Goethes Briefe: GB 2, Nr. 164
An Johann Georg Jacobi

Frankfurt a. M. , 1. Dezember 1774. Donnerstag → Halberstadt


Mein lieber Canonikus, heut empfang ich die Iris von Friz, einige Blicke die ich hineinthue, wecken in mir das Gefühl vergangner Zeiten, und zugleich ​1 die Erinnerung einiger Lieder die es begleiteten. Ich nehme mir vor sie Ihnen zu schicken, und da ich heut nach Tische zur lieben Tante komme, die den Einfall auch gut, und was ich ihr vorsage zum tone Ihrer Sammlung passend findet, sez ich mich gleich zu ihr hin, und schreibe das aus dem Gedächtniss auf was Sie hier mit erhalten. Können Sie's brauchen; so sezen Sie ​2 verschiedne Buchstaben drunter, sagen niemand was davon, so haben die Hℓ u Damen was zu rathen. /

Leben Sie wohl. Vergessen Sie der guten Stunden nicht die uns im Kreise von Düsseldorf nach Cöln führten. Frizen erwarten wir gegen Ende des Jahrs. Sie könnten auch wohl einmal versuchen wie sich's auf reichsstädtischem Sande sitzzt. Tante grüsst. dℓ. 1 Dezember 1774. Franckfurt.

Goethe.


Interpuncktiren Sie doch die Liedgen, wies dem Leser am vorteilhaftesten ist.

  1. g​zugleich​ ↑
  2. s​Sie​ ↑

H: UB Freiburg/Br., Sign.: NL 7/IV B 159. – 1 Bl. 11,7 × 18,8 cm, 1 ¾ S. beschr., egh., Tinte. – Kuvert 12 × 9,5 cm, Vs. Adresse: An Herrn / Kanonickus Jakobi / in / Halberstadt.; rotes Initialsiegel: „G“.

E: Acht Lieder von Goethe. Zum erstenmale mit Erläuterungen hrsg. von Th〈eodor〉 Bergk. Wetzlar 1857, S. 22.

WA IV 2 (1887), 210 f., Nr 265 (nach E und DjG​1 3, 48; Hinweis auf H und Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 210).

Manuskripte zu Gedichten (vgl. zu 141,14).

Ein Bezugs- und ein Antwortbrief sind nicht bekannt.

Johann Georg Jacobi (1740–1814), der ältere Bruder von Friedrich Heinrich Jacobi, war 1766 Professor der Philosophie und Beredsamkeit in Halle geworden und seit 1768 (mit Unterstützung Gleims) Kanonikus in Halberstadt. 1784 wurde er Professor der schönen Wissenschaften in Freiburg im Breisgau. Jacobis an anakreontischen Mustern geschulte Lyrik und sein empfindsam frömmelndes Christentum fanden zunächst Goethes Spott (vgl. zu 55,17–18), der auch Jacobis Bruder Friedrich Heinrich traf (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 134). Eine nähere, wenn auch nicht freundschaftliche Beziehung entwickelte sich erst nach der persönlichen Begegnung im Juli 1774 in Pempelfort bei Düsseldorf (vgl. darüber zu 103,13 sowie die einleitende Erläuterung zu Nr 132). Goethe lieferte Beiträge zu der von Jacobi und Johann Jacob Wilhelm Heinse herausgegebenen Zeitschrift „Iris“, darunter das Singspiel „Erwin und Elmire“, das im März 1775 erschien. Außer dem vorliegenden ist nur ein weiterer Brief Goethes an Johann Georg Jacobi überliefert (Nr 187); Gegenbriefe sind nicht erhalten.

Canonikus] Auch: Chorherr, Kapitelsherr, Stiftsherr, Domherr: „Geistlicher, der im Chor der Kathedral- und Stiftskirchen den Gottesdienst verrichtet und dafür eine Präbende genießt.“ (Binzer/Pierer 4, 689.)

die Iris von Friz] Friedrich Heinrich Jacobi hatte Goethe (wie auch Wieland, der am 9. Dezember darauf antwortete; vgl. WB 5, 321 f.) die Zeitschrift des Bruders geschickt: Iris. Vierteljahrschrift für Frauenzimmer. Erster Band. October bis Dezember 1774.

Gefühl vergangner Zeiten] Etliche der Lieder, die von Goethe in der „Iris“ veröffentlicht wurden, stammen, soweit Angaben zu ihrer Entstehung vorliegen, aus der Frankfurter Zeit 1768–1770 und der Straßburger Zeit 1770/1771 (Liebe zu Friederike Brion).

einiger Lieder] Goethe, der die Zeitschrift im Brief an Kestner aus der zweiten Februarhälfte 1774 zunächst eine kindische Entreprise (75,13) genannt hatte, urteilte jetzt günstiger; Friedrich Heinrich Jacobi schrieb am 27. Januar 1775 aus Frankfurt an seinen Sekretär Johann Heinrich Schenk: „Bringen Sie doch Rost 〈Heinse〉 gelegentlich bey, 〈…〉 daß Göthen die Abhandlung über die Elegie am allerbesten in der ganzen Iris das ist mit ​ausnehmendem Vorzuge gefallen habe, u daß diese Abhandlung ganz allein ihn bewogen, Georgen die ersten Lieder zu schicken.“ (JB I 1, 275.) Gemeint ist Johann Georg Jacobis Aufsatz „Ueber die Elegie“ im 2. Stück des 1. Bandes der „Iris“ (November 1774, S. 53–76). Möglicherweise wurde Goethe darüber hinaus auch von Versen Johann Georg Jacobis angeregt, etwa durch das Gedicht „An Chloe“ (1. Band. 3. Stück. Dezember 1774, S. 89–91). – Im 2. Band der „Iris“ wurden 1775 folgende Gedichte Goethes gedruckt: „Lied, das ein selbst gemahltes Band begleitete“ (1. Stück. Januar, S. 73 f.; DjG​3 2, 292), „Mayfest“ (1. Stück. Januar, S. 75–77; DjG​3 2, 32 f.), „Der neue Amadis“ (1. Stück. Januar, S. 78–80; DjG​3 4, 269), „An Belinden“ (3. Stück. März, S. 240 f.; DjG​3 5, 28), „Neue Liebe, Neues Leben“ (3. Stück. März, S. 242 f.; DjG​3 5, 27) und „Mir schlug das Herz; geschwind zu Pferde 〈…〉“ (später unter dem Titel „Willkommen und Abschied“; 3. Stück. März, S. 244 f.; DjG​3 2, 294). – In den folgenden Bänden erschienen 1775 weitere Gedichte: „Rettung“ (3. Band. 2. Stück. Mai 1775, S. 157 f.; DjG​3 1, 309 f.), „Ob ich dich liebe, weiß ich nicht 〈…〉“ (4. Band. 1. Stück. Juli 1775, S. 71; DjG​3 2, 32), „Mit einem goldnen Halskettchen überschickt“ (4. Band. 2. Stück. August 1775, S. 148 f.; DjG​3 1, 307), „Den Männern zu zeigen“ (4. Band. 2. Stück. August 1775, S. 160; WA I 4, 163) und „Im Herbst 1775“ (4. Band. 3. Stück. September 1775, S. 249; DjG​3 5, 268). – Außerdem überließ Goethe der Zeitschrift sein Singspiel „Erwin und Elmire“ (2. Band. 3. Stück. März, S. 161–224). Welche Gedichte Goethe mit dem vorliegenden Brief an Jacobi schickte, ist nicht sicher bekannt, vermutlich die im Januar-Heft 1775 gedruckten. Weitere Manuskriptsendungen folgten (vgl. zu 162,9–10).

Tante] Johanna Fahlmer.

verschiedne Buchstaben] Die im 2. Band der „Iris“ erschienenen Gedichte tragen die Siglen „D. Z.“, „P.“, „N.“; einige sind ohne Unterschrift.

von Düsseldorf nach Cöln] Goethe war mit den Brüdern Jacobi am 24. Juli von Düsseldorf nach Köln gereist (vgl. über seine Rheinreise die einleitende Erläuterung zu Nr 132).

Frizen erwarten wir] Friedrich Heinrich Jacobi traf erst um den 8. Januar 1775 in Frankfurt ein (vgl. zu 162,3).

wie sich's auf reichsstädtischem Sande sizzt] Frankfurt a. M. war seit 1375 Freie Reichsstadt, d. h., sie unterstand unmittelbar dem Kaiser und keinem Landesherrn. – Abwandlung des Redensartlichen ‚auf dem Sand, d. h. dem Trockenen, sitzen‘ (vgl. zu 198,16); über Goethes Verhältnis zu Frankfurt vgl. auch zu 63,11–12.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 164 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR164_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 141–142, Nr 164 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 358–360, Nr 164 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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