Goethes Briefe: GB 2, Nr. 252
An Sophie La Roche

〈Frankfurt a. M. 〉, 1. August 1775. Dienstag → 〈Ehrenbreitstein bei Koblenz〉

〈Abschrift〉


Gestern Abend l Mama haben wir gefiedelt und gedudelt bey der guten Max: Ich danke für Ihren Brief. auch für den ersten durch Falmern, ich hab ihn richtig erhalten. Ihre Briefe sind hier dankbar zurük. Es ist doch immer eine freundliche Zuflucht das ​weise Papier, im Augenblick der Noth ein wahrer theilnehmender Freund, der uns durch keine wiedrige Ecken des Charackters zurückstöst, wie mans wohl offt just in den Stunden erfährt, da man am wenigsten so berührt werden mögte. Daß Sie meine Stella so lieb haben ist mir unendlich werth, lassen Sie sich sie von Friz geben. Es ist nicht ein Stück für jedermann. Wie stehn Sie mit Lenz? Ich weiß kein wort von. er hat mir Ihre Briefe nicht sehn lassen, mir scheint als wen Sie mit dem Originalgen nicht gut zu rehte kämen. Er wälzt sein sein Tönngen mit viel Inigkeit und Treue. Adieu grüsen Sie Hrn v. Hohenfeld! einen Empfehl von Crespel der Sie herzlich liebt und Schäzt. Schreiben sie mir bald. dℓ 1. Aug 1775

G.

H: Verbleib unbekannt.

h​1: The Pierpont Morgan Library, New York, Misc. Heineman, H Goethe-Bettina, MSS 1. – Abschrift von Bettine Brentano vom 2. oder 3. Juni 1806 (= h​a; vgl. Vorbemerkung in der Überlieferung zu Nr 47).

h​2: The Pierpont Morgan Library, New York, Misc. Heineman, H Goethe-Bettina, MSS 1. – Abschrift von Bettine Brentano (= h​b; vgl. Vorbemerkung in der Überlieferung zu Nr 47).

h​3: FDH/FGM Frankfurt a. M., Sign.: 10721–10732. – Abschrift von Johann Friedrich (Fritz) Schlosser (= h​c; vgl. Vorbemerkung in der Überlieferung zu Nr 47).

h​4: GSA Weimar, Sign.: 29/294,III. – Abschrift von fremder Hd (= h​d; vgl. Vorbemerkung in der Überlieferung zu Nr 47).

E: Frese (1877), 164 f., Nr 36 (nach h​3).

WA IV 2 (1887), 271 f., Nr 341 (nach Goethe-La Roche, 114 f. [dort vermutlich nach einer nicht überlieferten Abschrift von h​3]).

Textgrundlage: h​1. – Vgl. Vorbemerkung in der Überlieferung zu Nr 47.

l] liebe ​h​2 zurük] zurück ​h​2 Zuflucht] Zuflucht, ​h​2 theilnehmender] Theilnehmender ​h​2 Charackters] Carackters ​h​2 mans] man's ​h​2 offt] oft ​h​2      jedermann.] ​Absatz h​2 wort] Wort ​h​2 von.] von, ​h​2      sehn] sehen ​h​2 wen] wenn ​h​2 zu rehte] zurechte ​h​2      sein sein] sein ​h​2 Inigkeit] Innigkeit ​h​2 Treue.] ​Absatz h​2 Adieu] Adieu ​h​2 grüsen] grüßen ​h​2 Hrn v.] H: v: ​h​2 Empfehl] Empfel ​h​2 Crespel] Crespel ​h​2      Schäzt.] ​Absatz h​2 1. Aug] 1 Aug: ​h​2 G.] G: ​h​2

Der Brief beantwortet zwei nicht überlieferte Briefe Sophie La Roches (vgl. 202,19). – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

l Mama] Liebe Mama.

gefiedelt und gedudelt bey der guten Max] Es hatte wohl ein Musikabend wie im Januar 1774 stattgefunden; Merck hatte darüber am 29. Januar 1774 an seine Frau Louise geschrieben: „Goethe est deja l'ami dela maison, il joue avec les enfans, et accompagne le Clavecin de Mdme avec sa Basse.“ (Merck, Briefwechsel 1, 444. – „Goethe ist bereits der Freund des Hauses, er spielt mit den Kindern und begleitet mit seinem Baß 〈Bassgeige: Cello〉 das Cembalo von Madame 〈Maximiliane Brentano〉.“ [Ebd., 446].) Das Cellospiel hatte Goethe in Straßburg gelernt (vgl. GB 1 II, 229,20).

Ich danke 〈…〉 richtig erhalten.] Die beiden genannten Briefe von Sophie La Roche sind nicht überliefert. Den ersten hatte Goethe direkt erhalten, der zweite war offenbar einem Brief an Johanna Fahlmer beigeschlossen da er ihn durch Fahlmern bekam. In einem dieser Briefe hatte sich Sophie La Roche über Goethes „Stella“ geäußert (vgl. 203,1–3).

Ihre Briefe sind hier dankbar zurük.] Vermutlich sind Sophie La Roches „Freundschaftliche Frauenzimmer-Briefe“ gemeint, von denen Goethe Teile wiederholt gelesen und zurückgesandt hatte (vgl. Nr 95, 98, 99, 127 und 179).

meine Stella] Goethes Drama war von Februar bis April 1775 entstanden; es erschien Anfang 1776.

von Friz geben] In Friedrich Heinrich Jacobis Nachlass fand sich eine von Goethes Schreiber Philipp Seidel hergestellte Abschrift der „Stella“, die später an die Bayerische Staatsbibliothek München gekommen ist (vgl. die erste Erläuterung zu 177,12).

Wie stehn Sie mit Lenz?] Jakob Michael Reinhold Lenz hatte am 1. Mai 1775 eine Korrespondenz mit Sophie La Roche begonnen (vgl. die zweite Erläuterung zu 191,3). Einige seiner verehrungsvollen Briefe sind abgedruckt bei Maurer, 182–192.

Ihre Briefe] Nicht überliefert.

wen] Versehentlich für ,wenn‘.

Originalgen] Original: „Figürlich nennt man auch ein außerordentliches Genie, eine Person, welche in ihrer Art Selbsterfinder ist, ein Original 〈…〉.“ (Adelung 3, 616.) Indem er die Diminutivform auf Lenz bezieht, wird Goethe diesen Begriff „auch wohl in weiterer Bedeutung“ verstanden haben als einen „seltsamen Kopf“, einen „Sonderling“ (ebd.).

zu rehte] Versehen bei flüchtiger Schrift.

wälzt sein sein Tönngen] Anspielung auf Diogenes von Sinope; der griechische Philosoph und Wanderprediger trieb den sokratischen Begriff der Selbstgenügsamkeit bis zur Forderung nach äußerster Bedürfnislosigkeit und Askese. Darauf nimmt die Anekdote Bezug, nach der Diogenes in einer Tonne gelebt haben soll. Er war Anhänger des Sokratesschülers Antisthenes; dieser gilt als Begründer des Kynismus, der philosophischen Lehre vom Ideal eines bedürfnislosen Lebens, das bis zu Verachtung von Sitte und Anstand führte. – Die Formulierung erinnert an Goethes Gedicht „Genialisch Treiben“: So wälz' ich ohn Unterlaß, / Wie Sanct Diogenes, mein Faß. (DjG​3 5, 509.)

sein sein] Schreibversehen.

Empfel] Der Empfehl: im Oberdeutschen für ‚die Empfehlung‘ gebraucht (Adelung 1, 1798).

Crespel] Johann Bernhard Crespel (vgl. zu 198,4).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 252 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR252_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 202–203, Nr 252 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 512–514, Nr 252 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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