Goethes Briefe: GB 2, Nr. 163
An Johann Caspar Lavater

〈Frankfurt a. M. , Ende November/Anfang Dezember? 1774〉 → 〈Zürich〉

〈Abschrift〉


〈…〉 Bodmers billet hat mich sehr erfreut, es ist doch nur das ganz einfältige menschliche was groß und rührend ist! Er will mich sehn eh ​1 er stirbt! Er hat galotti auf Wehrters puls gefühlt. der Alt-Vater fühlt in die goldnen tage der jugend zurück, in ihre leiden und freuden. So schildert mir ihn gotter auch. Von Klopstok hör ich nichts

Göthen.

  1. ⎡eh⎤​ ↑

Der Brief geht auf Johann Jacob Bodmers „Werther“-Lektüre ein (vgl. 141,8). Bodmer hatte den Roman am „Martinsfest 1774“ (11. November) gelesen (vgl. seine Kritik im Brief an Johann Heinrich Schinz von diesem Datum; in: Johannes Crueger: Bodmer über Goethe. 1773–82. [Aus dem ungedruckten Nachlass Bodmers auf der Zürcher Stadtbibliothek.]. In: GJb V [1884], 187 f.). In den Tagen danach schrieb er das von Goethe erwähnte (nicht überlieferte) Billett an Lavater, denn schon am 17. November geht Schinz in einem Brief an Bodmer darauf ein (vgl. ebd., 188). Entweder schickte Lavater Bodmers Billett, vermutlich in der zweiten Novemberhälfte, mit einem nicht überlieferten Brief nach Frankfurt, oder er zitierte es darin. Das vorliegende Fragment gehört zu Goethes Antwortbrief, der demnach von Ende November oder Anfang Dezember 1774 stammen könnte. – Vgl. auch Klaus Hurlebusch: Der junge Goethe über den alten Bodmer (vgl. Überlieferung), S. 369–380.

Dass der nur fragmentarisch überlieferte Brief an Lavater gerichtet war, erscheint sicher, da Lavater von Bodmer gebeten wurde, Goethe davon zu unterrichten, dass er ihn zu sehen wünsche (vgl. die einleitende Erläuterung).

H: Verbleib unbekannt.

h: Zentralbibliothek Zürich. – Abschrift eines „Auszugs“ durch Johann Jacob Bodmer auf der letzten Seite eines Briefes von Johann Heinrich Schinz an Bodmer vom 20. November 1774.

E: Klaus Hurlebusch: Der junge Goethe über den alten Bodmer. Ein Goethe-Fund aus der Quellenforschung für die Hamburger Klopstock-Ausgabe. In: Festschrift für Horst Gronemeyer zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Harald Weigel. Herzberg 1993, S. 373 (nach h).

WA: Nicht gedruckt.

Textgrundlage: h.

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Lavaters (vgl. den Anfang des Briefes). – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

Mitte November 1774 wusste Bodmer, dass Goethe zu einem Gegenbesuch Lavaters nach Zürich kommen werde (vgl. Schinz' Brief an Bodmer, 17. November 1774; Crueger: Bodmer über Goethe [s. o.], 188); obwohl er an dessen Roman „Die Leiden des jungen Werthers“ unter religiösem und moralischem Gesichtspunkt heftige Kritik übte (vgl. Bodmers Brief an Schinz, 12. November 1774; ebd.), wünschte er doch den Verfasser persönlich kennen zu lernen und schrieb deswegen an Lavater. Sein Freund Schinz zeigte sich verwundert, als er hörte, „dass Sie 〈…〉 Lavatern geschrieben haben, wie Sie nicht ruhig sterben können, bis Sie Göthen gesehen haben.“ (Brief an Bodmer, 17. November 1774; ebd.) Bodmer stellte dies sogleich richtig: „Sehen Sie, mein Werthester, wie man unsern Ausdruck erweitern kann; ich schrieb Hrn. La. 〈Lavater〉 nur, er sollte Göthen sagen, dass er seine Herkunft beschleunige; ich möchte ihn gern sehn, und könnte nicht lange mehr auf ihn warten. Welche Niederträchtigkeit, wenn ich nicht ruhig sterben könnte, ohne den Mann zu sehn, der die Farçe, die Götter Helden Wieland geschrieben hat!“ (Brief an Schinz, 20. November 1774; ebd., 189.) Da auch Goethe Bodmer im vorliegenden Brief unzutreffend wiedergibt (vgl. 141,7), ist vielleicht anzunehmen, die von Bodmer korrigierte Formulierung gehe auf ein Zitat Lavaters zurück. Goethe besuchte Bodmer am 15. und 29. Juni 1775 während seiner Schweizer Reise in Zürich (vgl. das 18. Buch von „Dichtung und Wahrheit“; AA DuW 1, 607 f.).

Bodmers billet] Vgl. Datierung.

Er hat galotti auf Wehrters puls gefühlt.] In seinem nicht überlieferten Billett an Lavater stellte Bodmer vermutlich eine Beziehung zwischen Werther und Odoardo Galotti her, dem Vater Emilia Galottis in Lessings gleichnamigem Trauerspiel (1772), das aufgeschlagen auf Werthers Pult liegt, als dieser sich erschießt (vgl. den Schluss des Romans [DjG​3 4, 187; WA I 19, 191] sowie Johann Christian Kestners Bericht über den Freitod Carl Wilhelm Jerusalems [abgedruckt in GB 1 II, zu 246,4–5]). „Erscheint Lessing hier im Schönen, da Werther mit der Emilia Galotti in der Hand sich erschiesst?“ heißt es in Bodmers Brief an Schinz vom 17. November 1774 (Crueger: Bodmer über Goethe [s. o.], 188). Gegen beide Werke hegte Bodmer moralische Bedenken; der Freitod Werthers und die Tötung Emilias durch den eigenen Vater erschienen ihm ethisch verwerflich. In einer Parodie – „Odoardo Galotti, Vater der Emilia. Ein Pendant zu Emilia. In einem Aufzuge: und Epilogus zur Emilia Galotti“ (1773 entstanden, anonym erschienen Augsburg 1778) – lässt Bodmer Galotti als Feigling erscheinen, „der den Vater über dem sclavischen Unterthanen vergißt, und der an dem Tyrannen sich zu rächen kein Mittel übrig weiß als die Unschuldige zu ermorden“ (Epilogus, S. 30). Ähnlich beurteilt Bodmer die Figur Werthers: „Ist nicht Wehrter der blödeste, feigherzig〈st〉e Mann? Aber es scheint, der Verf. halte die Feigheit, welche den Schmerzen der Liebe durch den Tod entflieht, für Stärke der Seele.“ (Brief an Schinz, 15. Juni 1775; Crueger: Bodmer über Goethe [s. o.], 192.)

Alt-Vater] Johann Jacob Bodmer, schweizerischer Historiker, Literaturtheoretiker, Dichter und Übersetzer, verstand sich als Mentor und Mäzen junger Dichter; er hatte u. a. Klopstock und Wieland gefördert. Goethe nennt ihn in „Dichtung und Wahrheit“ in persönlicher Hinsicht einen würdigen Patriarchen (AA DuW 1, 608 [18. Buch]), urteilt in literarischer Hinsicht jedoch: ​Bodmer, soviel er sich auch bemüht, ist theoretisch und practisch zeitlebens ein Kind geblieben. (AA DuW 1, 221 [7. Buch].)

So schildert mir ihn gotter auch.] Friedrich Wilhelm Gotter hatte Bodmer im Oktober 1774 besucht (vgl. Bodmers Brief an Schinz, 25. Oktober 1774; Crueger: Bodmer über Goethe [s. o.], 187), zuvor, am 25. August, auf einer Reise nach Lyon auch Goethe (vgl. 118,22–23). Auf welchem Wege Goethe Gotters Bericht über Bodmer erhalten hat, ist nicht bekannt.

Von Klopstok hör ich nichts] Klopstock hatte Goethe vom 27. bis 29. September auf dem Weg nach Karlsruhe in Frankfurt besucht; von dort begleitete ihn Goethe bis Darmstadt. Auf der Rückreise nach Hamburg machte Klopstock am 30. März 1775 erneut in Frankfurt Station.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 163 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR163_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 141, Nr 163 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 356–358, Nr 163 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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