Goethes Briefe: GB 2, Nr. 238
An Johann Gottfried Herder

〈Frankfurt a. M. , vermutlich zwischen 10. und 13. Mai 1775〉 → Bückeburg


Mir gehts wie dir l. Bruder meinen Ballen spiel ich wider die Wand, und Federballen mit den Weibern. Dem Hafen Häuslicher Glückseeligkeit, und festem Fuse in wahrem Leid u. Freud der Erde wähnt ich vor kurzem näher zu kommen, bin aber auf eine leidige Weise wieder hinaus in's weite Meer geworfen.

Herzlich danck für deines Buben Schatten, das ist ganz dein Gesicht ganz! ganz! in unglaublicher Determination.

Ich fördre mit innigem Schändismus mit an Lav. Phisiognom.

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Ich habe deine Bücher kriegt und mich dran erlabt. Gott weis dass das eine gefühlte Welt ist! Ein belebter Kehrigthaufen! Und so danck! Danck! – – – Ich müsst ​1 all die Blätter voll Striche ​2 machen um den Übergang zu bezeichnen und doch – – Wenn nur die ganze Lehre Von Cristo nicht so ein Scheisding wäre, das mich als Mensch als eingeschräncktes bedürftiges ding / rasend macht so wär mir auch das Objeckt lieb. Wenn gleich Gott oder Teufel ​so behandelt mir lieb wird denn er ist mein Bruder. – Und so fühl ich auch in all deinem Wesen, nicht die Schaal und Hülle daraus deine Castors oder Harlekins heraus schlupfen, sondern den ewig gleichen Bruder, Mensch, Gott, Wurm und ​3 Narren. – – deine Art zu fegen – und nicht ​4 etwa aus dem Kehrigt Gold zu sieben, sondern den Kehrigt zur lebenden Pflanze umzupalingenesiren, legt mich immer auf die Knie meines Herzens. Adieu.

Ich geh fort auf wenige Zeit zu meiner Schwester. Ade. Grus dein Weiblein! – Ich tanze auf dem drate |:Fatum congenitum genannt:| mein Leben so weg!5 von meiner fresko Mahlerey wirst ehstens sehen, wo du dich ärgern wirst gut gefühlte Natur neben scheuslichem Locus communis zu sehen

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  1. mu​üsst​ ↑
  2. s​Striche​ ↑
  3. Wurm un|d|​ ↑
  4. du× nicht​ ↑
  5. weg,​!​ ↑

Aus der Andeutung der zurückliegenden Verlobung mit Anna Elisabeth Schönemann im April 1775 und der sich daran anschließenden Krise (vgl. zu 190,2–3) sowie der Ankündigung der kurz bevorstehenden Schweizer Reise (vgl. zu 190,24), die Goethe am 14. Mai 1775 antrat, ergibt sich für den vorliegenden Brief ein Datum, das in den Tagen vor Goethes Abreise liegt, vermutlich zwischen dem 10. und 13. Mai 1775.

H: Biblioteka Jagiellońska Kraków (Krakau), Autographensammlung Goethe, bis 1945 Preußische Staatsbibliothek Berlin. – Doppelblatt 18,8(–19) × 22,9 cm, 2 S. beschr., egh., Tinte; S. 4 Adresse: Herrn / Consistorialrath ​Herder / nach / ​Bückeburg / ​franck Paderℓ (Paderborn; von fremder Hd hinzugefügt); unter der Adresse rotes Initialsiegel: „G“; S. 4 am linken Rand roter Siegelrest; Bl. 1 am äußeren Rand in der Mitte gebrochen, mit zwei weißen Papierstreifen restauriert; Bl. 2 am äußeren Rand durch Öffnen des Siegels ausgerissen.

E: Aus Herders Nachlaß 1 (1856), 52–54, Nr 12.

WA IV 2 (1887), 261–263, Nr 329 (nach E; Hinweis auf H und Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 206 [zu Nr 88] und 212).

Antwort auf die Zusendung der Silhouette von Herders Sohn Gottfried (vgl. 190,6); ein Begleitbrief ist nicht überliefert. – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

Mir gehts wie dir] Denkbar ist, dass Herder Goethe gegenüber Unzufriedenheit mit seinem Leben in Bückeburg geäußert hatte; so schreibt er in einem etwa zeitgleichen Brief an Johann Georg Hamann von Mitte Mai 1775: „Es ist eine Art unbegreifl〈ichen〉 Wiederspruchs im Weben des Menschl〈ichen〉 Schicksals, daß je mehr man sich mit seinem Bauch wohin gewöhnt, desto mehr die entfalteten Flügel fortwollen u. müssen.“ (HB 3, 182.) Im Fall Goethes geht es wohl um den Versuch, eine feste Bindung einzugehen, die er zugleich wünschte und fürchtete.

Ballen] Schwach flektierte Nebenform des Akkusativs von ‚Ball‘.

Federballen] „Ein auf einer Seite mit Federn besetzter Ball zum Spielen, damit er einen desto weitern und gleichartigern Flug habe.“ (Adelung 2, 66.)

Hafen Häuslicher Glückseeligkeit] Im April hatte sich Goethe mit Anna Elisabeth (Lili) Schönemann verlobt; dies hatte er Herder gegenüber schon in Nr 214 angedeutet (vgl. die zweite Erläuterung zu 179,24). Die Beziehung geriet jedoch sogleich in eine Krise, für die Goethe aus der Distanz von „Dichtung und Wahrheit“ (17. Buch) die „zunehmende Wahrnehmung der Inkongruenz der familiären Zustände, der Herkunft und der Perspektiven beider“ Partner verantwortlich machte (Goethe-Handbuch​3 4 II, 961). Bindungsangst auf Seiten Goethes tat ein Übriges. Die Reise in die Schweiz diente dazu, einen Versuch zu machen ob man Lilli entbehren könne (AA DuW 1, 599 [18. Buch]). – Zum Verhältnis Goethes zu Anna Elisabeth Schönemann vgl. die einleitende Erläuterung zu Z 1. – In seinem Gedicht „Seefahrt“ (1776) kombiniert Goethe das Bild der Seefahrt mit dem des Ballspiels: menschliches Leben als Spielball des Schicksals (vgl. bes. Verse 33 f.; WA I 2, 73).

deines Buben Schatten] Um den Schattenriss von Herders achteinhalb Monate altem Sohn Gottfried hatte Goethe in Nr 214 gebeten (vgl. 179,21–22).

Determination] Charakteristische „Prägung u Bestimmtheit“ (GWb 2, 1159).

Schändismus] Vgl. die zweite Erläuterung zu 140,16. Der Ausdruck signalisiert Distanz zu Lavaters Werk.

Lav. Phisiognom.] Lavaters Physiognomik; über Goethes Anteilnahme an Text und Druck von Lavaters „Physiognomischen Fragmenten“ vgl. seine Briefe an Lavater und Reich im vorliegenden Band und die Erläuterungen dazu.

deine Bücher] Erläuterungen zum Neuen Testament aus einer neueröfneten Morgenländischen Quelle. Riga 1775; Briefe zweener Brüder Jesu in unserm Kanon. Lemgo 1775.

dass das eine gefühlte Welt ist! Ein belebter Kehrigthaufen!] Die Rede ist wohl vom Neuen Testament. Möglicherweise bezieht sich Goethe auf eine Passage in Herders „Erläuterungen zum Neuen Testament“: „Uebrigens ist das N. T. ein System nicht zum Wissen, zum Zergliedern und Beweisen, sondern zum Anschauen, zum Empfinden, zum Seyn. Unendlichkeit und Einfalt in jedem Punkte! in Allem Eins, in Einem Alles.“ (S. 16.)

Wenn gleich 〈…〉 er ist mein Bruder.] In Herders „Erläuterungen“ heißt es: „Ließ sich also die väterliche, erziehende Gottheit herab, sich, den Unbegreiflichen! uns, den dämmernden Schatten im ersten Traume des vernünftigen Daseyns begreiflich zu machen: wie anders, als Menschen Menschlich? in einem Bilde unsrer Bilder!“ (S. 19.) Und an anderer Stelle: „Unser Bruder ward Jesus; der vertraulichste, ärmste, bestimmendste Name ​,Menschensohn!‘ ward sein Name. Er sprach und handelte, fühlte und litte, was Menschen fühlen können.“ (S. 65.) – Der Umstand, dass Goethe sich der Gestalt Jesu nicht unter göttlich-metaphysischer, sondern nur unter humanistischer Perspektive zu nähern vermochte, führte auch zur Auseinandersetzung mit Lavaters naiver Christus-Auffassung (vgl. Lavaters Briefe an Goethe vom 30. November 1773 und von Ende Februar/erste Hälfte März? 1774, abgedruckt im Anschluss an die Erläuterungen zu Nr 71 und Nr 100 sowie die Erläuterungen dazu). Im „Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***“ (1773) formuliert Goethe seine Überzeugung: denn da Gott Mensch geworden ist, damit wir arme sinnliche Creaturen ihn mögten fassen und begreiffen können, so muß man sich vor nichts mehr hüten, als ihn wieder zu Gott zu machen. (DjG​3 3, 110.) Über die Beziehung von Religion und Humanität im Denken Goethes vgl. auch GB 1 I, Nr 95: dort ist von der wahren Religion die Rede, der statt des Heiligen ein groser Mensch erscheine (227,28; 227,29).

deine Castors] Gemeint sind Jakobus und Judas in Herders „Briefen zweener Brüder Jesu“. – Kastor und Polydeukes waren Zwillingssöhne des Zeus und der Leda.

deine Art zu fegen 〈…〉 Knie meines Herzens] Das Bild vom unterschiedlichen Umgang mit dem Kehrichthaufen dürfte auf die unterschiedliche Behandlung der Bibel zu beziehen sein. Statt die biblischen Schriften in orthodox-theologischer Weise einer Analyse zu unterziehen, um aus ihnen das Wort Gottes als Zeugnis transzendenter Offenbarung herauszulösen (,aus dem Kehricht Gold zu sieben‘), geht es darum, ihre sakrosankt gewordenen Texte in ihrer ursprünglichen lebendigen Vielfalt wiederherzustellen (,den Kehricht zur lebenden Pflanze umzuwandeln‘). Auch im Brief an Johann Caspar Lavater und Johann Conrad Pfenninger vom 26. April 1774 (Nr 107) wehrt sich Goethe gegen das Verständnis der Bibel als autorisierter Botschaft eines persönlichen Gottes. Für Goethe ist die Bibel weniger ein Spiegel der Göttlichkeit als der Menschlichkeit: Und so ist das Wort der Menschen mir Wort Gottes (84,23).

umzupalingenesiren] Palingenese: Wiedergeburt (griech. πάλιν: wieder, griech. γένεσις: Schöpfung).

Knie meines Herzens] In Anlehnung an Apokryphen, Gebet Manasse, 11.

zu meiner Schwester] Goethe besuchte Cornelia Schlosser auf dem Weg in die Schweiz in Emmendingen; vgl. die genaue Reiseroute in der zweiten Erläuterung zu 191,1.

dein Weiblein] Caroline Herder geb. Flachsland.

Ich tanze auf dem drate 〈…〉 mein Leben so weg!] Kombination des Bildes des Seiltänzers mit dem der Parzen (griech. Moiren), der antiken Schicksalsgöttinnen, die den Lebensfaden spinnen, zuteilen und abschneiden.

Fatum congenitum] Lat.: das zugleich (mit dem einzelnen Menschen) entstandene Schicksal.

fresko Mahlerey] Damit könnte eines der Singspiele Goethes gemeint sein, entweder „Erwin und Elmire“, gerade im März in der „Iris“ erschienen, oder „Claudine von Villa Bella“, das im Manuskript vorlag (vgl. Aus Herders Nachlaß 1, 54; DjG​2 6, 444, zu Nr 347; DjG​3 5, 422).

Locus communis] Lat.: Gemeinplatz.

Fiat voluntas!] Lat.: Der Wille 〈Gottes, des Schicksals〉 geschehe! Im lateinischen Vaterunser (vgl. Matthäus 6,10) heißt es: Fiat voluntas tua (Dein Wille geschehe). Die Wendung begegnet mehrfach in Goethes frühen Briefen (vgl. 10,13; 186,22; GB 1 I, 247,1).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 238 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR238_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 190–191, Nr 238 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 485–488, Nr 238 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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