anspielung auf die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs ‚Psalmen‘ (vgl. dritte Erläuterung zu 206,26).

aufgespannt] Angespannt; ähnlich im „Werther“ (vgl. DjG​3 4, 141 [1. Buch, Brief vom 30. August]; 2. Fassung: WA I 19, 79).

Catalog der Predigten] Lavater teilte im Antwortbrief mit, er bereite eine Predigt über das 17. Kapitel des Johannes-Evangeliums vor (Abschiedsgebet Jesu vor seinem Tod), und bat Goethe um Anregungen.

büchelgen mit Texten] Lavater kündigte in seiner Antwort die Übersendung eines solchen an; Näheres ist nicht bekannt.

Thematen] Plural zu ‚Thema‘ nach griech. θέμα (θέματα), lat. thema (themata).

wenn ich nach Italien ging.] Vom Wunsch, nach Italien zu reisen, ist auch in Nr 256 die Rede (vgl. 208,1–3). Goethe brach am 30. September auf, wurde jedoch am 3. November von Boten des Herzogs Carl August eingeholt und ging mit ihnen nach Weimar.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 254 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR254_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 205–207, Nr 254 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 518–521, Nr 254 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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