Goethes Briefe: GB 2, Nr. 149
An Johann Christian Kestner

〈Frankfurt a. M. 〉, 23. September 1774. Freitag → 〈Hannover〉


Habt ihr das Buch schon; so versteht ihr beygehendes Zettelgen, ich vergas es hinein zu legen im Hurrli in dem ich ietzt lebe. die Messe Tobt und kreischt, meine Freunde sind hier, und Vergangenheit u. Zukunft schweben wunderbaar in einander.

Was wird aus mir werden. O ihr gemachten Leute wieviel besser seyd ihr dran.

Ist Meyern wieder da. Ich bitt euch gebt das Buch noch nicht weiter, u. behaltet den lebendigen lieb, und ehret den Todten.

Nun werdet ihr die dunckeln stellen voriger Briefe verstehn

H: GSA Weimar, Sign.: 29/264,I,3, Bl. 6. – 1 Bl. 10,7 × 16,9 cm, Bordüre aus gereihten Krönchen (vgl. Mick, Nr 1), 1 S. beschr., egh., Tinte. – Beischluss: Nr 148 (vgl. die zweite Erläuterung zu 131,17).

E: Goethe und Werther​1 (1854), 218, Nr 104.

WA IV 2 (1887), 198, Nr 252.

Ein Bezugsbrief ist nicht bekannt. – Kestner antwortete Ende September/Anfang Oktober 1774 (vgl. RA 1, 58, Nr 36; Brief abgedruckt in der Erläuterung zu 133,20).

das Buch] Gemeint sind „Die Leiden des jungen Werthers“, die soeben erschienen waren. – Goethe war vermutlich schon vor dem 19. September 1774 im Besitz von Freiexemplaren, die er an seine Freunde verschickte (vgl. die zweite Erläuterung zu 130,18).

beygehendes Zettelgen] Das für Charlotte Kestner bestimmte Briefchen (Nr 148) war als Beilage zur Übersendung des „Werther“ gedacht.

im Hurrli] Wahrscheinlich von engl. hurly-burly: Aufruhr, Wirrwarr; so auch in Shakespeares „Macbeth“ (I 3). – Diese und ähnlich klingende Ausdrücke verwendete Goethe in dieser Zeit häufiger, so im „Prolog“ zum „Neueröfneten moralisch-politischen Puppenspiel“ (vgl. DjG​3 4, 33; vgl. auch 26,6; 53,15; 100,34).

die Messe] Die Frankfurter Herbstmesse, die dreieinhalb Wochen dauerte, hatte 1774 am Montag, dem 12. September, begonnen (vgl. Dietz, Handelsgeschichte, 40; vgl. auch zu 211,10).

meine Freunde] Gemeint sein könnten u. a. Johann Bernhard Basedow, der Goethe im Juli/August auf seiner Rheinreise begleitet hatte und sich offenbar im September noch in Frankfurt befand, sowie der Straßburger Theologe und Philosoph Johann Lorenz Blessig. Er war auf dem Weg nach Göttingen und unterbrach seine Reise in Frankfurt, um Goethe und Basedow kennen zu lernen (vgl. BG 1, 295).

ihr gemachten Leute] Anspielung auf Kestners vergleichsweise gesicherte Lebensverhältnisse, denen Goethe hier unausgesprochen seine eigene ungewisse Zukunft entgegenhält. Wohl auch als Anspielung auf die existenzielle Unsicherheit der literarischen Figur des Werther zu verstehen, mit dem sich der Autor hier gleichsam identifiziert.

Meyern] Ludwig Johann Georg Meier (auch: Meyer, Mejer), Kammersekretär in Hannover, war wie Goethe Pate des erstgeborenen Sohnes Georg Kestner (vgl. zu 93,1).

ehret den Todten] Wahrscheinlich eine doppelte Anspielung auf die literarische Werther-Figur sowie die historische Person Jerusalems, dessen Schicksal im Roman nachgestaltet war.

die dunckeln stellen voriger Briefe] Vgl. 85,18–20; 87,7–10.

 

 
 

Nutzungsbedingungen

Kontrollen

Kontrast:
SW-Kontrastbild:
Helligkeit:

Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 149 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR149_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 131, Nr 149 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 326–327, Nr 149 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

Zurück zum Seitenanfang