Goethes Briefe: GB 2, Nr. 118
An Johanna Fahlmer?

〈Frankfurt a. M. , Mitte Juni? 1774〉 → 〈Frankfurt a. M.〉

〈Druck〉


Das ist mein Mann! Er hat Hunderten das Wort vorm Maule weggenommen. Eine solche Fülle hat sich mir so leicht nicht dargestellt. Ich halte dafür, daß sich nichts über ihn sagen läßt. Man muß ihn bewundern und mit ihm wetteifern. Wer etwas Anderes thut, oder sagt so! und so! ist eine Canaille. Adieu

Goethe schrieb den Brief, welcher die Übersendung von Wilhelm Heinses Roman „Laidion“ begleitete (vgl. Zum Adressaten), ohne den Verfasser des Werks zu kennen. – Der Roman war zur Leipziger Ostermesse 1774 anonym erschienen. – Das erste Zeugnis dafür, dass Goethe von der Identität des Autors erfahren hatte, ist der Brief an Gottlob Friedrich Ernst Schönborn vom 1. Juni bis 4. Juli 1774 (Nr 123), und zwar der Briefteil vom 4. Juli. Dieses Datum ist also als Terminus ante quem zu betrachten. Spätestens am 16. Juni muss Goethe Heinses Roman erhalten haben, denn an diesem Tag schreibt er an Sophie La Roche: Von der Messe hab ich drei Meisterstücke, und zwar Herders „Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts“, Klopstocks „Gelehrtenrepublick“ sowie eines ​Ungenanten Laidion (92,24). Goethes Äußerung gegenüber La Roche setzt eine Lektüre des Romans voraus. In dem genannten Brief an Schönborn spricht Goethe im Briefteil vom 8. Juni über Herders Werk und schreibt: Sonst hab ich nichts von der Messe kriegt das der Worte unter uns werth wäre. Klopstocks Republick ist angekommen. Mein Exemplar hab ich noch nicht. (97,7–10.) Von Heinses Roman ist noch nicht die Rede. Am 10. Juni berichtet Goethe dann von Klopstocks Schrift und erst am 4. Juli von Heinses Werk. Er hat dieses also offenbar nach dem 10. Juni erhalten und vor dem 16. Juni gelesen. Aus Heinses Bericht (vgl. Zum Adressaten) geht hervor, dass Goethe der Roman durch eine „junge Dame in Frankfurt“ übersandt wurde, die um sein Urteil gebeten habe. Damit könnte Johanna Fahlmer gemeint sein. Da anzunehmen ist, dass Goethe ihr seinen Eindruck recht bald nach der Lektüre des Romans übermittelt hat, wurde der vorliegende Brief wahrscheinlich um Mitte Juni 1774 geschrieben.

In Wilhelm Heinses Brief an Klamer Schmidt vom 8. Juli 1774 heißt es: „Meine Laidion gefällt Vielen mehr, als ich erwartet habe 〈…〉. Eine junge Dame in Frankfurt übersendete Laidion Göthen und bat ihn, sie durchzulesen und ihr sein Urtheil darüber zu sagen. Darauf sandte er sie ihr wieder zurück mit diesem Billet: 〈Es folgt vorliegendes Billett.〉“ (Heinse, Briefe 1, 222.) Mit der ,jungen Dame‘ ist aller Wahrscheinlichkeit nach Johanna Fahlmer gemeint, die entweder eine Abschrift des Billetts oder das Original selbst an die Jacobis und Heinse geschickt haben könnte; sie sandte wiederholt Briefe Goethes nach Düsseldorf (vgl. Überlieferung zu Nr 203, 215, 259).

H: Verbleib unbekannt.

h: Verbleib unbekannt. – Abschrift Wilhelm Heinses in dessen Brief an Klamer Schmidt vom 8. Juli 1774.

E: F. L—tsch: 〈Artikel〉 Wilhelm Heinse. In: Zeitgenossen. Ein biographisches Magazin für die Geschichte unserer Zeit. Bd 2. Heft 8. 1830, S. 72 (nach h).

WA IV 2 (1887), 170, Nr 230 (nach E).

Textgrundlage: E.

1 Exemplar von Wilhelm Heinses Roman „Laidion“ (vgl. Zum Adressaten).

Das Billett bezieht sich auf die Zusendung von Wilhelm Heinses Romans „Laidion“; ein Begleitbrief Johanna Fahlmers ist nicht bekannt. – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

In Heinses Roman „Laidion oder die Eleusinischen Geheimnisse“ (T. 1. Lemgo 1774) schildert die Titelheldin, eine griechische Hetäre, nach ihrem Tod die sinnlichen Freuden der Unterwelt und ihres früheren Lebens als Gefährtin bedeutender Philosophen. Als Anhang erschien die Beschreibung einer antiken Badeszene in „wollüstigen Stanzen“ (Heinse an Wieland, 10. oder 11. Dezember 1773; WB 5, 200). Wieland, der sie im „Teutschen Merkur“ bereits vor Erscheinen des Romans abdrucken sollte, hielt sie für „so unzüchtig 〈…〉, daß der Poet nur von Hurenwirthen und Bordellnymphen mit Beyfall gelesen zu werden hoffen“ könne (Brief an Gleim, 22. Dezember 1773; WB 5, 211). – Goethe dagegen war begeistert. Ein ähnlich positives Urteil über die „Laidion“ wie im vorliegenden Brief zitiert Heinse in einem Brief an Klamer Schmidt vom 13. Oktober 1774: „Göthe sagte: es wird schon eingreifen, so wie die Vorrede zum Petron, ob's gleich was ganz anders ist; laßt die Kerls raisonieren, was sie wollen; sie machen uns unsre Leute damit nicht anders; in den Charaktern ist hier und da ein bißchen gelogen, aber mich hat's entzückt. – Und was die Stanzen betrift, so was hab' ich für unmöglich gehalten. Es ist weiter doch nichts als eine Jouissance 〈franz.: Genuss〉, aber der Teufel mach dir 50 solche Stanzen darüber nach – Kurz; ich darf nichts darüber sagen, es ist so vieles darinn, das nicht anders ist, als ob ich's selbst geschrieben hätte – Ein andrer verhurt seine Säfte, ihr habt Stanzen daraus gemacht. So ist's.“ (Heinse, Briefe 1, 228; vgl. auch BG 1, 281.) – Über „Laidion“ vgl. auch 99,1–8.

Mann] Wilhelm Heinse.

das Wort vorm Maule weggenommen] Im Sinne von ‚jemandem das Wort aus dem Mund genommen‘ (vgl. Adelung 3, 117).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 118 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR118_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 92, Nr 118 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 254–255, Nr 118 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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