Goethes Briefe: GB 2, Nr. 247
An Johann Caspar Lavater

〈Frankfurt a. M. , 24. Juli 1775. Montag〉 → 〈Zürich〉


Wie ist's mit Zimmermann gegangen? Wo ist er iezzo? Wenn er zurückkommt, soll er bey mir wohnen! Vergiss nicht ihm das zu schreiben. Bitte Hℓ. Schulz1 um einige Silhouetten ​2 von meiner Frazze und schick sie gelegentlich. Hast an die Phis gedacht und schickst du mir bald was. Hier über die Silhouetten der Fr. v. Stein und Marches. Brankoni. such sie gleich ​3 auf, und leg sie hierüber.

Stein. Festigkeit Gefälliges unverändertes Wohnen des Gegenstands Behagen in sich selbst. Liebevolle Gefälligkeit Naivetät und Güte, selbst- fliesende Rede Nachgiebige Festigkeit. Wohlwollen. Treubleibend Siegt mit Nezzen
Brankoni.unternehmende Stärcke
Scharf nicht tiefsinnReine EitelkeitFeine verlangende Gefälligk.Wiz, ausgebildete Sprache Wahlim Ausdruck.WiderstandGefühl ihrer selbst.Fassend u. haltendSiegt mit Pfeilen.

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Ich wollte du überliessest mir sie und die Fr. v. Löv. zum zweiten Theil sie müssten so rein als möglich gestochen werden. Ich kommentirte sie und schickte dir sie zu Anmerck. über und machte dann erst ein Ganzes draus. So sollt es überhaupt mit dem ganzen zweiten Theil geschehen. Aber du ​Schwancker! – Cassir doch ich bitte dich die 4Familien tafel von uns sie ist doch scheuslich. du prostituirst dich und uns. Meinen Vater lass ausschneiden und brauch ihn als Vignette, der ist gut. Ich bitte dich recht inständig drum. Mit meinem Kopf mach​5 auch was du wit, nur meine Mutter soll nicht so da stehn. / Hast du noch einige Abdrücke schick mir sie mit denen um die ich auf beyliegen dem Zettel Bitte, es ist um den Vater heraus zuschneiden.

Finden sich die Zeichnungen von Fuesli die du mir schencktest, so schick sie doch auch. dancke für die Chodowiecki und die andern.

Hier Linien von ​Fettmilchs Kopf. das kurz und starrsinnige drückt sich auf dem schlechten kupfer wovons genommen ist noch stärcker, hat auch zugleich etwas thierisch niedriges das der Umriss nicht hat pp.

Was hältst du von der Idee? Wär in Silhouetten herrlich auszuführen. du kennst Hogarth s Schönheitslienie von der Verzerung biss zum Leblosen.Grafik Buchstaben S und I

der reine Punckt der Schönheitslienie ist die Linie der ​Liebe Stärcke und Schwäche stehn ihr zu beyden Seiten. ​Liebe ist der Punckt wo sie sich vereinigen. Gieb mir beyträge dazu, und wir wollen ein herzigs Capitelgen machen. Vielleicht kein ganz unreiner Faden aus dem Grosen Gewebe ausgezogen.

  1. H​Schulz​ ↑
  2. Silhoet​uetten​ ↑
  3. gle|i|ch​ ↑
  4. ×​Familien tafel​ ↑
  5. mal​ch​ ↑

Der Brief wurde, wie aus dem Inhalt hervorgeht, kurz nach Goethes Rückkehr von seiner Schweizer Reise geschrieben. Am 22. Juli 1775 war er wieder in Frankfurt eingetroffen (vgl. zu 197,21). Es handelt sich um Goethes ersten Brief an Lavater nach seiner Rückkehr aus der Schweiz, im „Ausgabebüchlein“ unter dem 24. Juli verzeichnet. Dazu passt der 29. Juli als Datum von Lavaters Antwort. (Die Post von Frankfurt nach Zürich benötigte etwa vier Tage; vgl. Datierung zu Nr 67.)

H: UB Leipzig, Slg Hirzel, Sign.: B 56. – 1 Bl. 17 × 21,3 cm, 1 ¾ S. beschr., egh., Tinte.

E​1: Hirzel, Goethe-Bibliothek 1874, 183 (Teildruck: 196,5–7 Wie ist's 〈…〉 zu schreiben.). – Incipit zuvor schon in: Katalog der Goethe-Ausstellung 1861. Berlin 1861, S. 29, Nr 121 (196,5 Wie ist's 〈…〉 gegangen?).

E​2: DjG​1 (1875), 100–102.

WA IV 2 (1887), 279–281, Nr 347 (Datums- und Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, WA IV 30, 254 und WA IV 50 [1912], 213).

1) Ein Zettel (197,5–6).

2) Eine Zeichnung Goethes (vgl. zu 197,9).

Ein Bezugsbrief ist nicht bekannt. – Lavater antwortete am 29. Juli 1775 (vgl. RA 1, 62, Nr 51; Goethe-Lavater​3, 48 f., Nr 33).

Postsendungen: 24. Juli 1775 (AB, 10).

Zimmermann] Johann Georg Zimmermann, der auf dem Weg in seine schweizerische Heimat war, um Hilfe gegen seine hypochondrischen Zustände zu finden, machte vom 10. bis 15. Juli in Straßburg Station. Dort war Goethe, seinerseits aus der Schweiz zurückreisend, am 12. Juli angekommen und mit Zimmermann zusammengetroffen. Zimmermann berichtet darüber in einem Brief an Charlotte von Stein vom 22. Oktober (vgl. zu 196,9).

soll er bey mir wohnen] Zimmermann war Ende September Gast in Goethes Elternhaus (vgl. den Anfang von Nr 265).

Schulz] Zeichner in Zürich; Näheres über ihn ließ sich nicht ermitteln.

Silhouetten von meiner Frazze] Gemeint ist vermutlich Goethes Schattenriss im 3. Band der „Physiognomischen Fragmente“ (auf der Tafel zwischen S. 36 und 37 unter Nr 20). Er war bei Goethes Aufenthalt in Zürich entstanden. Lavater schickte die Silhouette am 14. Juni an Johann Georg Zimmermann (vgl. Goethe-Lavater​3, 395), später auch an Lenz, der sich am 29. Juli dafür bei Lavater bedankte (vgl. Lenz, Briefe 1, 120).

Hast an die Phis gedacht] Goethe hatte Lavater in Zürich seine weitere Teilnahme an den „Physiognomischen Fragmenten“ zugesagt (vgl. 19. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ [AA DuW 1, 622]; ferner BG 1, 352).

Silhouetten der Fr. v. Stein] Zimmermann berichtete in seinem Brief vom 22. Oktober 1775 an Charlotte von Stein, die er im Sommer 1773 in Bad Pyrmont kennen gelernt hatte: „A Strassbourg j'ay montré entre cent autres silhouettes la votre, Madame, à Mr. ​Göthe. Voici ce qui'il a ecrit de sa propre main au bas de ce Portrait: ,Es wäre ein herrliches Schauspiel zu sehen, wie die Welt sich in dieser Seele spiegelt. ​Sie sieht die Welt wie sie ist, und doch durch's ​Medium der Liebe. So ist auch Sanftheit der allgemeinere Eindruck.‘ Jamais, à mon avis, on a jugé sur une silhouette avec plus de génie; jamais on n'a parlé de Vous, Madame, avec plus de verité.“ (Fränkel, Goethe-Stein​2 1, 7 f. – „In Straßburg habe ich unter hundert anderen Schattenrissen den Ihrigen, gnädige Frau, Goethe gezeigt. Hier haben Sie, was er mit seiner sauberen Handschrift auf den Rand des Bildes geschrieben hat: 〈…〉 Niemals hat, soviel ich weiß, jemand über einen Schattenriß mit mehr Genie geurteilt, und niemals hat jemand über Sie, gnädige Frau, mit mehr Wahrheit gesprochen.“ [Bode 1, 141].) – Die Silhouette der Frau von Stein hatte Zimmermann schon am 12. Dezember 1774 mit einem ausführlichen Bericht über sie an Lavater geschickt (vgl. Fränkel, Goethe-Stein​2 1, 3). Ihre Charakteristik im 3. Band der „Physiognomischen Fragmente“ (13. Fragment. Zwo weibliche Silhouetten, S. 314 f.) kompilierte Lavater aus diesem Bericht und der Deutung Goethes im vorliegenden Brief (vgl. von der Hellen, 237 f.).

Marches. Brankoni] Maria Antonia von Branconi geb. von Elsener, die Witwe von Francesco Pessina de Branconi, Mätresse des Erbprinzen und späteren Herzogs Carl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig-Lüneburg-Wolfenbüttel, des Bruders der Weimarer Herzogin Anna Amalia. Das Adelsprädikat Marchesa, Marquise oder auch Gräfin war vermutlich nicht berechtigt (vgl. Goethe-Handbuch​2 1, 1376). – Auch ihren Schattenriss lernte Goethe durch Zimmermann kennen. Weder die Silhouette noch Goethes Charakterisierung nahm Lavater in die „Physiognomischen Fragmente“ auf.

Wohnen des Gegenstands] „Ruhen des Gegenstandes, der Eindrücke der Sinnenwelt ​in der Seele“ (von der Hellen, 238). Ähnlich verwendet Goethe das Verb ‚wohnen‘ bei der Beschreibung der Stirn Homers: hier wohnt alles Leben willig mit und neben einander. (DjG​3 4, 275.)

Siegt mit Nezzen] Bild nach der biblischen Vorstellung eines geistlichen Fischzugs (vgl. Matthäus 4,19; Markus 1,17).

Siegt mit Pfeilen.] Bild biblischer Herkunft: Im Alten Testament bringen Gottes Pfeile Strafe oder Prüfung. Die christliche Mystik kennt allerdings auch die Vorstellung von Minnepfeilen, die Christus nach der Seele schießt (vgl. Langen, 30).

Fr. v. Löv.] Sophie Marie Löw von und zu Steinfurth geb. von Diede, Frau des hannoverschen Oberkammerherrn Johann Friedrich Ferdinand Löw von und zu Steinfurth. Über ihren Schattenriss hatte Zimmermann mit Goethe ebenfalls in Straßburg gesprochen (vgl. Zimmermanns Brief an Lavater, 15. August 1775; Goethe-Lavater​3, 395). Er erschien, ohne eine Deutung Goethes, im 3. Band der „Physiognomischen Fragmente“ (S. 311); abgebildet sind „Sieben weibliche Silhouetten“ im Profil. Das siebente Profil zeigt Sophie Marie Löw; es heißt dazu: „7 hat offenbar die denkendste Stirn“ (ebd.).

​Schwancker] Substantivierung des Adjektivs ‚schwank‘: „biegsam, geschmeidig“, „hin und her schwankend“ (Goethe-Wortschatz, 553).

Cassir] Spätlat. cassare: für ungültig erklären; vernichten.

Familien tafel] Nicht überliefert.

du prostituirst dich] Prostituieren: bloßstellen (lat. prostituere: öffentlich preisgeben).

Meinen Vater] Die Vignette Johann Caspar Goethes erschien im 3. Band der „Physiognomischen Fragmente“ (S. 221; Abb. u. a. in: Goethe-Lavater​3, Tafel III, Nr 11).

wit] Willst. – Von mhd. wellen (wollen); im Alemannischen wird oft die 2. Person Singular ‚wilt‘ zu ‚wit‘. Die Form ‚du wilt‘, die sich öfter beim jungen Goethe findet, gibt es auch in der frankfurterischen Mundart (vgl. Frankfurter Wörterbuch 6, 3582).

meine Mutter] Erst 1787 erschien ein Halbbrustbild von Catharina Elisabeth Goethe in der (inhaltlich veränderten) so genannten Oktav-Ausgabe: J C. Lavaters Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Verkürzt hrsg. von Johann Michael Armbruster. 3 Bde. Winterthur 1783–1787. Bd 3, zwischen S. 310 und 311 (Abb. u. a. in: Goethe-Lavater​3, Tafel III, Nr 12).

auf beyliegendem Zettel] Nicht überliefert.

Zeichnungen von Fuesli] Um welche Zeichnungen Johann Heinrich Füßlis es sich handelt, konnte nicht ermittelt werden. Vielleicht waren Kopf- und Handstudien darunter, die Goethe als Vorlage eigener Zeichnungen benutzte (vgl. Corpus VIb, Nr 239 und 273). Über Füßli-Zeichnungen in Goethes Besitz vgl. Schuchardt 1, 264; Goethe als Sammler. Kunst aus dem Haus am Frauenplan in Weimar 〈Ausstellungskatalog〉. Zürich 1989, S. 80 f.; Hermann Mildenberger: Im Blickfeld der Goethezeit I. Aquarelle und Zeichnungen aus dem Bestand der Kunstsammlungen zu Weimar. Berlin 1997, S. 196 f.; Rolf Bothe, Ulrich Haussmann: Goethes „Bildergalerie“. Die Anfänge der Kunstsammlungen zu Weimar. Berlin 2002, S. 86–88, 230.

Chodowiecki und die andern] Näheres nicht ermittelt. Der Berliner Buchillustrator Daniel Nikolaus Chodowiecki lieferte viele Zeichnungen als Vorlage für Kupferstiche in den „Physiognomischen Fragmenten“.

​Fettmilchs Kopf] Vincenz Fettmilch, Schreiber und Feinbäcker in Frankfurt, führte einen später nach ihm benannten Aufstand der Zünfte gegen das Patriziat an, der, von zunehmenden Ausschreitungen gegen die Frankfurter Juden begleitet, im August/September 1614 in der Erstürmung und Plünderung der Judengasse und der vorübergehenden Ausweisung ihrer Bewohner gipfelte. Dem Eingreifen des Kaisers, unter dessen Schutz die Juden standen, war es zu verdanken, dass der Aufstand niedergeschlagen und das patrizische Stadtregiment wiedererrichtet wurde. Am 28. Februar 1616 erfolgte außerdem die feierliche Wiederzulassung der Juden, am selben Tag, an dem die Haupträdelsführer, darunter Fettmilch, auf dem Frankfurter Rossmarkt exekutiert wurden. – Goethes Umrisszeichnung von Fettmilchs Kopf, die nicht in die „Fragmente“ aufgenommen wurde, ist nicht überliefert.

Hogarth s Schönheitslienie] William Hogarth, englischer Zeichner, Maler und Kupferstecher; in seiner „Analysis of beauty“ (1753; deutsch von Christlob Mylius: Zergliederung der Schönheit, die schwankenden Begriffe von dem Geschmack festzusetzen. London 1754), wird unter allen anderen Linien die „wellenförmige Linie“ die „Linie der Schönheit“ genannt, „da sie noch mannichfaltiger ist, weil sie aus zwey krummen entgegengesetzten Linien bestehet, noch zierlicher wird und noch mehr gefällt“ (ebd., S. 24).

ein herzigs Capitelgen] Einen entsprechenden Beitrag zu Hogarth gibt es nicht.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 247 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR247_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 196–197, Nr 247 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 499–502, Nr 247 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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