Goethes Briefe: GB 2, Nr. 173
An Heinrich Christian Boie

Frankfurt a. M. , 23. Dezember 1774. Freitag → 〈Göttingen〉

〈Druck〉


Auch wieder ein Wort mein l. Boje das ich Ihnen so lang schuldig bin, und herzlichen Danck für die überschickten Sachen. Schönborn schreibt aus Algier, grüst Sie, und meldet dass Sie mir einige Sachen für ihn senden würden. Thun Sies doch gleich, und auch eine Gel. Republ. für ihn, die hat der Arme noch nicht gelesen. Ich mach ihm allerley zusammen und spedirs nach Marseille. So kriegt ers eben gegen das Frühjahr. Behalten Sie unsern frugalen Abend im Gedächtniss, und schicken mir doch indess auf Abschlag die Niobe, recht wohl gepackt ich bitte. Sie glauben nicht wie noth mirs wieder um so eine Erscheinung thut. Sie sollen auch einen ganz neu gefertigten Medaillon von meiner Nase haben, der ganz wohl gerathen ist. Das heisst nun zwar immer Gold gegen Bley, Aber zu meinem Bley leg ich eine grose Quantität guten willen. Die versprochnen Gedichte kriegen Sie auch nächstens. Hahn ist ein sehr lieber Mann. Ich zeichne mehr als ich sonst was thue, liedere auch viel. Doch bereit ich alles, um mit Eintritt der Sonne in den Widder eine neue Producktion zu beginnen, die auch ihren eignen Ton haben soll. Es ist wieder Eis Bahn, adieu ihr Musen, oder mit hinaus auf die Bahn, wohin ihr Klopstocken folgtet. Adieu l. Mann. Behalten Sie mich lieb. Frfurt. d. 23 Dez. 1774.

G.

H: Verbleib unbekannt; bis 1944 Privatbesitz der Familie Chalybaeus, Kiel.

E: Weinhold (1868), 187 f. (nach H).

D​1: DjG​1 3 (1875), 54 f.

D​2: WA IV 2 (1887), 219 f., Nr 271 (nach E und D​1) (Hinweis auf H und Textkorrekturen nach DjG​2 4, 158 in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 211).

D​3: DjG​2 4 (1910), 158, Nr 285 (nach H: „Kollation von Eugen Wolff“ [DjG​2 6, 331, zu Nr 201]).

D​4: DjG​3 4 (1968), 263 f., Nr 296 (nach D​3).

Textgrundlage: D​3. – Von den beiden auf H zurückgehenden Textzeugen E und D​3 scheint D​3 durch die für den jungen Goethe charakteristische Verwendung von ‚ss‘ (statt ‚ß‘) und ‚ck‘ (statt ‚k‘) den zuverlässigeren Text zu bieten, zumal in E ein offensichtlicher Lesefehler unterlaufen ist; vgl. Überlieferungsvarianten.

dass] daß ​E  senden] spenden ​E kriegt] bringt ​(Lesefehler) E  heisst] heißt ​E  Aber] aber ​E  willen.] ​Absatz E Producktion] Produktion ​E  23] 23. ​E

Der Brief beantwortet, wie aus dem Anfang hervorgeht, einen nicht überlieferten Brief Boies. – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

die überschickten Sachen] Darunter war, wie Nr 170 nahelegt, der von Boie herausgegebene Göttinger „Musen Almanach“ auf das Jahr 1775. Weiteres ist nicht ermittelt worden.

Schönborn schreibt] Der Brief von Gottlob Friedrich Ernst Schönborn ist nicht überliefert. Über Schönborn und seinen Aufenthalt in Algier vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 123.

Gel. Republ.] Gelehrte Republik: Die deutsche Gelehrtenrepublik. Ihre Einrichtung. Ihre Geseze. Geschichte des lezten Landtags. Auf Befehl der Aldermänner durch Salogast und Wlemar. Herausgegeben von Klopstock. T. 1. Hamburg 1774.

spedirs] Spedieren: versenden (ital. spedire: abfertigen, versenden).

frugalen Abend] Boie hatte Goethe am 15. und 17. Oktober 1774 in Frankfurt besucht.

die Niobe] Gipsabdruck des Kopfes der Niobe aus der antiken Plastikgruppe der Niobe und ihrer Töchter von Praxiteles oder Skopas (in den Uffizien von Florenz); vgl. die Eintragung in Goethes Ausgabebüchlein unter dem 7. April 1775: Niobe. Trinkgeld 6. 〈Kreuzer〉 (AB, 4). Auch im 13. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ ist vom Kauf von Gipsabdrücken die Rede; dort werden aber nur Köpfe 〈…〉 der Niobe Töchter erwähnt (AA DuW 1, 466). – Niobe, die Tochter des Tantalus, prahlt vor Leto mit ihrem Kinderreichtum. Apollon und Artemis nehmen für die Kränkung ihrer Mutter Rache, indem sie Niobes sieben Söhne und sieben Töchter töten.

Medaillon] Gemeint ist vermutlich das Medaillon von dem Bildhauer und Medailleur der Höchster Porzellanmanufaktur Johann Peter Melchior. Ein Exemplar befindet sich in den Sammlungen im GNM (vgl. Katalog der Direktion Museen der Stiftung Weimarer Klassik). Das Medaillon ist abgebildet u. a. in: Ernst Schulte-Strathaus, 16 f. [Erläuterungen], Tafel 22 [Abb.]); Goethe. Seine äußere Erscheinung. Literarische und künstlerische Dokumente seiner Zeitgenossen. Hrsg. von Emil Schaeffer und Jörn Göres. Frankfurt a. M. 1999, S. 62.

von meiner Nase] Damit spielt Goethe auf ein Charakteristikum seiner Physiognomie an; auch als er Charlotte Kestner ein Bildnis von sich schickte, hatte er die lange Nase (43,14) betont.

Gold gegen Bley] Nach Homers „Ilias“ (6,235 f.).

Die versprochnen Gedichte] Im „Musen Almanach“ auf das Jahr 1776, den nicht mehr Boie, sondern der mit ihm und den Dichtern des Göttinger Hains befreundete Johann Heinrich Voß herausgab, erschienen von Goethe die Gedichte „Kenner und Künstler“ (S. 37 f.; DjG​3 4, 268 f.) und „Der Kenner“ (S. 73 f.; DjG​3 4, 267 f.), später unter dem Titel „Kenner und Enthusiast“ (WA I 2, 187). Vgl. darüber auch zu 114,10–12.

nächstens] Ein entsprechender Brief ist nicht überliefert. Der nächste überlieferte Brief Goethes an Boie stammt erst vom 6. Juni 1797 (WA IV 12, 139 f., Nr 3562).

Hahn] Johann Friedrich Hahn, Student der Rechte, vom Frühjahr 1775 an Student der Theologie in Göttingen; er gehörte wie Boie und Voß zu den Gründungsmitgliedern des Göttinger Hains.

ein sehr lieber Mann] Hahn wird als „sehr düster“ geschildert: Er ging „in finsterer Reizbarkeit und krankhaftem Menschenhaß unter. In ihm arbeitete der Freiheitsdrang unter den Göttinger Dichtern am stärksten, er ist der leidenschaftlichste Tyrannenfeind des Bundes. Seine Kränklichkeit in Leib und Sele 〈sic〉 ließ ihn nicht zur Entwickelung kommen.“ (Weinhold, 48 und 49.)

Ich zeichne mehr als ich sonst was thue] Über Goethes Beschäftigung mit dem Zeichnen vgl. zu 134,24–25.

liedere] Wortschöpfung Goethes für ‚Lieder machen‘ (vgl. Grimm 6, 992); das „Deutsche Wörterbuch“ kennt nur diese einzige Belegstelle.

Eintritt der Sonne in den Widder] Der astronomische Beginn des Frühlings wird auf der nördlichen Halbkugel der Erde auf den 21. März gesetzt; bei Frühlingsanfang steht die Sonne im so genannten Frühlings- oder Widderpunkt und durchwandert in der Folge die Frühjahrszeichen Widder, Stier und Zwilling.

neue Producktion] Nicht zuverlässig ermittelt; vielleicht ist an „Egmont“ zu denken. Dafür könnte die Lektüre der „Patriotischen Phantasien“ von Justus Möser sprechen (vgl. Nr 176), die im Drama nachklingt, ebenso wie der Bericht über die Entstehung des Trauerspiels im 19. Buch von „Dichtung und Wahrheit“: Nach dem „Götz von Berlichingen“ habe er, so erinnert sich Goethe, nach einem ähnlichen Wendepunct der Staatengeschichte Ausschau gehalten und sei auf den Aufstand der Niederlande aufmerksam geworden (AA DuW 1, 635). – Vgl. auch EGW 3, 185.

wohin ihr Klopstocken folgtet] Klopstock, der in seiner Jugend begeisterter Reiter, Schwimmer und Schlittschuhläufer war, hatte dem Eislauf Oden gewidmet: „Der Eislauf“ (1764), „Die Kunst Tialfs“ (1767), „Der Kamin“ (1770). Vgl. über Klopstocks sportliche Interessen auch die einleitende Erläuterung zu Nr 113 sowie zu 135,1 und zu 135,22.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 173 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR173_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 151, Nr 173 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 374–376, Nr 173 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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