Goethes Briefe: GB 2, Nr. 154
An Sophie La Roche

〈Frankfurt a. M. 〉, 21. Oktober 1774. Freitag → Ehrenbreitstein bei Koblenz


Wie werth ist mir Ihr leztes herzliches, wie werth alles was Sie mir seyn können. Ich lag zeither, stumm in mich gekehrt und ahndete in meiner Seele auf und nieder, ob eine Krafft in mir läge, all das zu tragen, was das ehrene Schicksaal künftig noch mir und den meinigen zugedacht hat; ob ich einen Fels fände drauf eine Burg zu bauen, wohin ich im lezten Nothfall mich mit meiner Haabe flüchtete. – Liebe Mama, ich gönn Ihnen die Stunden des Unmuths und Jammers, es ist Erleichterung wie die Ergiessung im Gebet, aber wenn Sie dann auch aufstehn davon, erlauben Sie Ihrem Herzen eine freye Aussicht ​1 über all das Glück, das Ihnen in Ihren übrigen bereitet ist, und das vielleicht noch über den unglücklichen Engel waltet. Leben Sie wohl, und dencken mein in Freud u. Leidℓ. am 21. Okt 1774.

G.

  1. a​Aussicht​ ↑

H: GSA Weimar, Sign.: 29/294,I, Bl. 14–15. – Doppelblatt 18,7 × 23 cm, 1 S. beschr., egh., Tinte, sorgfältig geschrieben; S. 3 Adresse: An Herrn / Herrn Geheimderath / von la Roche / nach / Coblenz / im Thal.; unter der Adresse rotes Initialsiegel: „G“; Bl. 2 am rechten Rand in der Mitte durch Herausschneiden des Siegels beschädigt, obere rechte Ecke beider Blätter abgerissen.

E​1: Katalog der Goethe-Ausstellung 1861. Berlin 1861, S. 27 f., Nr 109 (Teildruck: 133,8–12 Ich lag zeither 〈…〉 flüchtete.).

E​2: Frese (1877), 154 f., Nr 23.

WA IV 2 (1887), 202, Nr 258.

Der Brief beantwortet Sophie La Roches Brief vom 17. Oktober 1774 (abgedruckt im Anschluss an die folgenden Erläuterungen; vgl. RA 1, 59, Nr 38). – Ob der nicht überlieferte Bezugsbrief zu Nr 159 eine Antwort auf den vorliegenden Brief war, ist ungewiss.

ehrene] Eherne ( vgl. GWb 2, 1380).

den unglücklichen Engel] Maximiliane Brentano, Sophie La Roches Tochter.


Sophie La Roches Bezugsbrief, adressiert „An Herrn Doctor Göthe in ​Frankfort am Mayn auf dem Hirschgraben“:


17 8br 1774


Göthe mein Freund! warum so gar nichts von Ihnen – gar nichts – sind Sie so glüklich das die Zufriedenheit Ihrer Freunde überfluß wird – oder so übel gestimmt – das auch alles was ich für Sie denke u – bin unnüzes Zeug für Sie ist schiken Sie doch dem la Roche – u – dem Regierungs Presidenten von Gemingen in Stutgardt einen Werther ich bitte Sie Hℓ. v. Hohenfeldt dankt Ihnen sehr das Sie ihn geschrieben haben – Er nimt einen ohnendlichen antheil an dem ganzen – u – hat den gang Ihrer Seele – schritt vor schritt mit gemacht – Sie sind ihm ohnendlich werth geworden – u – mir Göthe! was denken Sie mir zu seyn? Boie von Göttingen war bey mir wir haben viel von Ihnen geredt – der Mann gefiel mir – sagen Sie wie gefiel ich u – meine treuherzigkeit ihm – Er weiß einen Göthe zu lieben ich dank ihm nicht dafür – aber ich schäze ihn als einen Mann der Seele hat –

adieu – was macht Ihre Schwester? wird diese nicht durch Klopstoken eine Schadloßhaltung erlangen – von andrem Guten so ihrem Geist u – Herzen durch ihre verpflanzung entgangen ist –

meine gute Max ist in Bonn mit Dumeiz Bolz u – Compagnie – indessen sind ein paar Haußtyrannen Briefe an sie eingelofen die mir ihre abreiße fürchterlich machen O – Göthe – wohin ach wohin – hat mich der Aberglaube – an Freundschaft – an edelmüthigkeit u – Tugend geführt – die bestättigte vergifftung deß Pabsts – hat mich wünschen machen – das der Ehrgeizzige – dem das arme Kind im Weeg zu seyn schien auch eher dieses mittel möchte ergrifen haben – ehe das unglükliche band von den händen geknüpft wurde die meine Max elend – u – meine andren Kinder umso viel ärmer machten – u – mir zuerst – dann noch dem la Roche das Herz brach – u – Dumeizs bezeugen – O Göthe – Gift ist ein labtrunk dagegen – ruhe u – Glük meines Herzens ist ermordet – u – ich kan La Roche nicht sagen – Päte non dol〈et〉 verzeyhen Sie mir all dieses – heute laag einganz schweeres – schwarzes gewicht auf mir – ich mußte die pressung meines Herzens – über der Hand eines Freunds auß weinen – mißgönnen Sie mirs nicht – und zürnen Sie nicht das ich Sie wählte – adieu.


(H: GMD, Slg Kippenberg, Sign.: KK 136).

2 so gar nichts] Zuletzt hatte Sophie La Roche Goethes Brief vom 19. September (Nr 147) erhalten. Nr 153 von Mitte Oktober war noch nicht eingetroffen. 5 dem la Roche] Sophie La Roches Mann Georg Michael Anton.     5 von Gemingen] Eberhard Friedrich von Gemmingen, Geheimrat und Präsident des Regierungskollegiums in Stuttgart. 6 Hohenfeldt] Christoph Philipp Willibald von Hohenfeld, Generalvikar und Domdechant in Speyer, Freund und Kollege Georg Michael Anton La Roches. 6–7 das Sie ihn geschrieben haben] Der Brief ist nicht überliefert. 7 an dem ganzen] Wohl an Goethes poetischer Produktion (vgl. 113,22; 131,5–6). 9 Boie] Heinrich Christian Boie. 13 Klopstoken] Der Markgraf von Baden, Karl Friedrich, hatte Klopstock zu einem Aufenthalt nach Karlsruhe eingeladen; auf der Hinreise hatte Klopstock vom 27. bis 29. September Goethe besucht (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 157). 15 verpflanzung] Cornelia Goethe war nach ihrer Hochzeit im November 1773 nach Karlsruhe, im Juni 1774 von dort nach Emmendingen gezogen. 16 Max] Maximiliane Brentano. 16 Dumeiz] Damian Friedrich Dumeiz, Dechant in Frankfurt. 16 Bolz] Möglicherweise Johann Bolz (gest. 1779), thurn und taxisscher Hofkammerrat, Postoffiziant in Frankfurt; im Fürst Thurn und Taxis Zentralarchiv ist ein Johann Baptista Bolz, Hofkammerrat und Bediensteter beim Oberpostamt Frankfurt, nachweisbar, der vermutlich jedoch schon 1769 gestorben ist; Genaueres war nicht zu ermitteln (nach freundlicher Auskunft von Martin Dallmeier, Fürst Thurn und Taxis Zentralarchiv Regensburg). 17 Haußtyrannen] Gemeint ist Peter Anton Brentano. 17 eingelofen] Loff, geloffen (zu ,laufen‘), bis ins 19. Jahrhundert gebrauchte Formen (vgl. Grimm 6, 315). 19–20 vergifftung deß Pabsts] Papst Clemens XIV. war am 22. September gestorben; dass er vergiftet wurde, ist nicht erwiesen. 20 der Ehrgeizzige] Gottlieb (Theophil) Augustin Maximilian von Strauß, Jurist in kurfürstlich mainzischen Diensten, seit 1769 Mitglied des Geheimen Ratskollegiums in Mainz, ein Vetter von Dumeiz; er war, auf Anregung von Dumeiz, seit Ende der 1760er Jahre mit Maximiliane verlobt gewesen, aus politischen Erwägungen aber auf Distanz zum liberal-aufgeklärten Haus La Roche gegangen und hatte die Verlobung gelöst (vgl. Werner Milch: Sophie La Roche. Die Großmutter der Brentanos. Frankfurt a. M. 1933., S. 127–129; Bach, Goethes „Dechant Dumeiz“, 255 f.) 26 Päte non dol〈et〉] Lat.: Paetus, es tut nicht weh! – Dies soll Arria zu ihrem Gatten Caecina Paetus gesagt haben, als sie ihm den Dolch zur Selbsttötung reichte, mit dem sie sich selbst zuvor den Todesstoß versetzt hatte (Gaius Plinius Caecilius Secundus: Briefe. Epistularum libri decem. Lateinisch-deutsch ed. Helmut Kasten. München und Zürich 1990, S. 173 [III 16,6]).


 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 154 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR154_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 133, Nr 154 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 332–335, Nr 154 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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