Goethes Briefe: GB 2, Nr. 146
An Sophie La Roche

〈Frankfurt a. M. 〉, 15. September 〈1774. Donnerstag〉 → Ehrenbreitstein bei Koblenz

Liebste Mama.

Die Max sah ich gestern in der Comödie, sie ist nicht mit mir zufrieden! Lieber Gott bin ich s doch selbst nicht. Sie hat Kopfweh ​1! – Lässt Sie bitten ihr ​2 Rath zu geben, und im Briefe ​Bewegung zu rathen, die arme Puppe stickt so zu Hause.

Sie fragten nach Lenz! – Es thut mir leid für Wieland dass er den sich aufgereizt, und auf eine ​abgeschmackte Weise aufgereizt hat, da ich ruhig bin. Es ist ein unglücklicher Man von der Seite, ich hab meine Freunde gebeten mir seinen Nahmen nicht mehr zu nennen. Lenz versöhnt sich ihm nicht, und Lenz ist ein gefährlicher Feind für ihn, er hat mehr Genie als Wieland, obgleich weniger Ton und Einfluss, und doch – – Ja liebe Mama, ich muss die Welt lassen wie sie ist ​3, und dem heiligen Sebastian gleich an meinen Baum gebunden, die Pfeile in den Nerven Gott loben ​4 und preisen. Halleluhah Amen. dℓ 15 S.


G.

  1. J​Kopfweh​ ↑
  2. ei​ihr​ ↑
  3. i|s|t​ ↑
  4. l×​oben​ ↑

Die fehlende Jahreszahl ergibt sich aus dem Inhalt, u. a. aus dem Erscheinen der Lenz-Rezension im „Teutschen Merkur“ 1774 (vgl. zu 130,7). Der Brief wurde nach Nr 145 eingeordnet, weil Goethe dort zwei Begegnungen mit Maximiliane Brentano erwähnt, im vorliegenden Brief jedoch ein Gespräch mit ihr im Einzelnen wiedergibt. Die umgekehrte Reihenfolge ist wenig wahrscheinlich. Außerdem ist denkbar, dass Goethe auf eine Anfrage, Lenz betreffend, eingeht, die bei Niederschrift des vorhergehenden Briefes noch nicht vorlag.

H: GSA Weimar, Sign.: 29/294,I, Bl. 11–12. – Doppelblatt 18,7 × 22,9 cm, 1 S. beschr., egh., Tinte; S. 3 Adresse: Herrn / Geheimderath von la Roche / nach / Coblenz / im Thal; unter der Adresse rotes Initialsiegel: „G“; Bl. 2 am rechten Rand in der Mitte durch Herausschneiden des Siegels beschädigt.

E​1: Katalog der Goethe-Ausstellung 1861. Berlin 1861, S. 27, Nr 104 (Teildruck: 130,12–14 Ja liebe Mama 〈…〉 Amen.).

E​2: Frese (1877), 152, Nr 20.

WA IV 2 (1887), 196 f., Nr 250.

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Sophie La Roches (vgl. 130,6). – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

Die Max] Maximiliane Brentano, Sophie La Roches Tochter.

Comödie] Im 18. Jahrhundert auch in weitester Bedeutung ,Schauspiel‘, hier: Schauspielhaus, Theater. – Theatervorstellungen in Frankfurt fanden in den 1770er Jahren im Junghof am Rossmarkt statt, den der holländische Oberst Bender von Bienenthal für diesen Zweck an Wandertruppen vermietete. Erst 1782 wurde ein städtisches Komödienhaus eröffnet; 1792 gab es erstmals ein festes Ensemble.

sie ist nicht mit mir zufrieden] Über den Grund ist nichts Näheres bekannt; aber vermutlich gibt es einen Zusammenhang mit Goethes gespanntem Verhältnis zum Hause Brentano (vgl. zu 95,3). Aus Nr 117 und 122 geht hervor, dass Goethe das Haus mied.

im Briefe] Gemeint ist wohl: in einem ostensiblen, für den Ehemann Brentano bestimmten Brief.

stickt] Von Goethe öfter benutzte starke Flexionsform von ‚stecken‘.

aufgereizt] Anspielung auf zwei Rezensionen im „Teutschen Merkur“; im 7. Band (Juli–September 1774, S. 355 f. und 356–358) waren die „Lustspiele nach dem Plautus fürs deutsche Theater“ (Frankfurt und Leipzig 1774) und die „Komödie“ „Der Hofmeister oder Vortheile der Privaterziehung“ (Leipzig 1774) von Jakob Michael Reinhold Lenz besprochen worden, die ersten wohlwollend, die zweite kritisch. Beide Werke waren unter tätiger Förderung Goethes veröffentlicht worden, der sogar als Verfasser des zweiten Werks angesehen wurde. Dem Drama wird bescheinigt, dass „man zuweilen bey der Natur die Kunst, und bey der Kunst die Natur“ vermisse (S. 357), was besonders die Titelfigur betreffe: „Am unnatürlichsten und übereiltesten ist des Hofmeisters Schicksal.“ (S. 358.) Ob die nicht unterzeichneten Rezensionen von Wieland selbst stammen, ist unsicher (vgl. Wielands Gesammelte Schriften 〈Akademie-Ausgabe〉. 1. Abt.: Werke. Bd 21: Kleine Schriften I. 1773–1777. Hrsg. von Wilhelm Kurrelmeyer. Berlin 1939, S. 399–401; Thomas C. Starnes: Der teutsche Merkur. Ein Repertorium. Sigmaringen 1994, S. 432, Nr 562). Ganz anders war Lenz' Stück in den FGA (Nr 59 vom 26. Juli 1774 [Bd 3], S. 489–493) aufgenommen worden; die enthusiastische Rezension, welche Shakespeare und „Götz von Berlichingen“ zu Vorbildern des gegen die aristotelischen Regeln verstoßenden Dramas erklärt, beginnt: „Dank sey dem Manne, der Muth hat, zu zerbrechen, was Geist und Herz bindet, und uns dafür giebt, was so selten ist – Menschen und wahres Gefühl!“ (S. 489.)

da ich ruhig bin] Gemeint ist: ‚da ich nicht gegen Wieland auftrete‘.

von der Seite] Gemeint ist vielleicht Lenz' Charakterzug heftig auf Kritik zu reagieren, sowie seine Gabe, andere durch Ungeschick und Ungestüm gegen sich aufzubringen.

mir seinen Nahmen nicht mehr zu nennen] Die Briefstelle spiegelt eine Verstimmung über Lenz wider, die Goethe der Freundin Wielands gegenüber tiefer gehend erscheinen lässt, als sie war. Sie könnte mit Lenz' vorgeblich eigenmächtiger Veröffentlichung von Goethes Farce „Götter Helden und Wieland“ in Zusammenhang stehen, die sich gegen Wieland richtete (vgl. zu 76,12). Über die Beziehung zwischen Goethe und Lenz vgl. die erste Erläuterung zu 13,5.

heiligen Sebastian] Der christliche Märtyrer aus der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts wurde der Legende nach durch Pfeilschüsse gemartert. Eine bekannte Darstellung dieser Szene stammt von Anthonis van Dyck, dessen Gemälde „Der heilige Sebastian“ in der Düsseldorfer Galerie hing, die Goethe am 21. Juli während seiner Rheinreise besucht hatte (vgl. zu 103,15).

Nerven] Hier: Sehnen, Muskeln (vgl. Grimm 7, 610).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 146 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR146_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 130, Nr 146 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 322–324, Nr 146 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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