Goethes Briefe: GB 2, Nr. 108
An Johann Christian Kestner

〈Frankfurt a. M. , 7. oder 8. Mai 1774. Samstag oder Sonntag〉 → Hannover


Ist mir auch wieder eine Sorge vom Hals. Küsst mir den Buben, und die ewige Lotte. Sagt ihr ich kann mir sie nicht als Wöchnerinn vorstellen. das ist nun unmöglich. Ich seh sie immer noch wie ich sie verlassen habe, |:daher ich auch weder dich als Ehmann kenne, noch ​1 irgend ein ander Verhältniss als das alte, — und sodann bey einer gewissen Gelegenheit2, fremde Leidenschafften aufgeflickt und ausgeführt habe, daran, ich euch warne, euch nicht zu stosen:|

Ich bitte dich lass das eingeschlossne Radotage biss auf weiteres liegen, die zeit wird s erklären. Habt mich lieb wie ich euch, so hat die Welt ​3 keine vollkommnern Freund.

G.


Mein garstig Zeug gegen Wieland macht mehr lärm als ich dachte. Er führt sich gut dabey auf wie ich höre, und so binn ich im Tort.

  1. noch, ​(Komma gestr.)​ ↑
  2. g​Gelegenheit​ ↑
  3. Well​t​ ↑

Mit dem Brief antwortete Goethe auf einen nicht überlieferten Brief Kestners, in dem dieser die Geburt seines ersten Sohnes Georg (vgl. 85,14) anzeigte, der am 1. Mai 1774 geboren worden war (vgl. Eggers, 16). Außerdem muss Goethe auch Wielands Rezension des „Götz“ und die Anzeige der Farce „Götter Helden und Wieland“ für den „Teutschen Merkur“ gekannt haben (vgl. zu 85,25–26), wozu er etwa am 6. Mai 1774 während eines Besuchs bei Johanna Fahlmer Gelegenheit hatte (vgl. Datierung zu Nr 109 sowie zu 86,1–2).

H: GSA Weimar, Sign.: 29/264,I,3, Bl. 3–4. – Doppelblatt 19(–19,2) × 23 cm, 1 S. beschr., egh., Tinte; S. 3 Adresse, Tinte: An Herrn / Herrn Archiv Sekret. / ​Kestner / nach / Hannover / ​franck Duderst; rotes Initialsiegel: „G“, Postvermerk; S. 1 oben in der Mitte von fremder Hd, Bleistift: „1774. Mai“; Bl. 2 in der Mitte ausgerissen durch Öffnen des Siegels.

E: Goethe und Werther​1 (1854), 206, Nr 98.

WA IV 2 (1887), 158 f., Nr 218 (Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 209).

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Kestners etwa vom 5. oder 6. Mai 1774 (vgl. die erste Erläuterung zu 85,14). – Kestner antwortete möglicherweise bereits mit dem nicht überlieferten Brief vom 9. Mai 1774 (vgl. zu 86,16).

eine Sorge vom Hals] Gemeint ist die Sorge um die schwangere Charlotte Kestner. In dem nicht überlieferten Bezugsbrief muss Kestner von der glücklichen Niederkunft seiner Frau berichtet haben.

den Buben] Georg Kestner (vgl. Datierung).

bey einer gewissen Gelegenheit] Anspielung auf die bevorstehende Veröffentlichung des Romans „Die Leiden des jungen Werthers“, dessen Niederschrift Goethe etwa um diese Zeit abgeschlossen hatte und der anonym zur Leipziger Herbstmesse Anfang Oktober 1774 erschien. Goethe hatte schon am 19. September 1774 Exemplare des Romans in Händen, die er an seine Freunde versandte (vgl. Datierung zu Nr 148).

fremde Leidenschafften] Als ostentativer Hinweis auf das Schicksal Carl Wilhelm Jerusalems zu verstehen, in dem vor allem Kestner die stoffliche Grundlage des „Werthers“ sehen sollte (vgl. GB 1 II, zu 246,4–5).

das eingeschlossne Radotage] Franz. radotage: albernes Geschwätz, Faselei. – Hier sind offenbar die zuvor in Klammern gesetzten Andeutungen über den „Werther“ gemeint, die für Kestner ohne Kenntnis des Romans schwer zu verstehen gewesen sein dürften.

Mein garstig Zeug gegen Wieland] Goethes Farce „Götter Helden und Wieland“ (Leipzig [recte: Kehl] 1774) war auf Betreiben Lenz' Ende März 1774 gedruckt worden (vgl. zu 76,12).

Er führt sich gut dabey auf wie ich höre] Goethe hatte etwa am 6. Mai durch Johanna Fahlmer Wielands Rezension des „Götz von Berlichingen“ und die Anzeige der Farce „Götter Helden und Wieland“ kennen gelernt, die für den „Teutschen Merkur“ bestimmt waren (6. Bd. 3. Stück. Juni 1774). Vermutlich hatte Jacobi Aushängebogen des „Merkur“ oder Abschriften davon an Johanna Fahlmer nach Frankfurt geschickt (vgl. zu 86,1–2).

im Tort] Hier: im Unrecht, im Nachteil.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 108 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR108_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 85, Nr 108 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 236–237, Nr 108 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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