Goethes Briefe: GB 2, Nr. 161
An Johann Caspar Lavater

〈Frankfurt a. M. , zwischen Anfang Oktober und Ende November 1774〉 → 〈Zürich〉


Ich schicke dir keine Phis. Anmerck. du forderst ein wunderlich ding ich soll schreiben wenn ich nicht fühle, soll Milch geben ohne gebohren zu haben. Hier aber ein Vorschlag. Schick mir dein Geschreibe, ich will dadrüber phantasiren, es wird mich auf deinen Standpunckt heben, und so kanns was geben, anders arbeit ich mich ab u. fruchte dir u. mir nichts

der Jakobis Portraits sind da, ich schick dir sie aber nicht denn sie sind abscheulich u. du lässest allen dreck stechen. Friz grüsst dich sehnlich, und wird dir von hier aus schreiben

der Friede Gottes der sich Täglich mehr an mir offenbaaret walte auch über dich u. die deinigen. /

Und dass dein Glaube unüberwindlich werde, sieh hier wieder dass er mich überwindet. Ich hab deinen Brief. da noch was über Homer.

der ​Farnesische – sieh hier eine ​1 Silhouette – Fasst ​das Leben ​der Welt |:von kritikern ​Epische darstellung genannt:| mehr in seiner Stirne ​2. Seine Wangen sind in erzählender​ ​3 Freude mehr abgearbeitet, sein Mund ist lieblicher dahin lallend und seine ​Nase. – Hier ein Wort über die Nasen ein Beytrag zu allem Schändismus drüber.


Vid. Sig..

  1. dein eine​ ↑
  2. s​Stirne​ ↑
  3. f erzählender​ ↑

Der Brief bezieht sich auf Lavaters Brief vom 1. Oktober 1774. Das erbetene Geschreibe (140,1) schickte Goethe, vermehrt um einige Zugaben (146,18) von ihm selbst, mit dem Brief aus dem Zeitraum zwischen dem 6. und 10. Dezember nach Zürich zurück (vgl. Nr 168). Der vorliegende Brief stammt aus der Zeit zwischen Anfang Oktober und Ende November 1774. Er dürfte allerdings nicht erst ganz zu Ende des November geschrieben worden sein, weil für die Übersendung des erbetenen Manuskripts, für dessen Lektüre und für Goethes Arbeit an den eigenen Beiträgen sowie die Rücksendung des Ganzen eine gewisse Zeit in Anschlag zu bringen ist.

H: UB Leipzig, Slg Hirzel, Sign.: B 34. – 1 Bl. 10,6 × 16,6 (–16,8) cm, Bordüre aus gereihten Krönchen (vgl. Mick, Nr 1–3), 1 ¾ S. beschr., egh., Tinte; die Zeile sieh hier eine Silhouette (140,12) ist durch einen Anlagestrich am linken Seitenrand markiert; Vs. am oberen Rand außerhalb der Bordüre Adresse: An Lavatern. – Der Brief war einem anderen beigeschlossen; um welchen es sich handelte, war nicht zu ermitteln.

E​1: Hirzel, Goethe-Bibliothek 1874, 180 (Teildruck: 139,23–140,9 Ich schicke dir 〈…〉 die deinigen.).

E​2: WA IV 2 (1887), 226 f., Nr 279 (Woldemar von Biedermann) (Korrektur der Datierung in den „Berichtigungen“, WA IV 30, 254).

Silhouette einer Homerbüste (vgl. zu 140,12).

Der Brief beantwortet Lavaters Brief vom 1. Oktober 1774 (vgl. RA 1, 58, Nr 37; Goethe-Lavater​3, 42–44, Nr 28). – Wann Lavater das erbetene Manuskript (dein Geschreibe [140,1]) schickte und ob es einen Begleitbrief gab, ist nicht bekannt.

keine Phis. Anmerck.] Lavater hatte sich am 1. Oktober „ein paar Duzend physiognomische Reflexionen, und etwa ein ganzes Abhandlunglein“ gewünscht (Goethe-Lavater​3, 43).

dein Geschreibe] Diejenigen Kapitel aus den „Physiognomischen Fragmenten“, zu denen Lavater Goethes Anmerkungen haben wollte. Goethe schickte Lavater diese Capitels zurück mit Zugaben (146,18).

der Jakobis Portraits] In einem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 2. September hatte Lavater gebeten, „mir ehestens Ihr und Ihres Hr Bruders Porträt à la Diderot stark und fest gezeichnet zu senden“ (JB I 1, 257). Wann Goethe diese erhielt, ist den überlieferten Briefen zwischen Goethe und Jacobi nicht zu entnehmen.

Friz grüsst dich sehnlich] Ein entsprechender Brief ist im Briefwechsel zwischen Friedrich Heinrich Jacobi und Goethe zwischen September und November 1774 nicht überliefert. Zuletzt hatte Jacobi am 26. August Goethe einen Gruß an Lavater aufgetragen (vgl. JB I 1, 250).

wird dir von hier aus schreiben] Jacobi plante einen Besuch in Frankfurt. Aus Nr 164 geht hervor, dass er Ende Dezember erwartet wurde (vgl. 142,2–3); er kam schließlich am 8. Januar.

was über Homer] Goethes Beitrag, den Lavater in den 1. Band seiner „Physiognomischen Fragmente“ unter die „Physiognomischen Uebungen“ in das 17. Fragment aufnahm: „Homer nach einem in Constantinopel gefundnen Bruchstück“ (S. 245 f.). Zu Goethes Beiträgen vgl. auch die erste Erläuterung zu 181,2 sowie im Einzelnen von der Hellen.

der ​Farnesische] Gemeint ist die Büste des Homer aus der Sammlung Farnese im Nationalmuseum Neapel, früher als Replik eines Originals im „hell. Blinden-Typus“ bezeichnet (Robert und Erich Boehringer: Homer. Bildnisse und Nachweise. Bd 1: Rundwerke. Breslau 1939, S. 109; Abb. 66–68). Die hellenistische Herkunft wird bestritten; es handle sich um eine Büste „im Apolloniostypus. Kopie um 100 n. Chr. nach einem verlorenen Bronzeoriginal um 40 v. Chr.“ (Karl Schefold: Die Bildnisse der antiken Dichter, Redner und Denker. Basel 1997, S. 348, Abb. S. 349). „Diese Replik, der farnesische Homerkopf, hat für Generationen die Vorstellung von Homer bestimmt.“ (Boehringer: Homer [s. o.], S. 110.) Die Silhouette, die Goethe mitschickte, findet sich im 2. Band der „Physiognomischen Fragmente“ als Abschlussvignette des 30. Fragments (S. 247).

ein Wort über die Nasen] Aus Goethes nicht überliefertem Beitrag erschienen im 4. Band der „Physiognomischen Fragmente“ nur zwei zusammenhängende Stellen (S. 91 und 257; WA I 53, 392 f.; vgl. auch DjG​3 4, 279); vgl. von der Hellen, 25–27.

Schändismus] Anspielung auf den Roman „The life and opinions of Tristram Shandy“ (1759–1767) von Lawrence Sterne; dort werden im 3. und 4. Buch mancherlei kuriose Betrachtungen über die Nase angestellt. Der Begriff Schändismus findet sich auch 190,8.

Vid. Sig. ] Lat. vide signum: Siehe Zeichen; vermutlich Verweis auf das Manuskript zum Wort über die Nasen.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 161 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR161_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 139–140, Nr 161 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 349–351, Nr 161 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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