Goethes Briefe: GB 2, Nr. 213
An Augusta Louise Gräfin zu Stolberg-Stolberg

〈Frankfurt a. M. 〉, 19.–25. März 1775. Sonntag–Samstag → 〈Uetersen〉


Mir ist's wieder eine Zeit her für Wohl u. Weh, dass ich nicht weis ob ich auf der Welt bin, und da ist mir's doch als wär ich im Himmel. die's liebe Schwester dℓ. 19 Merz Nachts um eilfe. Gute Nacht!

dℓ 23. Abends bald sieben. Ich komme von meiner Mutter herauf, noch einige Worte dir o du liebe. heut nach Tisch kam dein Brief, eben da ich beym Braten gemurrt hatte, dass so lang keiner kam. Ich dancke dir tausendmal. um 2 Uhr musst ich zu einem verdrüslichen Geschäfft, da ging ich unter allerley Leuten herum und dacht an dich und schrieb mit Bleystifft beygehendes Zettelgen. So recht! Tritt u. Schritt muss ich wissen von meinen lieben, denn ich bilde mir ein dass euch von mir das all auch so werth ist; also dancke dancke für die Schildrung dein und deines Lebens, wie wahr, wie voraus von mir gefühlt! – O könnt ich auch! – – Behalt mich lieb –

Jetzt bitt ich noch um die Silhouetten all deiner lieben, deines Ehlers der mir verzeihen soll dass ich ihm nicht schreibe, ich habe warrlich nimmer nichts zu sagen, nur ihr Mädgen kriegt mich doch wieder dran. dann die Schattenrisse deiner Brüder von denen ich auch Briefe habe, meiner Brüder. und deiner innigen Freundin. Nota Bene alle wie sie auf der Wand gezeichnet worden ohnausgeschnitten.

Jetzt gute Nacht, und weg mit dem Fieber! – doch wenn du leidest, schreib mir – ich will alles theilen – o dann lass mich auch nicht stecken edle Seele zur zeit der Trübsaal, die kommen könnte, wo ich dich flöhe und alle Lieben! Verfolge mich ich bitte dich, verfolge mich mit deinen Briefen dann, und rette mich von mir selbst. /

Auf beyliegendem Blättgen ist abgeschrieben das Bleystifft Zettelgen wovon ich vorhin sprach. Liebe! liebe! und so leb wohl. dℓ. 25. Merz. 1775.

Nicht doch du musst ​1 das Original haben! – Was wär ein Kuss in Copia!

  1. muss​st​ ↑

H: FDH/FGM Frankfurt a. M., Sign.: 25745, ehemals Slg Brockhaus. – Doppelblatt 19 × 23(–23,3) cm, 1 ⅛ S. beschr., egh., Tinte; S. 4 Adresse, Tinte: Augusten; rote Siegelspuren. – Beischluss zu einem nicht überlieferten Brief vermutlich an Boie (vgl. EB 67).

E: Goethe-Stolberg​1 (1839), 88, Nr 4.

D: Goethe-Stolberg​2 (1881), 15–17, Nr 4.

WA IV 2 (1887), 247–249, Nr 308 (wahrscheinlich nach D [1881]; Hinweis auf H und Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 212).

Zettelgen (vgl. zu 178,19).

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Augusta zu Stolbergs aus der zweiten Märzhälfte 1775 (vgl. 178,15). – Der Antwortbrief (vgl. zu 188,8) ist nicht überliefert.

dein Brief] Nicht überliefert.

verdrüslichen Geschäfft] Vermutlich ist ein Geschäfft im Zusammenhang mit Goethes Anwaltstätigkeit gemeint. Im März 1775 war er u. a. mit der Angelegenheit ‚Rachel Wetzlar in Sachen Nathan Wetzlar gegen Creditores‘ beschäftigt, wozu u. a. Eingaben vom 20. und 27. März überliefert sind (vgl. DjG​3 5, 210–213). Außerdem vertrat Goethe seit 1774 Schuldforderungen der ‚Budde'schen Erben‘, wofür er am 24. März 1775 einen Schriftsatz verfasste (vgl. Georg Ludwig Kriegk: Deutsche Kulturbilder aus dem achtzehnten Jahrhundert. Nebst einem Anhang: Goethe als Rechtsanwalt. Leipzig 1874, S. 451–453).

beygehendes Zettelgen] Nicht überliefert; offenbar hatte Goethe das hier erwähnte mit Bleistift beschriebene Blättchen noch einmal abgeschrieben, um diese Abschrift, die gleichfalls nicht erhalten ist, dem Brief beizulegen, sich schließlich aber doch entschlossen, das zuerst geschriebene Zettelgen mitzuschicken (vgl. zu 179,15).

Schildrung dein und deines Lebens] Wahrscheinlich mit Bezug auf den oben erwähnten nicht überlieferten Brief geschrieben, in dem die Adressatin Goethes viel früher vorgebrachte Bitte, Mitteilung von ihrem Leben (vgl. 164,25–26) zu machen, erfüllt haben wird. – Augusta zu Stolberg lebte in Uetersen außerhalb des Klostergeländes, was für eine Konventualin nicht ungewöhnlich war. Gemeinsam mit der Freundin Metta von Oberg (vgl. zu 179,5) bewohnte sie das Haus der ehemaligen Priorin Margarethe Hedwig von Buchwaldt. Über ihre äußeren Lebensumstände hatte die Adressatin unmittelbar nach ihrer Ankunft in Uetersen am 4. Oktober 1770 ihrer Freundin Sophie Bernstorff, der Pflegetochter von Charitas Emilie und Hartwig Ernst von Bernstorff, mitgeteilt: „〈…〉 der ort gefällt mir beßer als daß erstemahl ich bin sehr gut logirt, und habe einen kleinen Garten am Hause.“ (Schumann, Auguste Stolberg, 255.) Ihren Tagesablauf beschrieb Augusta in einem Brief an dieselbe Freundin vom 7. Februar 1771: „〈…〉 wie ich den Tag zubringe will ich Ihnen sagen, Ich lerne Englisch welches so ziemlich gut geht, daß thue ich fast den ganzen Morgen und Vor mittag wenn ich mich denn müde gelernt habe so erhole ich mich wieder und womit wohl? Errähts du daß noch nicht? Dann lese ich gehe zu meiner Freundin oder schreibe an meine Abwesenden Freunde so wie nun jzt an Sie meine Bernstorff. Izt lese ich Croneck den ich ungemein liebe, sein Codrus hat mich entzückt welche freye und Edle Denkungs Art herscht nicht darinnen, seine Einsamkeiten liebe ich sehr sie machen einen auf eine sehr angenehme und wehmüthige Art traurig welches ich sehr liebe. Viel kan ich wie sie wohl dencken können nicht lesen da ich meine meiste Zeit den Englischen gebe, Ach wie freue ich mich auf die Zeit da ich einen Göttlichen Young Milton und Ossian werde leßen können deren Ubersetzung mich schon so sehr entzückt! / Meinen lieben Meßias Giseke Gesner Lavater Haller und viel in Young habe ich schon hier geleßen.“ (Ebd., 257.)

deines Ehlers] Martin Ehlers, Rektor des Altonaer Christianeums und pädagogischer Schriftsteller, gehörte zum engsten Freundeskreis Augusta zu Stolbergs und ihrer Familie. „Ehlers liebe ich sehr, und er ist von allen der, mit dem ich am vertrautesten bin“, schrieb sie am 31. Mai 1773 an die Brüder Christian und Friedrich Leopold (Schumann, Auguste Stolberg, 264). In ihren Briefen erwähnte Augusta Ehlers häufig als „Bon et cher“, so z. B. gegenüber Boie, der Ehlers Anfang 1774 persönlich kennen gelernt hatte (vgl. Briefe an Boie, 322, 336, 338 u. ö.). Goethe scheint selbst in Kontakt zu Ehlers getreten zu sein (vgl. EB 218). 1776 ging Ehlers als Philosophieprofessor nach Kiel, wo er als Mentor von Augustas jüngerem Bruder Magnus der Familie zu Stolberg verbunden blieb.

deiner Brüder] Christian und Friedrich Leopold zu Stolberg.

Briefe] Nicht überliefert (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 266).

deiner innigen Freundin] Gemeint ist die Uetersener Stiftsdame Anna Metta Baronesse von Oberg, mit der sich Augusta zu Stolberg schon kurz nach ihrer Ankunft in Uetersen befreundet hatte. In den folgenden Jahren wurde Metta von Oberg, obwohl 17 Jahre älter als Augusta, zu deren engster Vertrauten, die sie in fast jedem Brief erwähnt. Über den Beginn dieser Freundschaft berichtete Augusta in einem Brief an Sophie Bernstorff vom 18. November 1770: „Sie fragen mich liebe Freundinn nach der Oberg, und indem sie den Nahmen nennen, nennen sie eine sehr liebenswürdige und ganz charmante Person. Sie ist die Bescheidenheit und Sanfmuth selbst, hat das beste Hertz, die Edelsten Gesinnungen, ist ganz Gefühl und ganz Empfindung. Ich weiß sie nehmen einen sehr freundschaftlichen Antheil an meinen Glück, und also sage ich Ihnen viel von meiner Freudinn. Ach liebste Freundinn wie glücklich bin ich daß ich hier eine Person gefunden habe der ich diesen süßen Namen geben kan, ich liebe sie recht sehr zärtlich und sie liebt mich auch. Welchen unschäzbaren Werth hat doch der Umgang einer Freundinn 〈…〉, die Freundschaft ist doch mein größtes Glück! Sie liebt die lecture so sehr als man sie nur lieben kann, sie ließt itzund den Messias der sie entzückt 〈…〉.“ (Schumann, Auguste Stolberg, 256.)

wie sie auf der Wand gezeichnet worden] Gemeint sind so genannte Original-Silhouetten, gezeichnet nach den Schattenbildern in Lebensgröße, die Goethe gegenüber den verkleinerten Profilporträts bevorzugte (vgl. zu 160,25).

ohnausgeschnitten] Nicht ausgeschnitten. – Es war üblich, von den geschwärzten und meist verkleinerten Silhouetten Scherenschnitte herzustellen.

weg mit dem Fieber! 〈…〉 schreib mir] Wahrscheinlich hatte die Adressatin in ihrem nicht überlieferten Bezugsbrief von ihrem Gesundheitszustand berichtet, der Freunden und Verwandten häufig Anlass zur Sorge bot. So hatte sie in einem Brief vom 7. März 1775 an Boie geschrieben: „〈…〉 ich bin vor 8 Wochen sehr sehr krank geweßen, ich habe entzezlich viel an einer heftigen ​Gallen Colik gelitten, und wäre nicht schnelle hülffe gekommen, so – ja so hätte ich wohl sterben können, ich bin izt wohl, und doch habe ich mich wirklich noch nicht völlig erhohlt – 〈…〉.“ (Briefe an Boie, 338.)

rette mich von mir selbst] Diese Bitte griff Augusta in ihrem Altersbrief an Goethe vom 15. und 23. Oktober 1822 wieder auf: „Sie bitten mich einmal in Ihrem Briefe, ‚Sie zu retten' – nun maaße ich mir wahrlich nichts an, aber so ganz Einfältigen Sinns bitte ich Sie, retten Sie sich selbst. nicht wahr Ihre Bitte giebt mir dazu einiges Recht?“ (H: GSA 28/192.)

beyliegendem Blättgen] Nicht überliefert (vgl. zu 178,19).

das Original] Gemeint ist offenbar das oben erwähnte Zettelgen (178,19).

ein Kuss in Copia!] Wahrscheinlich eine Anspielung auf den Inhalt der nicht überlieferten Beilage.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 213 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR213_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 178–179, Nr 213 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 446–448, Nr 213 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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