Goethes Briefe: GB 2, Nr. 233
An Augusta Louise Gräfin zu Stolberg-Stolberg

〈Frankfurt a. M. 〉, 15. und 26. April 1775. Samstag und Mittwoch → 〈Uetersen〉

〈Druck〉


Hier Beste, ein Liedgen von mir, darauf ich hab eine Melodie von Gretri umbilden lassen! Ach Gott Ihre Brüder kommen, unsre Brüder, zu mir! – Liebe Schwester, das liebe Ding, das sie Gott heissen, oder wie's heisst, sorgt doch sehr für mich. Ich bin in wunderbarer Spannung, und es wird mir so wohl thun sie zu haben.

Ihren Schattenriss kriegen Sie, ich muss aber einen neuen von Ihnen haben, ​gros.

Thun Sie doch einen Blick in den zweyten Band der Iris wenn Ihnen der aufstößt, es sind allerley Lieder von mir drinn.

Ich halte mich offt in Gedancken an Sie.

Wenn ich wieder munter werde sollen Sie auch Ihr Theil davon haben, lassen Sie nur meine Briefe sich nicht fatal werden, wie ich mir selbst bin da ich schreibe. Ich meyne alle Falten des Gesichts drückten sich drinn ab.

Ade! Ade! Beste.


Wie erwart ich unsre Brüder! Welch ein lieber Brief von Euch dreyen! Hier die Schattenrisse. Sie sind nicht alle gleichgut ​1, doch alle mit fühlender Hand geschnitten. diesmal kein Wort weiter. Behalten Sie mich am Herzen! dℓ. 26. Apr. 1775.

G.

  1. gleichg×​ut​ ↑

H: 1) Briefteil vom 15. April 1775: Hier Beste 〈…〉 D. 15. Apr. (187,12–188,7): Verbleib unbekannt; vor 1881 im Besitz Emilie von Binzers, München; 2) Briefteil vom 26. April 1775: Wie erwart 〈…〉 dℓ. 26. Apr. 1775. G. (188,8–12): FDH/FGM Frankfurt a. M., Sign.: 25746, ehemals Slg Brockhaus. – 1 Bl. 22,8 × 18,9 cm, ¼ S. beschr., egh., Tinte.

E: Goethe-Stolberg​1 (1839), 92 f., Nr 5.

D: Goethe-Stolberg​2 (1881), 18 f., Nr 5.

WA IV 2 (1887), 260 f., Nr 327 (wahrscheinlich nach D [1881]; Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 212).

Textgrundlage für den Briefteil vom 15. April 1775: D. – Die Handschrift wurde für Goethe-Stolberg​2 neu verglichen (vgl. Überlieferung zu Nr 196).

wunderbarer] wunderbaarer​ E zweyten] zweiten​ E     ​ aufstößt] aufstöst​ E

1) Ein Liedgen (vgl. 187,12).

2) Schattenrisse (vgl. zu 188,9).

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten gemeinsamen Brief Augusta Louise zu Stolbergs und ihrer Brüder Christian und Friedrich Leopold (vgl. 188,8). – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

ein Liedgen] Wahrscheinlich ist „Ihr verblühet, süße Rosen“ gemeint, die Arie Erwins, mit der der 2. Aufzug des Singspiels „Erwin und Elmire“ beginnt (vgl. DjG​3 5, 48 f.).

ich hab eine Melodie von Gretri 〈…〉 lassen] Goethes Frankfurter Jugendfreund, der Musiker Philipp Christoph Kayser, vertonte „Ihr verblühet, süße Rosen“ nach der Melodie der Arie „Rose chérie, aimable fleur 〈…〉“ (Geliebte Rose, liebenswürdige Blume …) aus der Oper „Zémire et Azor, la belle et la bête“ (1771) des französischen Komponisten André Grétry. Am 15. August 1776 erbat sich Goethe, der inzwischen in Weimar lebte, die Komposition von Kayser in Zürich: Schick mir doch das / Ihr verblühet süsse Rosen / nach der französischen Melodie die du zugerichtet hast. (WA IV 3, 97.)

Ihre Brüder kommen] Christian und Friedrich Leopold zu Stolberg, durch ihren Göttinger Studienfreund Christian August Heinrich Curt von Haugwitz zu einer Reise in die Schweiz angeregt, trafen etwa am 8. oder 9. Mai in Frankfurt ein. Am 14. Mai verließen sie die Stadt in Begleitung Goethes (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 266). Der Brief, in dem die Brüder Stolberg Goethe ihr Kommen ankündigten, ist nicht überliefert.

das liebe Ding] Eine ähnliche Umschreibung für Gott findet sich schon im Brief an Kestner vom 5. Februar 1773 (vgl. 9,1–2); vgl. auch Goethes Reisetagebuch vom 30. Oktober 1775: und was das übrige betrifft so fragt das liebe unsichtbaare Ding das mich leitet und schult 〈…〉. (GT I 1, 13.)

Ihren Schattenriss] Nicht überliefert. – Möglicherweise ist ein Porträt aus Goethes Freundeskreis gemeint, da er seine eigene Silhouette bereits mit seinem ersten Brief an Augusta übersandt hatte (vgl. Beilage zu Nr 188). Wie aus dem Briefteil vom 26. April hervorgeht, wurden Silhouetten dem Brief beigelegt (vgl. 188,9).

einen neuen 〈…〉 ​gros] Im Brief vom 7. bis 10. März hatte sich Goethe für Augustas Silhouette bedankt, offenbar hatte sie ihm aber ein Miniaturporträt übersandt (vgl. zu 170,22). Goethe bevorzugte die so genannten Original-Silhouetten nach den Schattenbildern in Lebensgröße (vgl. zu 160,25).

in den zweyten Band der Iris 〈…〉 allerley Lieder von mir] Goethe hatte seine zunächst ablehnende Haltung zu Johann Georg Jacobis Zeitschrift „Iris“ nach der persönlichen Bekanntschaft mit dem Herausgeber im Juli 1774 geändert. Der 2. Band der „Iris“ enthielt im 1. Stück (Januar 1775) Goethes Gedichte „Lied, das ein selbst gemahltes Band begleitete“ (S. 73 f.; vgl. DjG​3 2, 293), „Mayfest“ (S. 75–77; vgl. DjG​3 2, 32 f.) und „Der neue Amadis“ (S. 78–80; vgl. DjG​3 4, 269). Im 3. Stück (März 1775) waren Goethes Singspiel „Erwin und Elmire“ (S. 161–224; vgl. DjG​3 5, 36–61) und die Gedichte „An Belinden“ (S. 240 f.; vgl. DjG​3 5, 28), „Neue Liebe, Neues Leben“ (S. 242 f.; vgl. DjG​3 5, 27) und „Mir schlug das Herz; geschwind zu Pferde 〈…〉“ (S. 244 f.; vgl. DjG​3 2, 294; später unter dem Titel „Willkommen und Abschied“) publiziert. Die Beiträge erschienen nicht unter Goethes Namen (vgl. Hagen 255 f., Nr 535). Möglicherweise schickte Goethe im Mai Aushängebögen der „Iris“ mit seinen Gedichten an Augusta zu Stolberg, die am 1. Juni 1775 ihrem Bruder Christian schrieb: „Goethe hat mir niedliche Liederchens geschikt.“ (Schumann, Auguste Stolberg, 270.)

fatal] Hier: unangenehm, unerfreulich; von Goethe vorwiegend in der voritalienischen Zeit verwendet (vgl. GWb 3, 610).

Wie erwart ich 〈…〉 Brief von Euch dreyen!] Der Bezugsbrief ist nicht überliefert. – Christian und Friedrich Leopold zu Stolberg waren am 12. April von Kopenhagen kommend in Altona eingetroffen. Auch Augusta war zu dieser Zeit in Hamburg und Altona, wo die Familie zur Konfirmation der jüngsten Schwester Julia am 27. April zusammenkam. Ende April/Anfang Mai reisten Christian und Friedrich Leopold weiter nach Frankfurt, wo sie etwa am 8. oder 9. Mai eintrafen und sehr bald Goethes persönliche Bekanntschaft machten (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 266).

die Schattenrisse] Nicht überliefert. – Möglicherweise hatte Augusta um Porträts von Goethes Freunden gebeten (vgl. zu 187,17).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 233 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR233_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 187–188, Nr 233 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 476–478, Nr 233 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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