Goethes Briefe: GB 2, Nr. 166
An Johann Heinrich Merck

〈Frankfurt a. M. 〉, 5. Dezember 1774. Montag → Darmstadt


Mein altes Evangelium Bring ich dir hier schon wieder Doch mir ists wohl um mich herum Darum schreib ich dir's nieder.
Ich hohlte Gold​1 ich hohlte Wein Stellt alles da zusammen Da dacht ich da wird Wärme seyn Geht mein Gemäld in Flammen Auch thät ich bey den Schäzzen hier Viel Glut und Reichtuhm schwärmen Doch Menschenfleisch geht allem für Um sich daran zu wärmen. O dass die innre Schöpfungskrafft durch meinen Sinn erschölle​2 Dass eine Bildung voller Safft Aus meinen Fingern quölle. Ich zittre nur ich stottre nur Ich kann es doch nicht lassen Ich fühl ich kenne dich Natur Und so muss ich dich fassen.
Wenn ich bedenck wie manches Jahr Sich schon mein Sinn erschliesset, / Wie er wo dürre Haide war Nun Freudenquell geniesset Da ahnd ich ganz Natur nach dir dich frey und lieb zu fühlen Ein lustger Springbrunn wirst du mir Aus tausend Röhren spielen Wirst alle meine Kräffte mir In meinem Sinn erheitern Und dieses enge daseyn hier Zur Ewigkeit erweitern.


G.

  1. Ge​old​ ↑
  2. erso​chölle​ ↑

H: Bibliotheca Bodmeriana Cologny-Genève, Sign.: G-30.66. – Doppelblatt 18,7 × 23,4 cm, 1 ½ S. beschr., egh., Tinte; S. 4 Adresse: 〈  〉 Kriegsrath / 〈  〉 Merck / in / darmstadt; darunter Siegelrest; Textverlust in der Adresse durch Ausriss. – Faksimile: Woldemar von Biedermann: Goethe-Forschungen. N . F. Leipzig 1886, zwischen S. 2 und 3.

E​1: Physiognomische Fragmente 1 (1775), 272 (Teildruck: nur die beiden letzten Strophen als „Lied eines physiognomischen Zeichners“).

E​2: 〈Louis Sébastien Mercier:〉 Neuer Versuch über die Schauspielkunst. Aus dem Französischen 〈von Heinrich Leopold Wagner〉. Mit einem Anhang aus Goethes Brieftasche. Leipzig 1776, S. 500 (Teildruck: die beiden ersten Strophen als Verse 1–12 des Gedichts „Brief“, dessen Fortsetzung [Verse 13–42] aus dem Gedichtbrief an Merck vom 4. Dezember [Nr 165] besteht; so unter dem Titel „Sendschreiben“ [WA I 2, 190 f.] in „Goethe's Werke“ [Bd 2. Stuttgart und Tübingen 1815, S. 186 f.] aufgenommen).

E​3: WA IV 2 (1887), 211 f., Nr 266 (Woldemar von Biedermann) (erstmals vollständig als Brief gedruckt, mit Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 210; in Merck, Briefe​1 [1835], 55 Hinweis auf H, Mitteilung einiger Varianten zur Fassung des „Sendschreibens“).

Ein Bezugs- und ein Antwortbrief sind nicht bekannt.

Die beiden letzten Strophen (Verse 13–32) schickte Goethe unter dem Titel „Lied eines physiognomischen Zeichners“ an Lavater (vgl. zu 145,22–23), der es als „Beschluß“ des 1. Bandes der „Physiognomischen Fragmente“ abdruckte (vgl. E​1 sowie die erste Erläuterung zu 181,2). Wie im vorhergehenden Gedichtbrief an Merck (Nr 165) geht es um die Bedeutung der produktiven Kraft der Natur für den Dichter.

altes Evangelium] Entweder ist allgemein ‚alte Überzeugung‘ gemeint, oder der Ausdruck bezieht sich auf den Brief vom Tag zuvor (Nr 165).

O dass die innre Schöpfungskrafft 〈…〉 erweitern.] Leicht bearbeitet unter dem Titel „Künstlers Abendlied“ (WA I 2, 185) aufgenommen in Goethes bei Göschen erschienene „Schriften“ (Bd 8. Leipzig 1790, S. 251 f.).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 166 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR166_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 143–144, Nr 166 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 362–362, Nr 166 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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