Goethes Briefe: GB 2, Nr. 246
An Charlotte Kestner

Altdorf , 19. Juni 1775. Montag → Hannover


Tief in der Schweiz am Orte wo Tell seinem Knaben den Apfel vom Kopf schoss, warum iust von da ein​1 paar Worte an Sie da ich so lang schwieg?

Gut liebe Lotte, einen Blick auf Sie und Ihre kleinen, und das liebe Männgen, aus all der herrlichen Natur heraus, mitten unter dem edlen Geschlecht das seiner Väter nicht ganz unwerth seyn darf, obs gleich auch Menschen sind hüben und drüben.

Ich kann nichts erzählen nichts beschreiben. Vielleicht erzähl ich mehr wenn mirs abwesend ist, wie mirs wohl eh mit lieben Sachen gangen ist.

Nicht wahr sie haben mich noch ein bisgen lieb und so halten sie's und küssen ihren Mann auch von mir u. Ihre Kleinen. Adieu. grüsen Sie Meyers recht viel. Altdorf drey stunden vom Gotthard den ich morgen besteige. dℓ. 19 Jun. 1775.

  1. eine​ ↑

H: GSA Weimar, Sign.: 29/263,I, Bl. 17–18. – Doppelblatt 17 × 22,4 cm, 1 S. beschr., egh., Tinte; S. 1 oben rechts von fremder Hd, Bleistift: „1775. Jun. 19.“; S. 3 Adresse, Tinte: An Frau / Archivsekretarius Kestner / nach / Hannover / fr. Franckfurt; Spuren von zwei roten Siegeln. – Faksimile: Morris, Goethes erste Schweizer Reise, 31.

E: Goethe und Werther​1 (1854), 241, Nr 112.

WA IV 2 (1887), 268 f., Nr 338.

Ein Bezugs- und ein Antwortbrief sind nicht bekannt.

Tief in der Schweiz 〈…〉 schoss] Wie diese Anspielungen belegen, wurde der Brief in Altdorf geschrieben, dem Hauptort des Kantons Uri in der Zentralschweiz, im Reußtal etwa 3 km südöstlich vom Vierwaldstätter See gelegen. Der Legende nach soll hier der Jäger Wilhelm Tell vom Landvogt Geßler zum Apfelschuss gezwungen worden sein, weil er dem als österreichisches Hoheitszeichen aufgesteckten Hut den Gruß verweigert hatte. – Etwa einen Monat bevor der Brief geschrieben wurde, am 14. Mai 1775, war Goethe von Frankfurt aus gemeinsam mit Christian Curt von Haugwitz sowie Christian und Friedrich Leopold zu Stolberg zu einer Reise in die Schweiz aufgebrochen (vgl. dazu Nr 238, 239, 240, 241, 242, 243, 244 und 245). Am 15. Juni hatte er sich am Züricher See von seinen Reisegefährten und auch den Züricher Freunden getrennt und war am Tag darauf nur in Begleitung seines Frankfurter Jugendfreundes Jacob Ludwig Passavant, damals Gehilfe Lavaters in Zürich, zu einer Alpenwanderung aufgebrochen, die ihn zunächst nach Schwyz und auf den Rigi geführt hatte (vgl. dazu Goethes „Reisetagebuch Schweiz 1774“; GT I 1, 5–9). Unter dem 19. Juni, findet sich der folgende Eintrag: 19. früh ½ 7 aufwärts dann hinab an vier Waldstätter See. Auf dem See von Izenach nach Gersau zu Mittag im Wirthsh. am See. gegen zwey dem Grüdli über wo die 3 Tellen schwuren drauf an der Tellen Platte. wo Tell aussprung. Drauf 3 Uhr in Flüeli wo er eingeschifft ward. 4 Uhr in Aldorf wo er den Apfel abschoss. (GT I 1, 6.)

da ich so lang schwieg] Goethe hatte zuletzt wahrscheinlich am 9. Januar 1775 an Charlotte Kestner geschrieben, allerdings ist der Brief nicht überliefert (vgl. EB 54). Der letzte überlieferte Brief an sie stammt aus der Zeit zwischen dem 19. und 21. September 1774 (Nr 148), er lag dem Begleitbrief an Kestner zur Übersendung des „Werther“ bei (Nr 149). Da Charlotte Kestner selbst nicht antwortete, musste Goethe annehmen, dass sie die anfängliche Verärgerung ihres Mannes über den Roman teilte, hatte Kestner doch in seinem Brief an Goethe von Ende September/Anfang Oktober 1774 bemerkt: „Der würcklichen Lotte würde es in vielen Stücken leid seyn, wenn sie Eurer da gemalten Lotte gleich wäre.“ (Vgl. zu 133,20) Wenn auch das Erscheinen des „Werther“ nicht zu einem dauerhaften Bruch zwischen Goethe und den Kestners führte, so stellte sich doch das alte Vertrauensverhältnis nicht vollkommen wieder her, worauf auch die lange Pause in der Korrespondenz verweist (vgl. zu 137,22). Mit dem vorliegenden Brief wollte Goethe offenbar die freundschaftliche Beziehung vor allem zu Charlotte Kestner wieder neu beleben. Das hier zuerst verwendete förmlichere „Sie“ in der Anrede verweist aber auch auf den Wandel, der mittlerweile in Goethes Gefühlen eingetreten war.

Ihre kleinen] Charlotte Kestners Söhne, der einjährige Georg und der am 2. Mai 1775 geborene Wilhelm.

das liebe Männgen] Johann Christian Kestner. Zu ihm war der briefliche Kontakt seit November 1774 gleichfalls unterbrochen, zumindest gibt es keine Hinweise auf nicht überlieferte Briefe Goethes an Kestner aus diesem Zeitraum. Allerdings ist anzunehmen, dass Goethe im Mai 1775 die Nachricht von der Geburt des zweiten Sohnes erhalten und darauf reagiert hatte (vgl. die vorhergehende Erläuterung).

dem edlen Geschlecht] Die freiheitsliebenden Schweizer. Möglicherweise sind besonders die Bewohner der Kantone Uri und Schwyz gemeint, die mit Unterwalden seit 1291, dem Gründungsjahr der Eidgenossenschaft, zu den so genannten Urkantonen gehörten.

wie mirs 〈…〉 mit lieben Sachen gangen ist] Anspielung auf den „Werther“, der auch erst zwei Jahre nach Goethes Wetzlarer Aufenthalt und der engen freundschaftlichen Beziehung zu Charlotte und Johann Christian Kestner entstanden ist.

Meyers] Der Kammersekretär Ludwig Johann Georg Meyer (auch: Meier, Mejer) und seine Ehefrau, die in Hannover zu den Freunden der Kestners gehörten (vgl. auch zu 93,1).

den ich morgen besteige] Dem Schweizer Reisetagebuch zufolge wanderte Goethe am 20. Juni nach Wasen (heute Wassen), von dort aus bestieg er am 21. den Sankt Gotthard: 21. halb 7. aufwärts. / allmächtig schröcklich. / ​Geschten. / gezeichnet. Noth und Müh – und schweis. Teufelsbrüke u. der teufel. Schwizen u. Matten u Sincken biss ans Urner Loch hinaus u belebung im Thal. ​an der Matte trefflichen Käss. Sauwohl u Projeckte. / ab 35 Min auf 4. / Schnee, nackter Fels u Moos u Sturmwind u. Wolcken. das Gerausch des Waßer falls der Saumrosse Klengeln. Öde wie / im Thale des Todts – / mit Gebeinen besäet. / Nebel See. (GT I 1, 6; vgl. auch AA DuW 1, 615 [18. Buch].)

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 246 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR246_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 195–196, Nr 246 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 497–499, Nr 246 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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