Goethes Briefe: GB 2, Nr. 159
An Sophie La Roche

〈Frankfurt a. M. , 19.? November 1774. Samstag?〉 → Ehrenbreitstein bei Koblenz


Ich antworte Ihnen gleich liebe Mama, Ihre Max hab ich in der Komödie gesprochen den Mann auch, er hatte all seine Freundlichkeit zwischen die spizze Nase und den spizzen Kiefer zusammengepackt. Es mag eine Zeit kommen da ich wieder ins Haus gehe. Das Meer verlangt Feigen! sag ich noch iezzo, und lasse mich davon.

Lavater wird die Porzellan Fabrique bezahlen, und zu ruhigerer Zeit wollen wir rechnen. Heut schlägt mir das Herz. Ich werde diesen Nachmittag zuerst den Oel Pinsel in die Hand nehmen! – Mit welcher Beugung Andacht und Hoffnung drück ich nicht aus, das Schicksaal meines Lebens hängt sehr an dem Augenblick, es ist ein trüber Tag! Wir werden uns im Sonnenscheine wiedersehn. – Hier ein kurzes Rezipe für des ​1 werthen Bar. v. Hohenfelds Griechisches Studium! „So du einen Homer hast ist's gut, ​2 hast du keinen kauffe dir den Ernestischen da die Clärckische wörtliche Ubersezzung beygefügt ist; sodann ver/schaffe dir Schaufelbergs Clavem Homericam, und ein Spiel weisse Karten. Hast du dies beysammen so fang an zu lesen die Ilias, achte nicht auf Accente, sondern lies wie die Melodey des Hexameters dahinfliest und es dir schön klinge in der Seele. Verstehst du's; so ist alles gethan, so du's aber nicht verstehst, sieh die Ubersezzung an, lies die Ubersezzung, und das Original, und das Original und die Ubersezzung, etwa ein zwanzig dreisig ​3 Verse, biss dir ein Licht aufgeht über Construcktion, die im Homer reinste Bilderstellung ist. Sodann ergreiffe deinen Clavem wodu wirst Zeile vor Zeile die Worte analisirt finden ​4 das Praesens und den Nominativum5 schreibe sodann auf die Karten, steck sie in dein Souvenir, und lerne dran zu Hause und auf dem Feld, wie einer beten mögt, dem das Herz ganz nach Gott hing. Und so immer ein dreisig Verse nach dem andern, und hast du zwey drey Bücher so durchgearbei/tet, versprech ich dir, stehst du frisch und franck vor deinem Homer, und verstehst ihn ohne Ubersezzung Schaufelberg und Karten. Probatum est!〈 “ 〉


═══ Im Ernst liebe Mama, warum das alles so und so, und just Karten seyn müssen. Nicht untersucht ruft der Artzt! Warum muss das eben Nesseltuch seyn worin das Huhn gestoft wird. Sagen Sie dem hochwürdigen Schüler zum Troste, Homer sey der leichteste Griechische ​6 Autor ​7, den man aber aus sich selbst verstehn ​8 lernen ​9 muss.

Empfehlen Sie mich Hℓ. Geheimde rath – Kommen kann ich nicht – Auch ists besser, sie haben ​10 Friz allein – Gerne gar gerne mögt ich Hℓ. v Hoh. sprechen und das bey Ihnen, ​11 und weil ich s wünsche wird s auch wohl geschehen. Grus an Lolo, die kleinen, Trosson u Cordel. Klopstock ist ein edler grosser Mensch über dem der Friede Gottes ruht! ——

  1. S​des​ ↑
  2. gut.​,​ ↑
  3. dreisi×​g​ ↑
  4. finden., (Punkt und Komma gestr.)​ ↑
  5. Nominativundm​ ↑
  6. K​Griechische ​ ↑
  7. Aute​or​ ↑
  8. ×​verstehn​ ↑
  9. s​lernen​ ↑
  10. haber​n​ ↑
  11. Ihnen.​,​ ↑

Goethe teilt mit, er werde am gleichen Tag mit der Ölmalerei beginnen (vgl. 136,14–15). Am Anfang von Brief Nr 160 heißt es, er habe dies gestern (137,23) getan. Der Teil dieses Briefes stammt möglicherweise vom 20. November (vgl. Datierung zu Nr 160), der vorliegende Brief demnach vom 19. November 1774.

H: GSA Weimar, Sign.: 29/294,I, Bl. 16–17. – Doppelblatt 18,7(–19) × 23,1 cm, 3 S. beschr., egh., Tinte, sorgfältig geschrieben; S. 4 Adresse: Herrn / Herrn Geheimderath / von la Roche / nach / Coblenz / im Thal; unter der Adresse zwei Siegel, ein rotes Initialsiegel: „G“, und ein schwarzes Siegel: Motiv nicht erkennbar; Bl. 2 am rechten Rand in der Mitte durch Herausschneiden der Siegel beschädigt; obere rechte Ecke beider Blätter abgerissen.

E​1: Classen: Verhandlungen der zwanzigsten Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Frankfurt am Main vom 24. bis 27. September 1861. Leipzig 1863, S. 16 (Teildruck: 136,18–137,15 Hier ein kurzes Rezipe 〈…〉 verstehn lernen muss; der Satz Ich werde 〈…〉 in die Hand nehmen. (136,14–15) zuvor in: Katalog der Goethe-Ausstellung 1861. Berlin 1861, S. 28, Nr 110).

E​2: Frese (1877), 155 f., Nr 24.

WA IV 2 (1887), 204–206, Nr 261 (Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, WA IV 50 [1912], 210).

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Sophie La Roches (vgl. den Anfang des Briefes). – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

Ihre Max] Sophie La Roches Tochter Maximiliane Brentano.

Komödie] Hier: Komödienhaus; vgl. die zweite Erläuterung zu 130,2.

den Mann] Peter Anton Brentano; über Goethes angespanntes Verhältnis zu Sophie La Roches Schwiegersohn vgl. zu 95,3.

da ich wieder ins Haus gehe] Vgl. zu 92,3–4 und zu 95,3. Erst im März 1775 besuchte Goethe Brentanos Haus wieder (vgl. 180,17).

Das Meer verlangt Feigen!] Sprichwörtlich; nach einer Anekdote des Zenobios: Nachdem das mit Feigen beladene Schiff eines sizilianischen Kaufmanns untergegangen war, habe dieser gesagt: „Scio quid velit; ficus vult.“ (Ich weiß, was es 〈das Meer〉 will; es will Feigen; Andreas Schott: Παροιμίαι Ἑλληνικαί. Adagia sive proverbia Græcorum 〈…〉. Antwerpen 1612, S. 135. – Griechische Sprichwörter. Sprichwörter oder Sinnsprüche der Griechen.)

lasse mich davon] Im Sinne von ,halte mich davon fern‘ (vgl. GWb 2, 1103).

die Porzellan Fabrique bezahlen] Es wird angenommen, Lavater habe Einkäufe in der Porzellanfabrik in Frankfurt (oder in Koblenz; vgl. zu 113,21) gemacht (vgl. Goethe-La Roche, 64; DjG​3 4, 383), deren Bezahlung dann in Zusammenhang mit den Geldangelegenheiten zwischen Sophie La Roche und Goethe gebracht werden könnte, die dieser in Nr 153 erwähnt. Vermutlich aber hatte Lavater in Zürich Ausgaben für Sophie La Roche übernommen. In Briefen an Johann Caspar Hirzel vom 20. Dezember 1772, 1. November 1773 und 10. März 1774 hatte sie wiederholt um die Besorgung einer „großen Bouillontasse in Zürcher Porzellan“ „aus der Zürcher Porzellanfabrik“ (Maurer, 176 und 178; vgl. auch Maurer, 180) gebeten.

den Oel Pinsel in die Hand nehmen] Der Frankfurter Maler Johann Andreas Benjamin Nothnagel räumte Goethe ein Cabinett ein (AA DuW 1, 465 [13. Buch]), in dem er sich mit Ölmalerei beschäftigen konnte; weiter vgl. zu 137,22–23.

Beugung] Verneigung als Geste der Andacht.

Schicksaal meines Lebens] Goethe erwartete Aufschluss über die Frage, ob er zum Maler bestimmt sei oder nicht.

Rezipe] Lat. recipe (auf ärztlichen Rezepten): Nimm; man nehme.

Hohenfelds] Christoph Philipp Willibald von Hohenfeld, Generalvikar und Domdechant in Speyer, Freund und Kollege Georg Michael Anton La Roches.

den Ernestischen] ΟΜΗΡΟΥ ΑΠΑΝΤΑ 〈…〉 Homeri opera omnia ex recensione et cvm notis Samvelis Clarkii 〈…〉 accessit varietas lectionvm Ms. Lips. et edd. veterum cvra Io. Avgusti Ernesti qui et svas notas adspersit. 5 Bde. Leipzig 1759–1764 (Homers gesammelte Werke nach kritischer Sichtung der Textzeugen und mit Anmerkungen hrsg. von Samuel Clarke, mit den Lesarten des Leipziger Manuskripts und der alten Editionen, besorgt von Johann August Ernesti, der auch eigene Anmerkungen hinzufügte). Die Bände 1 und 2 (1759–1760) enthalten die „Ilias“. Über Clarkes Homerausgabe vgl. auch GB 1 II, zu 196,33.

die Clärckische wörtliche Ubersezzung] In Ernestis Ausgabe folgt auf jeder Seite unter dem griechischen Text die lateinische Übersetzung von Samuel Clarke und dessen Sohn.

Schaufelbergs Clavem Homericam] Nova clavis Homerica: Cujus ope Aditus ad intelligendos sine Interprete Iliadis libros omnibus recluditur. 〈…〉 Opera Joannis Schavfelbergeri 〈…〉. 8 Bde. Turici 〈Zürich〉 1761–1768 (Neuer Schlüssel zu Homer, wodurch allen der Zugang zum Verständnis der Bücher der Ilias ohne Übersetzer eröffnet wird; vgl. Ruppert, 180, Nr 1297); die Bände 1–4 enthalten Erläuterungen zur „Ilias“.

die Melodey des Hexameters] Der Hexameter ist der Vers des klassischen Epos (Homer, Vergil, Ovid); er besteht aus sechs Versfüßen, und zwar aus sechs Daktylen, in denen auf eine lange Silbe zwei kurze Silben folgen bzw. im Deutschen auf eine betonte Silbe zwei unbetonte Silben (– ∪ ∪). Der letzte Daktylus ist unvollständig (– ∪). Um den Rhythmus zu variieren, kann in den ersten vier Versfüßen die Dreigliedrigkeit durch eine Zweigliedrigkeit ersetzt werden, d. h. der Daktylus durch einen so genannten Spondeus, der aus zwei langen Silben besteht (– –), was im Deutschen nur unvollkommen durch zwei gleich schwere Silben nachgeahmt wird, wobei die Betonung auf der ersten liegt.

Souvenir] Franz.: Andenken; hier: Denkbuch, Erinnerungsbuch.

Probatum est!] Lat.: Es ist erprobt, bewährt.

Nicht untersucht ruft der Artzt!] Die Quelle dieser Redewendung konnte nicht ermittelt werden.

Nesseltuch] Franz. toile d'Ortie: eine besondere Art von feinem unbehandeltem Leinentuch (Batistleinen), die in der Gegend von St. Quentin in Frankreich hergestellt wurde (vgl. Waaren-Lexikon 2, 318).

gestoft] Stofen, stoven: im Niederdeutschen „dämpfen, schmoren“ (Goethe-Wortschatz, 603).

Geheimde rath] Georg Michael Anton La Roche.

sie haben Friz allein] Friedrich Heinrich Jacobi beabsichtigte, Mitte November nach Frankfurt und zuvor nach Ehrenbreitstein zu kommen (vgl. seinen Brief an Sophie La Roche vom 28. Oktober 1774; JB I 1, 267). Er kam aber erst Anfang Januar 1775 nach Frankfurt.

Hoh.] Christoph Philipp Willibald von Hohenfeld.

wird s auch wohl geschehen] Von einer Begegnung Goethes mit Hohenfeld in Ehrenbreitstein ist nichts bekannt.

Lolo] Sophie La Roches Tochter Luise.

die kleinen] Sophie La Roches acht- und sechsjährige Söhne Karl und Franz.

Trosson] Christian (von) Trosson, französischer Offizier und Ingenieur-Hauptmann in Koblenz (vgl. zu 78,7).

Cordel] Gemeint ist Cordelia La Roche, eine Nichte von Georg Michael Anton La Roches, die in dessen Hause lebte. – Bisher wurde diese Stelle auf Trossons Frau bezogen, die aber nicht nicht Cordelia oder Cordula hieß (vgl. Goethe-La Roche, 88; DjG​3 4, 383), sondern Therese.

Klopstock] Vgl. Sophie La Roches Brief an Goethe, 17. Oktober 1774 (abgedruckt im Anschluss an die Erläuterungen zu Nr 154).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 159 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR159_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 136–137, Nr 159 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 342–345, Nr 159 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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