Goethes Briefe: GB 2, Nr. 106
An Ludwig Julius Friedrich Höpfner

〈Frankfurt a. M. , erste Hälfte April 1774〉 → Gießen


Lieber Höpfner, da schick ich euch einen Franckfurter, der ein braver Mensch ist, wie ihr ihm ansehn müsst. Er ist eures Beystandes Werth, und er bedarf sein. Jura will er studiren, ich bitte euch macht dass er Geschmack dran findt1. Er hat viel Fleis, viel Talente und eine gute Seele, seine häuslichen ​2 Umstände sind nicht die besten. Sprecht ihm Muth und Trost zu, und – ich kenn euch und hab schon zuviel gesagt.

Euerm Weiblein ist's doch wohl an eurer Seite, und Euch? Merck ist fort. Ich treib ein unruhiges Leben, und vergesse meine Freunde nicht.

Ich dachte diese Messe als Autor dem geehrten Publiko einen abermaligen Reverenz zu machen, ist aber in Brunne gefallen. Lebt wohl, und grüsst eure Liebe herzlich

Goethe.

  1. f×​indt​ ↑
  2. häul​slichen​ ↑

Terminus post quem ist die Abreise Johann Heinrich Mercks in die Schweiz Anfang April 1774 (vgl. zu 83,12–13), Terminus ante quem die Immatrikulation Friedrich Maximilian Klingers am 16. April 1774 (vgl. zu 83,5). Der Brief wurde also in der ersten Hälfte des April 1774 geschrieben.

H: FDH/FGM Frankfurt a. M., Dauerleihgabe der Adolf und Luisa Haeuser-Stiftung, Sign.: 25763. – Doppelblatt 18,5(–18,8) × 23 cm, S. 3 zu ¾ beschr., egh., Tinte; S. 1 Adresse: An Herrn / Professor Höpfner / nach / Giessen; darüber rotes Initialsiegel: „G“; am rechten Rand in der Mitte Beschädigung durch Öffnen des Siegels. – Faksimile: Kostbarkeiten der Adolf und Luisa Haeuser-Stiftung für Kunst und Kulturpflege im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum. Hrsg. von Heinz Vogel. Frankfurt 1999, S. 85 und 87.

E: Ludwig Geiger: Dreizehn Briefe nebst einem Fragment Goethes. In: GJb VIII (1887), 122, Nr 2.

WA IV 2 (1887), 154, Nr 215.

Der Brief beantwortet keinen Brief Höpfners. – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

einen Franckfurter] Goethes Empfehlungsbrief gilt dem 22-jährigen in Frankfurt geborenen Friedrich Maximilian Klinger; er gehörte mit Jakob Michael Reinhold Lenz und Heinrich Leopold Wagner zum Kreis junger Dichter um Goethe. Man liebt an dem Mädchen was es ist, und an dem Jüngling was er ankündigt, und so war ich Klingers Freund, sobald ich ihn kennen lernte. (AA DuW 1, 497.) So erinnert sich Goethe im 14. Buch von „Dichtung und Wahrheit“. Bekanntheit erlangte Klinger mit seinem 1774 entstandenen, 1776 erschienenen ‚Kraftstück‘ „Die Zwillinge“. Seine Komödie „Der Wirrwarr“ benannte er auf Rat eines Freundes in „Sturm und Drang“ (ebenfalls 1776 erschienen) um. Der Titel gab der ganzen literarischen Epoche ihren Namen. Klinger hatte bis zum Herbst 1772 die Frankfurter Gelehrtenschule besucht; am 16. April 1774 immatrikulierte er sich für ein Jurastudium in Gießen (vgl. M〈ax〉 Rieger: Klinger in der Sturm- und Drang-Periode. Mit vielen Briefen. Darmstadt 1880, S. 9 und 25).

braver Mensch] Das Adjektiv ‚brav‘ bedeutete zeitgenössisch allgemein ‚gut‘, ‚tüchtig‘, im vorliegenden Kontext auch „trefflich, wert, würdig“ (GWb 2, 869).

eures Beystandes Werth] Höpfner stellte Klinger ein Zimmer in seinem Haus zur Verfügung (vgl. Rieger, S. 25 f.). Er versuchte ihn auch dadurch zu unterstützen, dass er Christoph Friedrich Nicolai bat, die Possenspiele zu drucken, die Goethe Klinger überlassen hatte. Sie erschienen 1774 unter dem Titel „Neueröfnetes moralisch-politisches Puppenspiel“ vermutlich bei Christian Friedrich Weygand (vgl. die zweite Erläuterung zu 79,20).

Geschmack dran findt] Klinger brach das Studium im Juni 1776 ab und ging in der vergeblichen Hoffnung auf eine Anstellung durch Goethes Vermittlung nach Weimar.

seine häuslichen Umstände sind nicht die besten] Klingers Mutter musste nach dem frühen Tod ihres Mannes im Jahr 1760 den Lebensunterhalt für sich, ihren Sohn und ihre zwei Töchter als Wäscherin verdienen. Klinger selbst gab schon als Schüler Privatstunden (vgl. Rieger, S. 3 f. und 7). Goethe unterstützte ihn bei der Finanzierung seines Studiums, indem er ihm Manuskripte überließ (vgl. zu 83,6).

Euerm Weiblein] Anna Maria Höpfner geb. Thom, seit dem 18. Oktober 1773 Höpfners Frau.

Merck ist fort.] Johann Heinrich Merck hatte die Landgräfin Karoline von Hessen-Darmstadt im Mai 1773 als ihr Rechnungsfüherer nach St. Petersburg begleitet und war am 20. Dezember 1773 nach Darmstadt zurückgekehrt. Seine Frau Louise Françoise war für die Zeit seiner Abwesenheit mit ihren Kindern Heinrich, Franz und Adelheid zu ihren Eltern nach Morges am Genfer See gezogen. Geplant war, dass Merck sie dort abholen sollte. Dessen Aufbruch verzögerte sich jedoch. Als Zahlmeister hatte er zunächst noch die Reisekosten abzurechnen; außerdem wurde er einige Zeit bis Ende Februar 1774 vom Kauf seines Hauses aufgehalten (vgl. Datierung zu Nr 94). Am 30. März schließlich starb die Landgräfin. In seinem Brief von diesem Tag an Friedrich Nicolai teilte Merck mit, „diese Nacht in die Schweiz abzugehen“ (Merck, Briefwechsel 1, 483), also in der Nacht zum 31. März. Zuvor hatte er am 26. März seiner Frau geschrieben, er werde am 7. April aufbrechen (vgl. ebd., 479). Wann genau Merck abreiste, ist nicht bekannt; es dürfte jedenfalls Anfang April gewesen sein. Anfang Juni kehrte er mit seiner Familie wieder zurück.

diese Messe] Die Leipziger Ostermesse, die 1774 am 24. April begann.

einen abermaligen Reverenz zu machen] Franz. référence: Empfehlung. Das Wort wurde im 18. Jahrhundert als Masculinum gebraucht (vgl. Adelung 3, 1095). – Anspielung auf „Die Leiden des jungen Werthers“, die erst zur Herbstmesse Anfang Oktober 1774 erschienen.

in Brunne] Frankfurter Mundart.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 106 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR106_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 83, Nr 106 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 229–231, Nr 106 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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