Goethes Briefe: GB 2, Nr. 168
An Johann Caspar Lavater

〈Frankfurt a. M. , zwischen 5. und 12. Dezember 1774〉 → 〈Zürich〉


Lied

des Phisiognomischen​1 Zeichners.

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O dass die innre Schöpfungskrafft durch meinen Sinn erschölle dass eine Bildung voller Safft, Aus meinen Fingern quölle. Ich zittre nur ich stottre nur Ich kann es doch nicht lassen Ich fühl, ich kenne dich Natur Und so muss ich dich fassen.
Wenn ich bedenck wie manches Jahr Sich schon mein Sinn erschliesset Wie er wo dürre Haide war Jezt Freudenquell geniesset Da ahnd ich ganz Natur nach dir Dich frey und lieb zu fühlen Ein lustger Springbrunn wirst du mir Aus tausend Röhren spielen Wirst alle deine Kraffte mir In meinem Sinn erheitern Und dieses enge daseyn hier Zur Ewigkeit erweitern

Dass du siehst Bruder, ich thue gern was ich kann so​2 hast du da mein lieber, deine Capitels zurück mit Zugaben, sie sind abgeschrieben an Gottern geschickt. Ich dencke so ists das beste, wenn dir recht ist was ich da schreibe so fahr ich fort. denn ich muss meinen Ton halten, unsre beyde zu vermischen geht nicht aber so nach einander mags seine Würckung thun. Hezze dich nicht zu sehr u mach dass es eine anschauliche Ordnung kriegt. Uberhaupt mögt​3 ich das ganze noch einmal übersehen eh es gedruckt wird, doch ich spüre schon es wird zulezt vom Schreibtisch in die Presse gehn. Gehs wies will ich bin nun dabey

  1. Phisiognomist​chen​ ↑
  2. s×​o​ ↑
  3. s mögt​ ↑

Das Lied des Phisiognomischen Zeichners (145,22–23) war zuerst Bestandteil des Gedichtbriefs an Johann Heinrich Merck vom 5. Dezember 1774 (Nr 166). Der Brief an Lavater dürfte daher später geschrieben worden sein, aber vor dem 20. Dezember, denn unter diesem Datum schreibt Lavater an Johann Georg Zimmermann mit Bezug auf den Schluss des vorliegenden Briefes: „Goethe geht alles durch. Gotter übersetzt.“ (Goethe-Lavater​3, 394.) Ferner ist anzunehmen, dass der Brief vor Goethes Bekanntschaft mit dem weimarischen Prinzen Carl August am 12. Dezember und seiner Reise nach Mainz vom 13. bis 15. Dezember entstand, weil Goethe andernfalls wohl eine Bemerkung darüber gemacht hätte (wie im Brief an Sophie La Roche vom 22. Dezember [149,13–14]).

H: UB Leipzig, Slg Hirzel, Sign.: B 50. – 1 Bl. 18,5 × 23 cm, 1 ½ S. beschr., egh., Tinte.

E​1: Goethe-Lavater​1 (1833), 29 f., o. Nr (Teildruck: „Lied eines physiognomischen Zeichners“).

E​2: Hirzel, Goethe-Bibliothek 1874, 182 (Teildruck: 145,22–26 Lied 〈…〉 erschölle; 146,17–22 Dass du siehst 〈…〉 nicht zu sehr).

E​3: DjG​1 3 (1875), 83 f.

WA IV 2 (1887), 257 f., Nr 324 (Korrektur der Datierung in den „Berichtigungen“, WA IV 30, 254).

1) Manuskript von Lavater zu den „Physiognomischen Fragmenten“ (vgl. zu 146,18).

2) „Zugaben“ Goethes zu den „Physiognomischen Fragmenten“ (vgl. zu 146,18).

Der Brief antwortet auf die Zusendung von Manuskriptteilen aus Lavaters „Physiognomischen Fragmenten“; ob es einen Begleitbrief Lavaters gab, ist nicht bekannt. – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

Lied des Phisiognomischen Zeichners.] Vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 166. Mit dem Gedicht schloss Lavater den 1. Band seiner „Physiognomischen Fragmente“, und zwar unter dem leicht veränderten Titel „Lied eines physiognomischen Zeichners“ (S. 272), „saft und kraftlos“, wie Johann Georg Zimmermann in seinem Brief an Lavater vom 22. Mai 1775 fand. Zimmermann hielt seinen Freund Lavater für den Verfasser: „Liebe Seele wie konnte doch Dein starker Kopf sich so weit vergessen, daß Du an diese wichtige Stelle das schlechteste Lied hinsetztest, das Du in Deinem Leben gemacht hast?“ (Goethe-Lavater​3, 394.) Friedrich Nicolai vermutete in seinem Brief an Johann Georg Zimmermann vom 30. Mai 1775: „Hat es Göthe gemacht, so will er gewiß L. 〈Lavater〉 zum besten haben.“ (Sigrid Habersaat: Verteidigung der Aufklärung. Friedrich Nicolai in religiösen und politischen Debatten. T. 2: Friedrich Nicolai in Korrespondenz mit Johann Georg Zimmermann und Christian Friedrich von Blanckenburg. Edition und Kommentar. Würzburg 2001, S. 92; vgl. auch Eduard Bodemann: Johann Georg Zimmermann. Sein Leben und bisher ungedruckte Briefe an denselben. Hannover 1878, S. 30.)

deine Capitels zurück mit Zugaben] Goethe lieferte für das 2. und 3. Fragment (Von der Physiognomik [S. 13–16]; Einige Gründe der Verachtung und Verspottung der Physiognomik [S. 17–22]) jeweils eine „Zugabe“ (S. 15–16; S. 21–22; vgl. DjG​3 4, 276–278).

an Gottern geschickt] Johann Friedrich Wilhelm Gotter sollte eine französische Übersetzung der „Physiognomischen Fragmente“ vornehmen, sagte aber ab; vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 178.

muss meinen Ton halten] Wieland bemerkt in seiner Besprechung des 1. Bandes der „Physiognomischen Fragmente“ im „Teutschen Merkur“: „Die Zusätze sind – wie ziemlich in die Augen fällt – von einer andern, aber auch von einer Meisterhand.“ (September-Heft 1775, S. 282.)

übersehen eh es gedruckt wird] Lavater schrieb am 20. Dezember an Zimmermann: „Morgen gehen die zween ersten Bogen nach Leipzig.“ (Goethe-Lavater​3, 394.) Das Manuskript ging erst nach Frankfurt zurück, von dort am 2. Januar 1775 nach Leipzig (vgl. 155,5–6).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 168 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR168_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 145–146, Nr 168 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 364–366, Nr 168 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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