Goethes Briefe: GB 2, Nr. 143
An Friedrich Heinrich Jacobi

〈Frankfurt a. M. 〉, 31. August 〈1774. Mittwoch〉 → 〈Düsseldorf〉


Mir ist ganz wohl euch zu sehen in freyer Gottes welt, theils des gegenwärtigen Genusses willen der verjüngt Leib und Seele, teils auch in Hofnung gutes Vorbedeutens dass du dich muthig entreissen wirst der papirnen Vestung Spekulations u. literarischer Herrschafft. denn das raubt dem Menschen alle Freude an sich selbst. Denn er wird herumgeführt von dem und ienem, hie in ein Gärtgen da in eine Baumschule, in einn1 Irrgarten u. Irrgärtgen, und preiset ihm ieder an seiner Hände Werck, und endℓ. siehet er in seine Hände die ihm auch Gott gefüllt hat mit Krafft u. allerley Kunst, und es verdreusst ihn des Gaffens u. Schmarozens an andrer Schöpfungsfreude, ​2 u. kehret zurück zu seinem Erbteil, saet, pflanzt u begiesst, und geniest sein ​3 und der seinigen in herzlich Würckender Beschränckung. So mit seyst du eingeseegnet wo du auch stehest und liegest auf Gottesboden, wandere ​4 so fort dass sich in dir kräfftige Liebe, aus ihr Einfalt keime ​5, aus der mächtiges Würcken aufblüht. – Lebt wohl. am 31 Aug. /



Hier eine Ode zu der Melodie und Commentar nur der Wandrer in der Noth erfindet.

davor hoff ich auf das weitere Tagbuch eures Zugs, das doch auch von Zeit zu Zeit Rost führen möge, um euch beyde recht rund zu mir zu bringen.

Hier zwey Lav. für den Bruder, Rosten. Auch für Jung einen. /



Wen du nicht verlässest Genius Nicht der Regen nicht der Sturm Haucht ​6 ihm Schauer übers Herz Wem ​7 du nicht verlässest ​8 Genius. Wird der Regen Wolck Wird dem Schlossensturm Entgegensingen ​9 wie die Lerche du dadroben. Wen du nicht verl p.
Den du nicht verlässest Genius. Wirst ihn heben übern Schlammpfad Mit den Feuerflügeln Wandeln wird er Wie mit Blumenfüssen Uber deukalions fluth schlamm Python todtend leicht gros Pythius Apollo Den ​10 du nicht verlässest Genius
Dem du nicht verlässest Genius Wirst die wollnen Flügel unterspreiten Wenn er auf dem Felsen schläfft Wirst mit Hüterfittigen ihn decken In ​11 des Haines Mitternacht. Wen du nicht verlässest Genius Wirst im Schneegestöber Wärm ​12 um hüllen / Nach der Wärme ziehn sich Musen Nach der Wärme Charitinnen. Wen du nicht verlässest Genius.
Umschwebt mich ihr Musen! Ihr Charitinnen! Das ist Wasser das ist Erde Und der Sohn des Wassers und der Erde Über den ich wandle Göttergleich
Ihr seyd rein wie das Herz der Wasser Ihr seyd rein wie das Marck der Erde Ihr umschwebt mich und ich schwebe Uber Wasser über Erde Göttergleich. ————————— Soll der zurückkehren der kleine schwarze feurige Bauer Soll der zurückkehren, erwartend Nur deine Gaben Vater Bromius Und hellleuchtend um wärmend Feuer Soll der zurückkehren ​13 mutig. Und ich den ihr begleitet Musen und Charitinnen all / den Alls erwartet ​14 was ihr Musen und Charitinnen Umkränzende Seeligkeit Rings ums Leben verherrlicht habt, Soll muthlos kehren?
Vater Bromius Du bist Genius Jahrhunderts Genius Bist was innre Glut Pindarn war Was der Welt Phöb Apoll ist.
Weh weh innre Wärme Seelen Wärme Mittelpunckt Glüh ihm entgegen Phöb Apollen Kalt wird sonst Sein Fürstenblick Uber dich vorüber gleiten Neidgetroffen Auf der Ceder Grün verweilen die zu grünen Sein nicht harrt. ————————— Warum nennt mein Lied dich zulezt? / Dich von dem es begann Dich in dem es endet Dich aus dem es quoll Jupiter Pluvius. dich dich strömt mein Lied Jupiter Pluvius. Und Castalischer Quell Quillt ein Nebenbach ​15 Quillet müsigen Sterblich Glücklichen Abseits von dir Jupiter Pluvius der du mich fassend deckst Jupiter Pluvius Nicht am Ulmen Baum Hast du ihn besucht Mit dem Tauben Paar In dem zärtlichen Arm Mit der freundlichen Ros umkränzt Tändelnden ihn blumenglücklichen Anakreon. Sturmathmende Gottheit. Nicht im Pappelwald An des Sibaris Strand In dem hohen Gebürg nicht Dessen Stirn die Allmächtige Sonne beglänzt Faßtest du ihn den Bienensingenden Honig lallenden Freundlich winckenden Theokrit. /
Wenn die Räder rasselten Rad an Rad Rasch ums Ziel weg Hoch flog sieg durchglühter Jünglinge Peitschenknall Und sich Staub wälzt Wie von Gebürg herab sich. Kieselwetter ins Tahl wälzt Glühte deine Seel Gefahren Pindar Muth Pindar – Glühte – Armes Herz – dort auf dem Hügel – Himmlische Macht – Nur so viel Glut – dort ist meine Hütte – Zu waten bis dort hin.
  1. ein|n|​ ↑
  2. Schöpfungsfreude.​,​ ↑
  3. sey​in​ ↑
  4. wa×​ndere​ ↑
  5. kein​me​ ↑
  6. Haut​cht​ ↑
  7. w​Wem​ ↑
  8. verlässess​t​ ↑
  9. Entg⎡eg⎤ensingen​ ↑
  10. ×​Den​ ↑
  11. i​In​ ↑
  12. w​Wärm​ ↑
  13. zurückkehrend​ ↑
  14. erwarten​t​ ↑
  15. n​Nebenbach​ ↑

Die fehlende Jahresangabe ergibt sich aus dem Inhalt; der vorliegende Brief bezieht sich auf Friedrich Heinrich Jacobis Brief vom 26. August 1774.

H: FDH/FGM Frankfurt a. M., Sign.: 2673/2673a. – 2 ineinandergelegte Doppelblätter 11,2(–11,4) × 18,7(–18,9) cm, das erste Doppelblatt getrennt, 6 ½ S. beschr. (S. 1–2: Brief; S. 3–7: Gedicht), egh., Tinte.

E: Goethe-Jacobi (1846), 37–39, Nr 4.

WA IV 2 (1887), 194 f., Nr 247 (Brief; Textkorrektur in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 210); WA I 2 (1888), 67–71 und 309–311 (Gedicht „Wandrers Sturmlied“ und „Lesarten“).

3 Silhouetten Lavaters (vgl. 125,4).

Der Brief beantwortet Friedrich Heinrich Jacobis Brief vom 26. August 1774 (JB I 1, 247–250; vgl. RA 1, 57, Nr 32). – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

euch zu sehen in freyer Gottes welt] Im Bezugsbrief hatte Jacobi ausführlich von einem Ausflug berichtet, den er mit Heinse, streckenweise auch mit seiner Frau und den Halbschwestern Charlotte und Helene, in die Umgebung Düsseldorfs unternommen hatte. Der Brief wurde „Auf einem waldichten Hügel, in rauschendem Schatten“ begonnen, „Nachmittags, in der Garten-Laube eines Eremiten“ fortgesetzt und „In der Capelle des Eremiten“ beendet (JB I 1, 247 und 249).

einn] Wahrscheinlich verschrieben für ‚einen‘.

siehet 〈…〉 Schöpfungsfreude] Jacobi griff diese Stelle in der „An Goethe“ gerichteten Widmung seines Romans „Woldemar“ auf: „Liebend, zürnend, drohend riefst Du mir zu in jenen Zeiten: ‚Der Genügsamkeit, die sich mit Theilnehmung an Anderer Schöpfungsfreude sättigte, zu entsagen; nicht länger zu ​gaffen; sondern in die eigenen Hände zu schauen, die Gott auch gefüllt hätte mit Kunst und allerley Kraft.‘“ (T. 1. Königsberg 1794, S. VIII.)

Ode] Goethes später „Wandrers Sturmlied“ überschriebenes Gedicht, das auf den Brieftext folgt.

Rost] Pseudonym für Wilhelm Heinse (vgl. die dritte Erläuterung zu 111,28).

zwey Lav.] Für einen „Schattenriß“ Johann Caspar Lavaters hatte Jacobi schon im Bezugsbrief gedankt (vgl. JB I 1, 250); jetzt schickt Goethe weitere Silhouetten.

Bruder] Johann Georg Jacobi.

Jung] Johann Heinrich Jung.

Wen du nicht verlässest 〈…〉 dort hin.] Älteste Fassung des Gedichts, das Goethe unter dem Titel „Wandrers Sturmlied“ in die Handschrift der ersten Weimarer Gedichtsammlung (H: GSA; Sign.: 25/W 18 Bl. 2–4) aufnahm, die um 1777, vermutlich 1778 (vgl. FA/Goethe I 1, 911 f.), zusammengestellt wurde. Im Folgenden können nur einige Sacherläuterungen gegeben werden. Zur Deutung des Gedichts vgl. die Anmerkungen von Karl Eibl (in: FA/Goethe I 1, 854–867) und von Bernd Witte (in: Goethe-Handbuch​3 1, 87–99) sowie die dort gegebenen Literaturhinweise.

Wen du nicht verlässest Genius] Nach Horaz (Quem tu, Melpomene 〈…〉; Carmina IV 3,1) und Klopstock (Wen des Genius Blick 〈…〉; Der Lehrling der Griechen, Vers 1). – Nach Vorstellung der Römer war der Genius eine Art persönlicher Schutzgeist, der den Menschen von Geburt an begleitete.

Schlossensturm] Schlossen: Hagel.

deukalions fluth schlamm] Nach Ovids „Metamorphosen“ (vgl. 1,244–451) schickte Jupiter zur Strafe für die unfrommen Menschen eine Sintflut, die nur Deukalion und seine Frau Pyrrha überlebten.

Python 〈…〉 Apollo] Python war in der antiken Mythologie ein riesiger Drache, der aus der Flut von Gaia, der Erde, hervorgebracht und von Apollon getötet wurde, welcher daher den Beinamen Pythius erhielt.

Dem du] Verkürzt für ‚dem, den du‘; nach Art der ‚relativen Verschränkung‘ im Lateinischen werden hier Demonstrativ- und Relativpronomen miteinander verschränkt.

mit Hüterfittigen ihn decken] Vgl. das Bild im Lied Moses: „Wie ein Adler ausführet seine Jungen, und über ihnen schwebet. Er breitete seine Fittige aus, und nahm ihn, und trug sie auf seinen Flügeln.“ (5 Mose 32,11; Luther-Bibel 1768 AT, 460.)

Charitinnen] Die drei Chariten, Töchter des Zeus: Aglaia (Glanz), Euphrosyne (Frohsinn) und Thaleia (Blüte).

Sohn des Wassers und der Erde] Der Urschlamm (vgl. 125,19)

Bromius] Griech./lat.: der Lärmer; Beiname des Bacchus, „welchen er von dem Donnern und Krachen bekommen, welches sich bey dessen Geburt erhub“ (Hederich, 566).

Pindarn] Vgl. GB 1 II, zu 230,11.

Phöb Apoll] Phoibos, Phöbus (der Reine, Glänzende, Leuchtende), Beiname des Apollon in seiner Eigenschaft als Sonnengott.

Pluvius] Lat.: der Regenbringende; Beiname des Jupiter.

Castalischer Quell] Wer aus dieser in der Nähe Delphis gelegenen Quelle trinkt, wird zum Dichter.

Nicht am Ulmen Baum 〈…〉 Anakreon.] Ulmenbaum mit Rebe, turtelnde Tauben, Rosen als Zierde des Dichters gehörten zur Motivik der anakreontischen Dichtung. – Anakreon: griechischer Dichter, nach dem eine Stilrichtung der europäischen Rokokolyrik benannt ist, welche Liebe, Wein, Geselligkeit und epikureischen Lebensgenuss in Schäferkostüm und arkadischer Landschaft besingt.

Sibaris] Hier ist wohl die griechische Kolonie Sybaris am Golf von Tarent mit sprichwörtlichem Reichtum und Wohlleben gemeint, irrtümlich als Heimat des aus Sizilien stammenden griechischen Idyllendichters Theokrit betrachtet. Sibaris war auch „ein grausames Ungeheuer, welches sich in einer Höhle des Parnasses aufhielt“ (Hederich, 2273).

Wenn die Räder 〈…〉 Staub wälzt] Anspielung auf das antike Wagenrennen.

Kieselwetter] Hagel.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 143 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR143_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 124–128, Nr 143 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 316–318, Nr 143 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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