Goethes Briefe: GB 2, Nr. 165
An Johann Heinrich Merck

〈Frankfurt a. M. 〉, 4. Dezember 1774. Sonntag → Darmstadt

Lieber Bruder,


Wer nicht richtet sondern fleisig ist Wie ich bin und wie du bist Den belohnet auch die Arbeit mit Genuss Nichts wird​1 auf der Welt ihm berdruss. Denn er bläcket nicht mit stumpfem Zahn lang gesottnes und gebratnes an das er wenn er noch so sittlich kaut2 Endlich doch nicht sonderlich verdaut Sondern fasst ein tüchtig Schinckenbein​3 Haut da gut Taglöhnermässig drein Füllt bis oben gierig den Pokal Trinckt und wischt das Maul wohl nicht einmal
Sieh so ist Natur ein Buch Lebendich Unverstanden doch nicht unverständlich denn dein Herz hat viel und gros Begehr Was wohl in der Welt für Freüde wär, Allen Sonnenschein u. alle Bäume Alles Meergestad​4 u. alle Träume In dein Herz zusammeln mit einander Wie die Welt​5 durchwühlend Bäncks Solander. Und wie muss dirs werden wenn du fühlest dass du alles in dir selbst erzielest. / Freude hast an deiner Frau u. Hunden Als wohl keiner in Elisium gefunden Als er da mit Schatten lieblich schweifte Und an goldnen Gottgestalten streifte Nicht in Rom in Magna Gräzia6 Dir im Herzen ist die Wonne da Wer mit seiner Mutter der Natur sich hält Findt im Stengelglas wohl eine Welt.


G.

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H: GSA Weimar, Sign.: 29/331,I. – Doppelblatt 18,6 × 23 cm, 1 ½ S. beschr., egh., Tinte; S. 4 Adresse: Herrn Kriegsrath / Merck / in / Darmstadt / franck; in der Mitte rechts Siegelrest und Papierverlust, in der Mitte links am Seitenrand Papier ausgerissen durch Öffnen des Siegels.

E​1: 〈Louis Sébastien Mercier:〉 Neuer Versuch über die Schauspielkunst. Aus dem Französischen 〈von Heinrich Leopold Wagner〉. Mit einem Anhang aus Goethes Brieftasche. Leipzig 1776, S. 500 f. (gedruckt – ohne die Anrede Lieber Bruder, – als Verse 13–42 des Gedichts „Brief“, dessen Anfang [Verse 1–12] aus den ersten beiden Strophen des Gedichtbriefs an Merck vom 5. Dezember [Nr 166] besteht; so unter dem Titel „Sendschreiben“ [WA I 2, 190 f.] in „Goethe's Werke“ [Bd 2. Stuttgart und Tübingen 1815, S. 186 f.] aufgenommen).

E​2: WA IV 2 (1887), 327 f., Nr 266a (Woldemar von Biedermann) (erstmals als Brief gedruckt, unter Hinweis auf Merck, Briefe​1 [1835], 55; dort Hinweis auf H, Überschrift und Anfang des ersten Verses sowie Variante wohl statt noch [142,16]).

Ein Bezugs- und ein Antwortbrief sind nicht bekannt.

Der für Goethes ‚Sturm-und-Drang‘-Zeit programmatische Gedichtbrief erinnert in der Auseinandersetzung mit der empfindsamen Rezeption der Antike durch Wieland und Johann Georg Jacobi sowie mit dem Plädoyer für die Hinwendung zur schöpferischen Mutter der Natur (143,11) an die Satire „Götter Helden und Wieland“.

richtet] Gemeint ist: als Kunstrichter, als Literaturkritiker.

Denn er bläcket nicht 〈…〉 nicht einmal] Bildlich für den ‚Hunger nach Welt und Natur‘.

bläcket] Mhd. blecken: aufblitzen lassen, später fast nur in der Wendung ‚Zähne blecken‘, eigentlich als Zeichen der Drohung, die mit stumpfem Zahn allerdings eine leere Drohung ist.

wenn er noch so sittlich kaut] Zielt auf empfindsam-frömmlerische Poesie wie die der Brüder Jacobi.

Natur ein Buch Lebendich] Der Topos vom Buch der Natur in Anklang an den Topos vom Buch der Offenbarung.

Bäncks Solander] Der englische Naturforscher Joseph Banks und der schwedische Botaniker Daniel Solander gehörten zu den Begleitern James Cooks bei dessen erster Reise um die Welt (1768–1771). Im Jahr 1772 erforschten Banks und Solander die Hebriden, die Shetland-Inseln und Island.

alles in dir selbst erzielest] Nach der Weltaneignung in der 1. Strophe: Der Dichter als Demiurg bringt die Welt noch einmal aus sich selbst hervor; vgl. die Schlussstrophe von Goethes „Prometheus“-Gedicht (DjG​3 3, 79).

Elisium] Elysium, die Gefilde der Seligen in der griechischen Mythologie.

Magna Gräzia] Magna Graecia bezeichnete in der Antike das von den Griechen besiedelte Süditalien; hier ist vielleicht Griechenland selbst gemeint.

Stengelglas] Langstieliges Weinglas (vgl. Grimm 10 II 2, 2363; ähnlich Südhessisches Wörterbuch 5, 1393).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 165 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR165_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 142–143, Nr 165 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 360–361, Nr 165 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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