Goethes Briefe: GB 2, Nr. 176
An Johanna von Voigts

Frankfurt a. M. , 28. Dezember 1774. Mittwoch → 〈Osnabrück〉


Madame


Man ergötzt sich wohl wenn man auf einem Spaziergang ein Echo antrifft, es unterhält uns, wir rufen, es antwortet, sollte denn das Publikum härter, unteilnehmender als ein Fels seyn? Schändlich ists dass die garstigen Rezensenten aus ihren Hölen im Nahmen aller derer antworten, denen ein Autor oder Herausgeber Freude gemacht hat.

Hier aber Madame nehmen Sie meinen einzelnen Danck für die Patriotische Phantasien Ihres Vaters, die durch Sie erst mir u. hiesigen Gegenden erschienen sind. Ich trag sie ​1 mit mir herum, wenn, wo ich sie aufschlage wird mirs ganz / wohl, und hunderterley Wünsche, Hoffnungen, Entwürfe entfalten sich in meiner Seele. Empfelen Sie mich Ihrem Hℓ. Vater, nehmen Sie diesen Grus so mit ganzem Herzen auf wie ich ihn gebe, und lassen ​2 sich nicht an der Ausgabe des zweiten Theils hindern

Madame
Dero   
ergebenster
Goethe

  1. S​sie​ ↑
  2. last​sen​ ↑

H: Öffentliche Bibliothek Universität Basel, Autographensammlung Geigy-Hagenbach 1054. – 1 Bl. 18,5 × 22,9 cm, 2 S. beschr., egh., Tinte.

E: B〈ernhard〉 R〈udolph〉 Abeken: Reliquien von Justus Möser und in Bezug auf ihn. Berlin 1837, S. 6.

D: DjG​1 3 (1875), 56 f.

WA IV 2 (1887), 222 f., Nr 274 (nach E und D; mit einem Hinweis auf den Besitzer der Handschrift [1905], WA IV 30, 253).

Der Brief bezieht sich auf die Zusendung von Justus Mösers „Patriotische Phantasien“ (vgl. 153,13–14); ein Begleitbrief ist nicht überliefert. – Der Antwortbrief (vgl. die einleitende Erläuterung) ist nicht überliefert.

Johanna (Jenny) Wilhelmine Juliane von Voigts geb. Möser (1749–1814), verheiratet mit dem Justizrat Johann Gerlach Jost von Voigts in Osnabrück, war die Tochter Justus Mösers, des Osnabrücker Historikers. Herder hatte in Straßburg auf Möser aufmerksam gemacht, und Goethe lernte die Schriften dieses unvergleichlichen Mannes schätzen (AA DuW 1, 490 [13. Buch]). Johanna von Voigts sammelte die 1768 und 1769 in den „Osnabrückischen Intelligenz-Blättern“ (Beilage der „Westphälischen Beyträge zum Nutzen und Vergnügen“) zerstreut erschienenen Aufsätze ihres Vaters und veröffentlichte sie in der Sammlung „Patriotische Phantasien“ (Berlin 1775), deren 1. Band gerade (also schon Ende 1774) bei Friedrich Nicolai erschienen war. Diesen Band hatte die Herausgeberin Goethe übersandt. Wie sehr dieser Mösers Texte schätzte, geht noch aus seinem späteren Urteil im 13. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ hervor: An diesen kleinen Aufsätzen, welche, sämmtlich in Einem Sinne verfaßt, ein wahrhaft Ganzes ausmachen, ist die innigste Kenntniß des bürgerlichen Wesens im höchsten Grade merkwürdig und rühmenswerth. (AA DuW 1, 491.) Es folgt eine ausführliche Würdigung. Im vorliegenden Brief bedankt sich Goethe für die Buchsendung. Es scheint einen Antwortbrief Johanna von Voigts gegeben zu haben; denn Goethe erinnert sich: Sie und ihr Vater nahmen diese Aeußerung eines nicht ganz unbekannten Fremdlings gar wohl auf, indem eine Besorgniß die sie gehegt, durch diese Erklärung vorläufig gehoben worden. (Ebd.) Mit der Erklärung ist gemeint, daß die für einen bestimmten Kreis berechneten wirksamen Aufsätze, sowohl der Materie als der Form nach, überall zum Nutzen und Frommen dienen würden. (Ebd.)

Außer dem vorliegenden sind fünf weitere Briefe Goethes an Johanna von Voigts aus den Jahren 1781/82 überliefert. Anlass der späteren Korrespondenz war die Übersendung von Mösers 1781 erschienener Schrift „Ueber die deutsche Sprache und Litteratur“ (zum Begleitbrief, dem einzigen überlieferten Brief von Johanna von Voigts an Goethe, vgl. RA 1, 88, Nr 145). In dieser Abhandlung, die sich gegen die abschätzige Behandlung der deutschen Literatur in der Schrift „De la littérature Allemande“ (Berlin 1780) des preußischen Königs Friedrich II. wendet, verteidigt Möser die deutsche Literatur und Goethes „Götz von Berlichingen“ als ein bedeutendes Zeugnis derselben.

wo ich sie aufschlage] Mösers Aufsatzsammlung „Patriotische Phantasien“ war z. B. Gesprächsthema bei der Zusammenkunft zwischen Goethe und Erbprinz Carl August von Sachsen-Weimar und Eisenach in Mainz vom 13. bis 16. Dezember 1774 gewesen (vgl. AA DuW 1, 529 f. [15. Buch]).

lassen sich nicht 〈…〉 hindern] In der Vorrede zur Aufsatzsammlung hatte Johanna von Voigts geschrieben: „〈…〉 indessen hoffe ich doch nicht zu sündigen, wenn ich alle und jede so dieses lesen werden, inständig ersuche, das Werk statt meiner zu loben, und mir zu meiner guten Absicht recht viele Käufer zu verschaffen. Sie sollen dann auch noch einen zweyten oder dritten Theil haben, wenn ihnen damit gedienet ist.“ (o. S.) Insgesamt erschienen 4 Teile, der 2. Teil 1776, der letzte 1786.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 176 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR176_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 153, Nr 176 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 382–383, Nr 176 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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