Goethes Briefe: GB 2, Nr. 139
An Johann Caspar Lavater

〈Frankfurt a. M. , zwischen 16. und 28. August 1774〉 → 〈Zürich〉

〈Druck〉


Lieber Lavater, eine Bitte! Beschreibe mir mit der Aufrichtigkeit eines Christen, aber ohne Bescheidenheit – Gerechtigkeit ist gegen die, was Gesundheit gegen Kränklichkeit – Deine ganze That wider den Landvogt Grebel, was Deine Schrift oder Rede veranlast, was darauf erfolgt ist, plutarchisch – damit ich Dich mit Deiner That messe, du braver Geistlicher! du theurer Mann! Eine solche That gilt hundert Bücher, und wenn mir die Zeiten wieder auflebten, wollt ich mich mit der Welt wieder aussöhnen. Schreib mir's ganz, ich beschwöre Dich – um Deinetwillen.

Am 16. August 1774 war in Nr 131 des „Journals. In Frankfurt am Mayn“ neben neuen Predigten Lavaters auch die von ihm nicht autorisierte Schrift „Der von Jo. Caspar Lavater glücklich besiegte Landvogt Felix Grebel“ (Arnheim 1769) angezeigt worden. Durch Goethes Anfrage im vorliegenden Brief aufmerksam gemacht, verfasste Lavater unter dem 1. September eine scharfe Erklärung, in der er sich von dieser Publikation distanzierte (vgl. Goethe-Lavater​3, 390 f.). Diese Erklärung sandte er Goethe zu, der sie abmildernd redigierte und mit Datum vom 1. September 1774 am 24. September in Nr 153 des „Journals. In Frankfurt am Mayn“ veröffentlichte (vgl. DjG​3 4, 274). Der vorliegende Brief ist also in der Zeit zwischen dem 16. und – da die Post zwischen Frankfurt und Zürich etwa vier Tage benötigte (vgl. Datierung zu Nr 67 und 84) – 28. August 1774 geschrieben worden.

H: Verbleib unbekannt.

E: Ulrich Hegner: Beiträge zur nähern Kenntniß und wahren Darstellung Johann Kaspar Lavater's. Aus Briefen seiner Freunde an ihn, und nach persönlichem Umgang. Leipzig 1836, S. 99.

WA IV 3 (1888), 148 f., Nr 589 (nach E; Doppeldruck).

WA IV 30 (1905), 6, Nr 246a (nach E; Doppeldruck).

Textgrundlage: E.

Ein Bezugsbrief ist nicht bekannt. – Lavater antwortete mit der Übersendung seiner Erklärung (vgl. Datierung); ein Begleitbrief ist nicht überliefert.

Goethe hatte erst durch die Zeitungsanzeige (vgl. Datierung) von Lavaters „moderner Tellenthat“ (Goethe-Lavater​3, 390) erfahren: In einem anonymen Schreiben vom 27. August 1762 hatte der 20-jährige Lavater den früheren Landvogt von Grüningen Felix von Grebel der Korruption und des Amtsmissbrauchs bezichtigt und ihn aufgefordert, innerhalb zweier Monate Wiedergutmachung zu leisten; andernfalls werde die Sache an die Öffentlichkeit gebracht. Als Grebel nicht reagierte, verfasste Lavater am 20. Dezember des Jahres die Schrift „Der ungerechte Landvogd oder Klagen eines Patrioten“ (Zürich 1762) und ließ sie mit Hilfe seines Freundes Johann Heinrich Füßli verteilen. Die Affäre führte zur Abmahnung der Freunde wegen eigenmächtigen Handelns durch den Zürcher Magistrat; zugleich jedoch erwiesen sich die Vorwürfe gegen Grebel als berechtigt, und er wurde entlassen. – In einem Brief an Goethe von Mitte September 1774 schreibt Lavater über seine Erklärung vom 1. September 1774: „Ob das Ding wegen Grebel in den Journal gedruckt werde, ist ​mir an sich ziemlich gleich – aber – aber! Meine Herrn werden denken, ich habe sie zum beßten; denn förmlicher Auftrag ists doch, so was (und dies hat der Präses der Censur gelesen u. gebilligt) drucken zulaßen. Setze dich genau in meine Situation u. entscheide, oder schreib mir einen ​zeigbaren umständlichen Brief, den der Präses lesen muß. – Der geradeste Weg aber wär, es laufen zulaßen.“ (Goethe-Lavater​3, 39.) Ein entsprechender Brief Goethes ist nicht bekannt. Dieser schickte die gedruckte Erklärung mit Nr 150 an Lavater, der sich am 30. September dafür bedankte (vgl. Goethe-Lavater​3, 41 f.).

plutarchisch] Im ausführlichen, anschaulichen Stil des griechischen Historikers Plutarch in seinen Βίοι παράλληλοι (Parallelbiographien), Lebensbeschreibungen berühmter Griechen und Römer, von denen je zwei einander gegenübergestellt und miteinander verglichen werden.

braver Geistlicher] ‚Brav‘ hier noch im Sinne von „mutig, tapfer“ (GWb 2, 869).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 139 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR139_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 116, Nr 139 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 308–309, Nr 139 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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