Goethes Briefe: GB 2, Nr. 109
An Sophie La Roche

〈Frankfurt a. M. , 7. oder 8.? Mai 1774. Samstag oder Sonntag?〉 → 〈Ehrenbreitstein bei Koblenz〉

〈Abschrift〉


Liebe Mama, ich habe des künftigen Merkurs Stellen gelesen die Mich betreffen. Er Tracktiert die Sache wie ein braver Kerl der vest im Satel sizt Ich habe nie was gegen ihn gehabt und nun verzeih ich ihm auch seine Lästerungen wieder meine Götter. – Zu Singlingen, der goldenen Hochzeit, da ich ach den Geburtstag Ihrer lieben Max herbey tanzte, hab ich Ihrer viel gedacht. O Mama! es waren viel Lichter da, und Schweyzers Willemine kriegte mich am Arm und fragte: Warum zündt man so viel Lichter an? Das war eine Frage einen ganzen Stern ehimmel zu beschämen, geschweiche eine Ilumination. Ich hab mich nach Ihnen umgesehn, hab Ihrer Max den Arm gegeben wenig Augenblicke. Wenn's Ihnen auch nicht ums herz ist sich zu repandieren, sagen Sie mir doch ein Wort vom Herzen. Sie werden sehn wie Sie meinem Rad Schwung geben wenn Sie meinen ​Werther lesen, den fing ich an als Sie weg waren den andern Tag, und an einem fort. fertig ist er.

Die im Brief erwähnte goldene Hochzeit des Ehepaars Allesina (vgl. 86,4–5) wurde vom 2. bis zum 6. Mai 1774 gefeiert. Die Nacht, in welcher Goethe den Geburtstag Maximiliane Brentanos geb. La Roche herbey tanzte (86,5–6), war die vom 3. auf den 4. Mai. Wielands Rezension des „Götz“ und die Anzeige von „Götter Helden und Wieland“ lernte Goethe durch Johanna Fahlmer in Abschriften oder Aushängebogen wahrscheinlich am 6. Mai nach Beendigung der Hochzeitsfeierlichkeiten kennen. Der vorliegende Brief wurde unter dem unmittelbaren Eindruck der Lektüre von Wielands Rezension und Anzeige geschrieben, vermutlich also am 7. oder 8. Mai 1774. – Diese Datierung folgt Überlegungen von Hans Böhm (vgl. Böhm [1973], 257–264) und Siegfried Scheibe (Die goldene Hochzeit des Ehepaares Allesina. Zur Datierung eines Goethe-Briefes, in: GJb 105 [1988], 270–276).

H: Verbleib unbekannt.

h​1: The Pierpont Morgan Library, New York, Misc. Heineman, H Goethe-Bettina, MSS 1. – Abschrift von Bettine Brentano vom 2. oder 3. Juni 1806 (= h​a; vgl. Vorbemerkung in der Überlieferung zu Nr 47).

h​2: The Pierpont Morgan Library, New York, Misc. Heineman, H Goethe-Bettina, MSS 1. – Abschrift von Bettine Brentano (= h​b; vgl. Vorbemerkung in der Überlieferung zu Nr 47).

h​3: FDH/FGM Frankfurt a. M., Sign.: 10721–10732. – Abschrift von Johann Friedrich (Fritz) Schlosser (= h​c; vgl. Vorbemerkung in der Überlieferung zu Nr 47).

h​4: GSA Weimar, Sign.: 29/294,III. – Abschrift von fremder Hd (= h​d; vgl. Vorbemerkung in der Überlieferung zu Nr 47).

E: Frese (1877), 149 f., Nr 15 (nach h​3).

WA IV 2 (1887), 163 f., Nr 223 (nach Goethe-La Roche, 41 f. [dort vermutlich nach einer nicht überlieferten Abschrift von h​3]).

Textgrundlage: h​1. – Vgl. Vorbemerkung in der Überlieferung zu Nr 47.

Mama, ich] Mama. Ich ​h​2 Mich] mich ​h​2 Tracktiert] tracktiert ​h​2 Kerl] Kerl, ​h​2 Satel] Sattel ​h​2 sizt] sizt. ​h​2      gehabt] gehabt, ​h​2 Lästerungen] Lasterungen ​h​2 Götter. –] Götter! – ​Absatz h​2 goldenen] goldnen ​h​2 ich] ich, ​h​2 Warum] warum ​h​2 Sternehimmel] Stern himmel ​h​2 beschämen,] beschämen –, ​h​2 Ilumination] Ilumination ​h​2 umgesehn] umgesehen ​h​2 Augenblicke.] Augenblicke. – ​Absatz h​2 Wenn's] Wenns ​h​2 herz] Herz ​h​2      sehn] sehen, ​h​2 Werther] Werther ​h​2 fort.] fort! ​h​2

Ein Bezugsbrief ist nicht bekannt. – Der Antwortbrief, der in Nr 111 erwähnt wird (vgl. 87,12), ist nicht überliefert.

ich habe 〈…〉 die Mich betreffen] Die Formulierung künftigen Merkurs zeigt an, dass Goethe Wielands „Götz“-Rezension und die Anzeige der Farce „Götter Helden und Wieland“, die im 6. Band des „Teutschen Merkur“ erschienen (3. Stück. Juni 1774, S. 321–333 und 351 f.), in Abschriften oder Aushängebogen bereits kannte. Johanna Fahlmer schildert in einem nicht überlieferten, nur in einem Auszug vorhandenen Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 6. oder 7. Mai ausführlich ein Gespräch mit Goethe, das sie mit ihm führte, nachdem sie ihm „die Blätter vom Merkur“ (also wohl Manuskriptseiten) zu lesen gegeben hatte (vgl. JB I 1, 229–232). Goethe, der mit einem harten Gegenangriff Wielands auf dessen Verspottung in seiner Farce gerechnet hatte (vgl. die zweite Erläuterung zu 78,3), fühlte sich erleichtert, als er las, dass Wieland diese als gelungene Persiflage würdigte (vgl. zu 76,14–15) und resümierte: „Der Herr D. Göthe, Verfasser dieses Werkleins, nachdem er uns in seinem Götz von Berlichingen gezeigt hat, daß er Shakespear seyn könnte, wenn er wollte: hat uns in dieser heroisch-komisch-farcialischen Pasquinade gewiesen, daß er, wenn er wolle, auch Aristophanes seyn könne.“ (S. 351; über die Rezension des „Götz“ vgl. auch zu 47,6.) Laut Johanna Fahlmer reagierte Goethe ganz im Sinne des vorliegenden Briefes: „Nu, Wieland, du bist ein braver Kerl! ein ganzer Kerl! 〈…〉 Nun, Wieland; unsre Fehde ist aus 〈…〉.“ (JB I 1, 230 f.; der Wortlaut des Gesprächs ist auch abgedruckt in BG 1, 251–254.)

Tracktiert] Lat. tractare: behandeln.

braver] Das Adjektiv ,brav‘ bedeutete zeitgenössisch allgemein ‚gut‘, ‚tüchtig‘, im vorliegenden Kontext auch „mannhaft, sich bewährend“ (GWb 2, 869).

Kerl] Das aus dem Mittelniederdeutschen stammende Wort trägt hier noch den Nebensinn ‚freier Mann nicht ritterlichen Standes‘ (vgl. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 23., erweiterte Aufl. Bearbeitet von Elmar Seebold. Berlin, New York 1999, S. 438).

nie was gegen ihn gehabt] Im Brief an Philipp Erasmus Reich vom 20. Februar 1770 (GB 1 I, Nr 67) nennt Goethe Wieland neben Oeser und Shakespeare einen seiner ächten Lehrer (GB 1 I, 188,18). Über den aktuellen Zwist mit Wieland äußerte sich Goethe in dem Gespräch mit Johanna Fahlmer über die Beurteilung des „Götz“: „Das ists just was mich an W. so ärgerte, und mich reitzte, mich gegen ihn auszulassen. ​Da, der ​Ton. Sehen Sie, liebe Tante; ich wills nicht sagen: ich selbst hab Recht, W. hat Unrecht. denn Alter, Zeitpunkte, alles macht Verschiedenheit in der Art zu sehen und zu empfinden. Jetzt denk' ich nun ​so und ​so; vielleicht in dem Alter von W. – wer weiß noch eher? – denke ich ​just so, wie ​er. 〈…〉 ‚Mit der Zeit! Mit der Zeit!‘ Ja, das ists, das ists! just, just ​so spricht mein Vater; die nehmliche Händel, die ich mit diesem in Politischen Sachen habe, hab' ich mit W. in diesen Punkten. Der Vater-Ton! der ists just, der mich aufgebracht hat.“ (JB I 1, 230.) Von diesen persönlichen Motiven abgesehen, geht es in Goethes Satire freilich auch um poetische Differenzen, um Wielands Euripides-Kritik im Besonderen (vgl. zu 50,20–21) und um dessen empfindsame Auffassung der Antike; vgl. darüber 96,11–12.

Singlingen] Gemeint ist Sindlingen, ein Dorf westlich von Frankfurt.

goldenen Hochzeit] Es handelte sich um die goldene Hochzeit des Frankfurter Seidenhändlers Johann Maria Allesina und seiner Frau Franciska Clara geb. Brentano. Eine Beschreibung der mit großem Aufwand veranstalteten Feierlichkeiten findet sich in Belli-Gontard, 148–150.

Geburtstag] Tauf- und vermutlich auch Geburtstag von Sophie La Roches Tochter Maximiliane Brentano war laut Taufzeugnis im Stadtarchiv Mainz der 4. Mai 1756 (vgl. Böhm [1973], 262).

viel Lichter] Am Abend des 3. Mai gab es „Illumination und Feuerwerk“ „mit vielen tausend couleurten Lampen und transparenten Sinnbildern“ (Belli-Gontard, 149).

Schweyzers Willemine] Wilhelmine Schweitzer, Enkelin des Goldhochzeitpaares, eine Schwester Friedrich Carl Schweitzers, eines Frankfurter Freundes (vgl. GB 1 II, einleitende Erläuterung zu Nr 1).

repandieren] Franz. se répandre (dans le monde): viel in Gesellschaft gehen.

meinem Rad Schwung geben] Vgl. dagegen 90,10–12. Danach scheint Goethe seinen „Werther“ Sophie La Roche doch nicht zu lesen gegeben haben oder nur den 1. Teil (vgl. zu 131,6–7).

als Sie weg waren] Sophie La Roche hatte Frankfurt nach Goethes Angabe in Nr 92 am 31. Januar verlassen (vgl. 71,21–22).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 109 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR109_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 86, Nr 109 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 238–240, Nr 109 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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