Goethes Briefe: GB 2, Nr. 162
An Hieronymus Peter Schlosser

〈Frankfurt a. M. , November? 1774〉 → 〈Frankfurt a. M.〉


Du dem die Musen von den Akten Stöcken Die Rosenhände willig strecken, Der zweener Herren diener ist Die ärgre Feinde sind als Mammonas u. Crist, Den Weeg zum Römer selbst mit Blumen Dir bestreust Dem Winter Lieblichkeit und dichter Freuden leihst; Kein Wunder dass auch deine Gunst Zu meinem Vorteil diesmal schwärmet, Das flache Denckmal unsrer Kunst Mit freundlicher Empfindung wärmet. Lass es an deiner Seite stehn, Schenck ihm auch unverdient die Ehre, Und mögtest du​1 an dem Versuche sehn Was ich gern dir, und gern den Musen wäre.

Goethe.

  1. ⎡du⎤​ ↑

Goethe hatte Schlosser den Entwurf zu einem Ofenbild geschickt (vgl. die einleitende Erläuterung). Dieser hatte sich dafür mit einem lateinischen Gedicht bedankt (abgedruckt im Anschluss an die folgenden Erläuterungen), auf welches wiederum der vorliegende Gedichtbrief antwortet. Beide Verstexte wurden 1775 in Schlossers „Poematia“ (vgl. Überlieferung) gedruckt. Am 26. Dezember 1774 dankte Goethe für die Zusendung des Buches (vgl. Nr 174). Diese Tatsache sowie der Umstand, dass Goethe in mehreren Briefen aus dem November 1774 berichtet, er male und zeichne (vgl. 134,24–25; 136,3; 136,14–15; 137,22–23), geben Anlass zu der Vermutung, der vorliegende Brief sei im November 1774 geschrieben worden.

H: GMD Düsseldorf, Slg Kippenberg, Sign.: K. K. 8. – Doppelblatt 18,5 × 23 cm, ¾ S. beschr., egh., Tinte; S. 4 Adresse: Hℓ. dr Schlossers / Wohlgebℓ.; daneben Rest eines roten Siegels; Bl. 2 an der unteren Ecke beschädigt.

E: Hieronymi Petri Schlosseri 〈…〉 Poematia. Frankfurt a. M. 1775, S. 86.

WA IV 2 (1887), 209 f., Nr 263 (nach „Beilage zur Allgemeinen Zeitung“ [München], Nr 303 vom 30. Oktober 1874 und nach DjG​1 3, 155; Hinweis auf H in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 210).

Der Brief beantwortet Schlossers Gedichtbrief „Adcessit nostris rebus noua, Goete, supellex 〈…〉“ (abgedruckt im Anschluss an die folgenden Erläuterungen). – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt. Ob Schlossers Brief vom 14. November 1774, in dem es um eine „Spezifikation 〈…〉 noch unbezahlter Ausstände“ geht (RA 1, 60, Nr 42), in den vorliegenden Zusammenhang gehört, ist ungewiss.

Goethe hatte Hieronymus Peter Schlosser den (nicht überlieferten) Entwurf eines Ofenschirmbildes geschickt. – Die oft kunstvoll verzierten Ofenschirme wurden zur Regulierung der Wärmeabstrahlung von Öfen und Kaminen benutzt. Ein Ofenschirm bestand gewöhnlich aus einem rechteckigen Holzrahmen auf vier Füßen, der mit Leinwand oder anderen Textilien bespannt war. Auf der Bespannung waren Bilder in verschiedenen Formaten und aus verschiedenen Materialien (Papier, Seide, Leinen) aufgebracht. In den Sammlungen des GNM sind einige Entwürfe für Ofenschirmbilder von Goethes Hand überliefert (vgl. Corpus I, 267, Nr 250 f.). Ein vermutlich nach einem Entwurf Goethes ausgeführter Ofenschirm hat sich im Roten Salon von Schloss Kochberg erhalten (vgl. Corpus I, 91, Nr 250). Welche Motive das Bild enthielt, das Schlosser bekommen hatte, geht aus seinem lateinischen Dankgedicht (mit Übersetzung abgedruckt im Anschluss an die folgenden Erläuterungen) hervor, welches er ebenso wie die vorliegende Erwiderung Goethes in seinen „Poematia“ ([vgl. Überlieferung] S. 84–86) veröffentlichte.

Akten Stöcken] Anspielung auf Schlossers berufliche Tätigkeit als Rechtsanwalt.

Rosenhände] Die Musen waren mit Palmblättern, Lorbeerblättern und Rosen geschmückt; möglicherweise auch in Anspielung auf den Beinamen der Eos, der ‚Rosenfingrigen‘, der griechischen Göttin der Morgenröte.

Der zweener Herren diener ist] Anspielung auf Matthäus 6,24: „Niemand kan zween Herren dienen 〈…〉. Ihr könnt nicht Gott dienen, und dem Mammon.“ (Luther-Bibel 1768 NT, 15; vgl. ähnlich Lukas 16,13.) In Schlossers Gedicht lautet Vers 13: „Cum Musis horas partior et Themide“ (vgl. die Übersetzung des Gedichts).

Mammonas] Mammon: aramäisches Fremdwort im Griechischen, das Luxus und Reichtum bedeutet (vgl. Matthäus 6,24; Lukas 16,9; 16,11; 16,13). So heißt auch der Teufel des Goldes im 2. Gesang von John Miltons Epos „Paradise Lost“ (London 1667).

Römer] Gotisches Gebäude am Römerberg in Frankfurt, seit 1405 zum Rathaus erweitert, Schlossers Arbeitsplatz.

deine Gunst] Schlossers Gedicht.

Das flache Denckmal unsrer Kunst] Gemeint ist die Zeichnung für den Ofenschirm.


Schlossers Dankgedicht, wahrscheinlich November 1774:


Goeteo, quum mihi vmbellam, siue tabulam pictam abigendi nimii caloris caussa ad fornacem ponendam, Virgilii capite et emblematis, fistula, ense, sole, laurea, floribus, sertis, coronis adornandam, affabre ipse delineauisset.


Adcessit nostris rebus noua, Goete, supellex,   Cedit Virgilio Mulciber, arte tua. Ille ferox, fortisque, et matre superbior ipsa,   (Terribilis coniux sit licet illa Iouis) Adsuetus flammis ardenti et ludere ferro,   Et victor Phoebi, et Dardanidum, et Veneris; Cyclopum dominus, dominus Trinacridos Aetnae:   Cedit, quis possit credere? Virgilio; Qui sua virginea redimitus tempora lauru,   Dat legem flammae, et corpora nostra tegit. Iamque ego, fornacis nimio securus ab aestu,   Cum Musis horas partior et Themide, Quae, quoniam virtus opera ad maiora vocauit,   Subducta Aonidum dicitur vna choro. Ah, nescis quam nunc vatis mihi lectio grata est,   Quum sit praesto oculis ipse poeta meis; Dumque lego, variis picta aptem emblemata rebus,   Atque suis tribuam singula quaeque libris. Haec est, Formosum Corydon, quae fistula lusit,   Et, Dic Damoeta, et Tityre tu patulae; Hic est magnanimi Aeneae Vulcanius ensis,   Turne, recognoscas, tu, Rutulique tui; Quique facit laetas segetes sol aureus ille est;   Hinc illinc flores, palmaque nobilior. Omnia pulcra licet, multum pulcerrimus ipse,   Ostendit medius tam iuuenile caput. O ego tuta suis dare labris suauia possem,   Blandaque turgidulis oscula ferre genis, Nec color haereret nostro, male fidus, in ore:   Virginis vt pictae fucus ab ore fugit. Sed non haec labiis, facies veneranda, profanis   Tangatur, vitta sanctior est Cereris. Pascuntur sensus omnes dum mente Maronis:   Pascuntur vultu, lumina sola, suo.

(Poematia, S. 84–86.) – Übersetzung von Heinz Gerd Ingenkamp, Bonn:


Für Goethe, da er mir einen Schirm, genauer gesagt eine zum Zweck der Eindämmung allzu großer Hitze an den Ofen zu stellende bemalte Trennwand, auszuschmücken mit dem Haupt Vergils und mit Einlegearbeiten, die eine Hirtenflöte, ein Schwert, die Sonne, Lorbeer, Blumen, Girlanden und Kränze darstellen, kunstvoll eigenhändig skizziert hat.


Goethe, zu meinem Besitz ist ein neues Möbel hinzugekommen, / deiner Kunstfertigkeit wegen weicht Mulciber dem Vergil. / Jener Ungestüme, Unerschrockene, hochfahrender als sogar seine Mutter / (obgleich die große Gattin Jupiters schon furchterregend ist), / gewöhnt an Flammen und ans Spiel mit glühendem Eisen, / Sieger über Phoebus, die Trojaner und Venus, / Gebieter der Kyklopen, Herr des sizilischen Aetna: / Er weicht, wer möchte es glauben, dem Vergil, / der, die Schläfen umwunden mit jungfräulichem Lorbeer, / der Flamme sein Gesetz auferlegt und uns schützt. / Von jetzt an, sicher vor der allzu großen Hitze des Ofens, / teile ich meine Stunden mit den Musen und mit der Themis, / von der man sagt, dass sie, da die Tugend sie ja zu Wichtigerem berufen hat, / heimlich entführt worden und nun eine aus dem Chor der Aoniden sei. / Ach, du weißt nicht, wie sehr mir die Lektüre des Dichters erwünscht ist, / jetzt, da der Poet selbst mir vor Augen steht und ich, während ich lese, die gemalten Einlegearbeiten mit den verschiedenen Stoffen in Verbindung bringe / und alle Einzelheiten ihren jeweiligen Büchern zuweise. / Das hier ist die Hirtenflöte, die „Corydon [liebte] den schönen …“ sang / und „Sag' [mir], Damoetas …“ und „Tityrus, du [ruhst] unter der weiten [Buche Dach] …“. / Das ist das von Vulcanus gefertigte Schwert des kampfmutigen Aeneas. / Turnus, rufe es dir ins Gedächtnis, und deine Rutuler mögen das auch tun. / Und die die Saaten üppig macht, die goldene Sonne, da ist sie. / Hier und dort sind Blumen und auch die Palme, vornehmer als sie. / Sicherlich ist alles schön; bei weitem am schönsten aber ist er selbst, / er zeigt in der Mitte sein so sehr noch jugendliches Haupt. / O, könnte ich, ohne Schaden zu nehmen und zu verursachen, [seinen] Lippen Küsse geben, / liebkosend meinen Mund auf seine sanft schwellenden Wangen drücken, / und bliebe doch dabei nicht die recht unzuverlässige Farbe auf meinem Munde zurück, / so, wie die Schminke sich vom Mund einer angemalten jungen Frau löst. / Doch dies verehrungswürdige Antlitz soll nicht von profanen Lippen / berührt werden; unantastbarer ist es als die Kopfbinde der Ceres. / Während alle Sinne sich an Maros Geist ergötzen, / ergötzen sich allein die Augen an [seinem] Antlitz.


Das Gedicht ist in Distichen abgefasst; sie bestehen aus einem Hexameter (vgl. darüber zu 136,24) und einem Pentameter. Dieser hat trotz seines Namens sechs Versfüße, und zwar wie der Hexameter sechs Daktylen, wobei der dritte und sechste Daktylus nur eine lange (betonte) Silbe aufweisen. So entsteht in der Versmitte die für den Pentameter charakteristische Zäsur (– ∪ ∪ – ∪ ∪ – / – ∪ ∪ – ∪ ∪ –). In der ersten Hälfte des Pentameters sind statt der Daktylen Spondeen erlaubt (vgl. darüber zu 136,24).

5 Mulciber] Beiname des Vulcanus (griech. Hephaistos), des Gottes des Feuers und der Schmiede. 6 matre superbior ipsa] Gemeint ist Juno (griech. Hera), die Gattin des Jupiter (griech. Zeus), hier wohl von Vergils „Aeneïs“ her gesehen, wo sie gleich im 1. Buch in einem wütenden Auftritt den Untergang des Aeneas und seiner Flotte beschwört (vgl. 1,37–49 und 1,65–75). 9 victor Phoebi, et Dardanidum, et Veneris] Vermutlich ist an den Trojafeldzug zu denken: Vulcanus verfertigte die Waffen des Achilles, mit denen Hektor und schließlich die Dardaniden (Trojaner) besiegt wurden. Phoebus Apollo und Venus (griech. Aphrodite) standen auf der Seite der Trojaner. 10 Cyclopum dominus] Kyklopen, Riesen mit einem Auge auf der Stirn, galten als Helfer des Vulcanus (in ‚Vulkanen‘). 15 Themide] Themis als Göttin der Gesetzlichkeit und Gerechtigkeit. 16–17 Quae 〈…〉 choro.] Gemeint ist wohl: Themis, die zu Wichtigerem als dem juristischen Alltag berufen ist, wurde zu den Musen entführt, um sich der Dichtkunst zu widmen. 17 Aonidum] Aoniden: Beiname der Musen nach den aonischen Gebirgen (darunter Helikon und Parnassos) in der griechischen Landschaft Böotien. 22 Formosum Corydon] Vgl. Vergils „Bucolica“ (Ekloge 2,1). 23 Dic Damoeta] Vgl. „Bucolica“ (Ekloge 3,1). 23 Tityre tu patulae] Vgl. „Bucolica“ (Ekloge 1,1). 24 Aeneae Vulcanius ensis] Vgl. Vergils „Aeneïs“ (8,369–452). 25 Turne] Turnus, König der italischen Rutuler, den Aeneas im Zweikampf besiegte. 30 suis] Wie im letzten Vers fehlerhafte Verwendung des reflexiven Possessivpronomens ‚suus‘, das in den hier vorliegenden nichtreflexiven Fällen durch den Genitiv des Demonstrativpronomens ‚is‘ zu ersetzen wäre (‚eius‘), weil es sich jetzt unsinnig auf „suauia“ (Küsse) bzw. auf „lumina“ (Augen) bezieht. 35 vitta sanctior est Cereris] Vermutlich ist die weiße Kopfbinde gemeint, welche die Frauen trugen, die sich dem Dienst der Ceres (griech. Demeter), der Göttin des (Getreide-) Wachstums, widmeten. 36 Maronis] Maro: Der volle Name Vergils lautet Publius Vergilius Maro. (Die sprachlichen Erläuterungen nach freundlichen Hinweisen von Heinz Gerd Ingenkamp, Bonn.)


 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 162 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR162_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 140–141, Nr 162 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 351–356, Nr 162 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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