Goethes Briefe: GB 2, Nr. 241
An Johanna Fahlmer

Straßburg , 24. und 26. Mai 1775. Mittwoch und Freitag → 〈Frankfurt a. M.〉


Liebe Tante. In freyer Lufft! einem Uralten Spaziergang hoher vielreihkreuzender Linden, Wiese dazwischen das Münster dort! Dort die Ill. Und Lenz lauft den Augenblick nach der Stadt. Ich hab schon ein Mittag essen bestellt hier nah bey u s w. er kommt wieder pp. Dancke für den Brief, hoffe weiter! – Hoffe von der Vorstellung Erwins – ​1 kein Wort als Autor – – – Sie sind gut l. Tante und der Himmel auch! – diese alte Gegend, ietzt wieder so neu – das Vergangne und die Zukunft. – Gut Denn – Unterweegs nichts unerwartet, aber lieber, voller, ganzer als in der Hoffnung, die guten und die schlechten Menschen in ihrer Art wahr – Louise ist ein Engel, der blinckende Stern konnte mich nicht abhalten einige Blumen aufzuheben die ihr vom Busen fielen und die ich in der Brieftasche bewahre. Der Herz v. Weymar kam auch, und ist mir gut. – Von dem übrigen mündlich! – Alles ist besser als ich ​2 dachte / Vielleicht weil ich liebe find ich alles lieb und gut.

So viel diesmal vom durchgebrochnen Bären, von der entlaufenen Kazze! – – Ich habe viel, viel gesehen. Ein herrlich Buch die Welt um gescheuter daraus zu werden, wens nur was hülfe. Grüsen Sie Friz tausendmal! Mama la Roche die wohl bey Ihnen seyn wird! die Max! Meinen Vater und Mutter.

Mittwoch dℓ. 24 May 1775 – eine viertelstunde von Strasburg.


Soll mich der teufel holen Tante ist Freytag der sechs u. zwanzigste u. bin noch Strasburg. Morgen aber gehts nach Emmedingen3. Ist mir toll u. wunderlich uberall wo ich bin. Ade, ​4 beste Tante. Ihre Briefe find ich hoffentlich in Emmedingen.

  1. Erwins,​–​ (​Komma korrigiert zu Gedankenstrich)​ ↑
  2. als ist​ch​ ↑
  3. Eme​medingen​ ↑
  4. Ade.​,​ ↑

H: Privatbesitz, Deutschland. – Doppelblatt 17,3(–17,7) × 21(–22,4) cm, 2 S. beschr., egh., Blei, Nachschrift (Soll 〈…〉 Emmedingen.) Tinte; S. 4 oben links von Johanna Fahlmers Hd, Tinte: „N​r 3 / auss der Schweiz“ (vgl. Überlieferung zu Nr 240). (Da Johanna Fahlmer Nr 243 vom 5. Juni als Nummer 2 registriert [vgl. Überlieferung dieses Briefes], hat sie den vorliegenden Brief offenbar verspätet erhalten; vielleicht wurde er erst „auss der Schweiz“ abgeschickt.) – Faksimile: Morris, Goethes erste Schweizer Reise, 12 f.

E: Goethe-Fahlmer (1875), 85–87, Nr 32.

WA IV 2 (1887), 264 f., Nr 333 (nach E; Textkorrekturen nach H in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 213).

Der Bezugsbrief (vgl. 191,16–17) ist nicht überliefert. – Johanna Fahlmer antwortete mit den beiden nicht überlieferten Briefen, für die sich Goethe im Brief vom 5. Juni 1775 (vgl. 193,1–2) bedankt.

Goethe war am 14. Mai zu seiner Reise in die Schweiz aufgebrochen und über Darmstadt, Mannheim, Heidelberg und Karlsruhe am Abend des 23. Mai in Straßburg eingetroffen (vgl. Christian zu Stolbergs Brief an Klopstock, 24. Mai 1775; BG 1, 336).

Spaziergang] Hier nicht die Tätigkeit des Spazierengehens, sondern der Weg, den man spaziert (vgl. Grimm 10 I, 2021).

Münster] Das Straßburger Münster.

Lenz] Jakob Michael Reinhold Lenz; Goethe hatte ihn 1771 in Straßburg kennen gelernt (vgl. die erste Erläuterung zu 13,5).

hier nah bey] Gemeint ist das Gasthaus „Zum Wasserzoll“ in der Ruprechtsau an der Ill; vgl. Lenz' Goethe gewidmetes Gedicht „Denkmahl der Freundschaft. Auf eine Gegend bey St.–g.“ (in der Handschrift mit dem Titel „Der Wasserzoll“ [vgl. Lenz, Werke und Briefe 3, 792]), das im August-Heft 1775 von Johann Georg Jacobis „Iris“(4. Bd. 2. Stück, S. 147) erschien:


  Ihr stummen Bäume, meine Zeugen, Ach! käm er ohngefehr Hier, wo wir sassen, wieder her, Könnt ihr von meinen Thränen schweigen?
L. an G.


Dancke für den Brief] Er ist nicht überliefert. Goethe hatte Johanna Fahlmer gebeten, ihm unter der Adresse von Johann Daniel Salzmann nach Straßburg zu schreiben (vgl. 191,1–2).

Vorstellung Erwins] Vgl. die erste Erläuterung zu 191,9.

das Vergangne] Goethe hatte sich von April 1770 bis Anfang August 1771 zum Studium in Straßburg aufgehalten.

Louise] Prinzessin Louise von Hessen-Darmstadt, die Verlobte des Weimarer Erbprinzen Carl August von Sachsen-Weimar und Eisenach. Sie lebte seit dem Tod ihrer Mutter, der Landgräfin Karoline von Hessen-Darmstadt, am 30. März 1774 am Hof ihres Onkels, des Markgrafen Karl Friedrich von Baden, in Karlsruhe. Dort hatte sich Goethe vom 17. bis 23. Mai aufgehalten; im 18. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ schreibt er darüber: Am bedeutendsten war für mich daß der junge Herzog von Sachsen Weimar, mit seiner edlen Braut, der Prinzessin Louise von Hessen Darmstadt hier zusammen kamen um ein förmliches Ehebündniß einzugehen 〈…〉. (AA DuW 1, 601.)

der blinckende Stern] Vielleicht als Symbol des hohen Standes.

Herz v. Weymar] Carl August von Sachsen-Weimar und Eisenach war Anfang Dezember 1774 mit seinem Bruder Constantin zu einer Reise nach Paris aufgebrochen und dabei über Mainz und Karlsruhe gekommen, wo er sich am 18. Dezember mit Louise von Hessen-Darmstadt verlobt hatte. Goethe hatte ihn am 12. Dezember 1774 in Frankfurt kennen gelernt und vom 13. bis 15. Dezember in Mainz besucht. Jetzt befand sich Carl August auf der Rückreise und hielt sich vom 22. Mai bis 7. Juni in Karlsruhe auf (Daten nach der Rechnungsakte der Reise im ThHStA Weimar, Sign: A 81).

Alles ist besser 〈…〉 lieb und gut.] Vgl. dazu Johann Heinrich Mercks Deutung von Goethes Persönlichkeit unmittelbar vor Antritt der Reise in die Schweiz im 18. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ (AA DuW 1, 599 f.); Merck habe zu Goethe gesagt: „Dein Bestreben 〈…〉 ist, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben; die andern 〈die Brüder Stolberg〉 suchen das sogenannte Poetische, das Imaginative, zu verwirklichen und das giebt nichts wie dummes Zeug.“ (AA DuW 1, 600.)

vom durchgebrochnen Bären, von der entlaufenen Kazze] Gemeint ist Goethe selbst. Das Bild vom Bären verweist auf sein Gedicht „Lili's Parck“ (vgl. WA I 2, 87 f.). Ob dieses Gedicht, dessen genaue Entstehungszeit nicht bekannt ist, bereits vorlag und Johanna Fahlmer es kannte oder ob es erst im Entstehen begriffen war, Johanna Fahlmer aber die Metaphern geläufig waren, ist unsicher. Eine Katze kommt in der endgültigen Fassung des Gedichts nicht vor. Dies könnte dafür sprechen, dass es erst auf der Schweizer Reise entstand. Vom Bären (193,9) spricht Goethe auch im Brief vom 5. Juni (Nr 243).

Friz] Friedrich Heinrich Jacobi.

Mama la Roche] Sophie La Roche.

die Max] Maximiliane Brentano, Sophie La Roches Tochter.

bin noch Strasburg] Schreibversehen; zu ergänzen ist ,in‘.

Emmedingen] In Emmendingen besuchte Goethe seine Schwester Cornelia und deren Mann Johann Georg Schlosser.

Ihre Briefe] Goethe fand zwei Briefe vor (vgl. den Anfang von Nr 243); sie sind nicht überliefert.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 241 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR241_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 191–192, Nr 241 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 491–493, Nr 241 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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