Goethes Briefe: GB 2, Nr. 172
An Sophie La Roche

〈Frankfurt a. M. , 22. Dezember〉 1774. 〈Donnerstag〉 → 〈Ehrenbreitstein bei Koblenz〉


Könnt ich Ihnen liebe Mama recht viel guts für Ihren guten Brief geben. Was ich habe geb ich gern. den dechant hab ich die Zeit nicht gesehen. Ich war in Maynz! dahin nachgereist Wielands Prinzen, das ein treflicher Mensch ist. Ich hab von da aus Wielanden geschrieben, es fiel mir so ein, hab auch eine Antwort, wie ich sie vorfühlte. das ist was verfluchtes dass ich anfange mich mit niemand mehr misszuverstehn. Ein Missverständniss zwischen der Serviere u. der Kleinen nichts als Missverständniss, und so ein ding reisst fort wie eine gefallne Masche in einem Strumpf, man hätts im Anfang mit Einer ​1 Nadel fangen können. Nächsten Conzert Abend will ich die Kleine vornehmen, heut war ich bey der alten Baase, die recht gut ist. So gehts in der Welt, u. ich bin treffℓ. solche sachen einzugleichen Wenn ich auch Hℓ. v. Hohenf. zu Nuzze in der Welt seyn kann ist mirs grose Freude, ich wünsch ihm zu seinem Griechischen / Glück. Er wird sich künftig die Mühe dancken die er sich gegeben hat.

Heut krieg ich ein Exemplar ​Werther zurück, das ich umgeliehen hatte, das von einem wieder an andre war gegeben worden, und siehe, vorn auf das Weisse Blat ist geschrieben: Tais Toi Jean Jaques ils ne te comprendront point! – das that auf mich die sonderbarste Würckung weil diese Stelle im Emil mir immer sehr merckwürdig war.

Meine Klettenberg ist todt. Todt eh ich eine Ahndung einer gefährlichen Kranckheit von ihr hatte. Gestorben begraben in meiner Abwesenheit, die mir so lieb! so viel war. Mama das picht die Kerls, und lehrt sie die Köpfe strack halten – Für mich – noch ein wenig will ich bleiben –

Kommen Sie nur, mein Sessel wartet ihrer, der Zeugniss ist zwischen mir und Ihnen dass wir guten Muth haben wollen. / Sie haben nun wohl den Almanach für die Max gekriegt und ihr ihn ​2 auch zurückgesendet.

Reichs Brief ist gut. 1 Carolin für den gedruckten Bogen könnt er wohl buchhändlerisch geben. Ich mag gar nicht daran dencken was man für seine Sachen kriegt. Und doch sind die Buchhändler vielleicht auch nicht in Schuld. Mir hat meine Autorschafft die Suppen noch nicht fett gemacht, und wirds u. solls auch nicht thun.

zu einer Zeit da sich so ein groses Publikum mit Berlichingen beschäfftigte, und ich soviel Lob und Zufriedenheit von allen Enden einnahm, sah ich mich Genötigt Geld zu borgen, um das Papier zu bezahlen, worauf ich ihn hatte drucken lassen.

Mich freut dass Lulu glücklich durch den gefährlichen Pass ist, ich wusst es von der Max, und war mir halb bange. die hiesige gel. Zeitung ist manchmal gut, aber durchgehends weder für ​3 herz noch ​4 Geist eines Manns wie Hℓ. v. H. Adieu Mama. Bey Tags Anbruch nach der längsten Nacht. 1774.

G.

  1. e​Einer​ ↑
  2. i×​hn​ ↑
  3. h​r​ ↑
  4. ​noch​ ↑

Die längste Nacht des Jahres (vgl. 150,28–29) ist die vom 21. auf den 22. Dezember. Demnach stammt der Brief vom 22. Dezember 1774.

H: GSA Weimar, Sign.: 29/294,I, Bl. 18–19. – Doppelblatt 18,5 × 23 cm, 3 S. beschr., egh., Tinte, sorgfältig geschrieben; S. 4 oben und unten rechts Abdruck einer Verschlussoblate (?); obere rechte Ecke beider Blätter abgerissen.

E: Assing (1859), 367–369, Nr 1.

WA IV 2 (1887), 217–219, Nr 270 (Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 211).

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Sophie La Roches (vgl. 149,11–12). – Der Antwortbrief, ein Begleitbrief zu einer Manuskriptsendung, den Goethe mit Nr 179 erwiderte (vgl. 155,25), ist nicht überliefert.

dechant] Damian Friedrich Dumeiz.

in Maynz] Goethe hatte Carl August von Sachsen-Weimar und Eisenach am 12. Dezember in Frankfurt kennen gelernt (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 169); der Prinz befand sich in Begleitung seines Bruders Constantin und dessen Erziehers, Carl Ludwig von Knebel (vgl. Nr 169), auf der Kavaliersreise nach Paris, wo er ein halbes Jahr bleiben sollte. Auf Einladung Carl Augusts hielt sich Goethe vom 13. bis 15. Dezember in Mainz auf (vgl. AA DuW 1, 531 [15. Buch]).

Wielands Prinzen] Carl August, dessen Erzieher seit 1772 Wieland war.

Wielanden geschrieben] Bei dem nach Goethes Erinnerung freundlichen Brief (AA DuW 1, 535 [15. Buch]) handelt es sich um Goethes ersten Brief an Wieland; er ist nicht überliefert (vgl. EB 50). Nach Erinnerungen Friedrich Justin Bertuchs soll es sich um ein „launiges Billet“ gehandelt haben, „welches Goerz an leztern 〈Wieland〉 schickte, in der Meinung sie zu reconcilieren. Es enthielt aber nur die Versicherung, daß Gn. die Bratwürste mit den Prinzchen votreflich schmeckten, u. daß er wünsche, liebden Wieland wären auch dabei“ (aufgezeichnet im Tagebuch von Carl Bertuch unter dem 14. Oktober 1809; H: GSA 6/3069; vgl. auch Thomas C. Starnes: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk. Aus zeitgenössischen Quellen chronologisch dargestellt. Bd 1. Sigmaringen 1987, S. 528 f.). Wieland schrieb am 24. Dezember an Knebel: „Il 〈Goethe〉 m'a écrit une petite lettre, qui au premier moment m'a ​fait une surprise par un air de naiveté qu'elle porte; cependant après l'avoir bien lue et relue, j'ai vu ce que tout le monde y voit (car je la laisse lire à qui veut): que le Seigneur Goethe n'a eu d'autre idée que de se mocquer de moy.“ (WB 5, 322. – Er hat mir einen kleinen Brief geschrieben, der mich im ersten Augenblick durch den Ausdruck von Naivität, den er enthält, überrascht hat; indessen, nachdem ich ihn genau gelesen und wieder gelesen hatte, habe ich erkannt, was alle Welt darin findet [denn ich lasse ihn jeden lesen, der es will]: daß der große Herr Goethe nichts anderes im Sinne gehabt hat, als sich über mich lustig zu machen.) Dennoch scheint Wieland freundlich geantwortet zu haben, wie die folgenden Zeilen des vorliegenden Briefes annehmen lassen; vgl. auch Goethes Brief an Knebel vom 28. Dezember (Nr 175; 152,24–25) sowie WB 6 III, 1364.

das ist was verfluchtes 〈…〉 misszuverstehn.] Über eine ähnliche Äußerung Goethes berichtet Knebel in seinem Brief an Friedrich Justin Bertuch vom 23. Dezember; Goethe habe eines Abends in Mainz „ganz traurig“ gesagt: „Nun bin ich mit all den Leuten wieder gut Freund, den Jacobis, Wieland – das ist mir gar nicht recht. Es ist der Zustand meiner Seele, daß, so wie ich etwas haben muß, auf das ich eine Zeit lang das Ideal des vortrefflichen lege, so auch wieder etwas für das Ideal meines Zorns.“ (BG 1, 308.)

der Serviere u. der Kleinen] Gemeint sind Maria Johanna Josepha Servière, die mit Dumeiz befreundete Frau des Frankfurter Weinhändlers und Parfumfabrikanten Peter Joseph Servière (vgl. AA DuW 1, 483 [13. Buch]; Bach, Goethes „Dechant Dumeiz“, 306 f.), und Sophie La Roches Tochter Maximiliane Brentano.

Nächsten Conzert Abend] Am Freitag, dem 23. Dezember: Nach dem „Avertissement“ im „Anhang“ der „Ordentlichen wochentlichen Franckfurter Frag- und Anzeigungs-Nachrichten“ vom 22. November 1774 fanden im Winter 1774/75 – wie im Jahr zuvor (vgl. zu 70,19) – „alle Freytag 〈…〉 um 6. Uhr Abends“ Konzerte statt.

alten Baase] ,Base‘: Tante; im 18. Jahrhundert umgangssprachlich „in weiterer Bedeutung auch jede Verwandte“ (Adelung 1, 742); hier wohl die etwa 70-jährige Franziska Clara Allesina geb. Brentano, die Tante väterlicherseits von Peter Anton Brentano (vgl. Goethe-La Roche, 93).

einzugleichen] Eingleichen: „Unstimmigkeiten ausgleichen“ (GWb 2, 1457).

Hohenf.] Über Christoph Philipp Willibald von Hohenfeld und sein Griechisch-Studium vgl. 136,18–137,10.

Tais Toi 〈…〉 point!] Franz.: Schweige du, Jean Jacques, sie werden dich gar nicht verstehen! – Die Aufforderung findet sich in Jean-Jacques Rousseaus Roman „Émile, ou de l'éducation“ (Bd 1. Paris 1762); dort heißt es: „〈…〉 tai-toi, Jean-Jacques; ils ne t'entendront pas.“ (Bd 1, S. 131.) Rousseau berichtet an dieser Stelle von einer Diskussion über eine Anekdote, die Plutarch über Alexander den Großen erzählt. Alexander war durch einen Brief benachrichtigt worden, dass sein Arzt Philippus von dem Perserkönig Darius bestochen worden sei und ihn vergiften wolle. Alexander gab den Brief Philippus zu lesen und trank gleichzeitig die Arznei, die dieser ihm gegeben hatte. Die anderen Gesprächsteilnehmer bewunderten Alexanders Mut und Entschlossenheit. Rousseau aber sagte: „Was mich betrifft, 〈…〉 so scheint mir, wäre in Alexanders Haltung auch nur eine Spur von Mut und Entschlossenheit zu finden, wäre sie nur eine Extravaganz. Sofort stimmten alle mit mir überein, daß es eine Extravaganz gewesen wäre. Ich wollte gerade antworten und lebhaft fortfahren, als eine neben mir sitzende Dame 〈…〉 mir ins Ohr flüsterte: Sei still, Jean-Jacques, sie werden dich doch nicht verstehen.“ (Jean-Jacques Rousseau: Emile oder über die Erziehung. Hrsg., eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Martin Rang. Stuttgart 1968, S. 247.)

Meine Klettenberg ist todt.] Susanna von Klettenberg starb am 13. Dezember 1774; vgl. die ausführliche Schilderung von Goethes Mutter im Brief an Lavater vom 26. Dezember (in: Pfeiffer-Belli, 395–399).

picht] Pichen: Mit Pech abdichten, ‚verpichen‘ (vgl. Grimm 7, 1837), hier wohl im Sinne von ‚härten‘, ‚festigen‘.

strack] Nach Adelung (4, 414) veraltet und nur in der Umgangssprache benutztes Wort für ‚gerade‘.

Almanach] Vgl. zu 148,23.

Reichs Brief] Der Brief von Philipp Erasmus Reich an Sophie La Roche ist nicht überliefert. Es ging um den Verlag von Sophie La Roches Roman „Rosaliens Briefe“, der erst 1779–1785 in der Richterischen Buchhandlung in Altenburg erschien.

Genötigt Geld zu borgen] „Götz von Berlichingen“ war im Juni 1773 im von Goethe mit Johann Heinrich Merck betriebenen Selbstverlag veröffentlicht worden.

Lulu] Sophie La Roches Tochter Luise.

hiesige gel. Zeitung] Hiesige gelehrte Zeitung. – Gemeint sind die FGA.

H.] Hohenfeld.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 172 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR172_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 149–150, Nr 172 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 371–374, Nr 172 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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