Goethes Briefe: GB 2, Nr. 271
An Friedrich Leopold Graf zu Stolberg-Stolberg

〈Frankfurt a. M. 〉, 26. Oktober 〈1775. Donnerstag〉 → nicht bekannt

〈Konzept〉

Ich fühl einen drang Bruder dir zu schreiben in diesem Augenblick, dass ich so weit so weit1 von dir und deinem ​Cristel entfernt binn, schwebend im herrlich unendlich heiligen Ozean unsers ​Vaterrs des unergreifflichen aber des berührlichen! O Bruder! Nennbaare aber unendliche Gefühle durchwühlen mich – und wie ich dich liebe fühlst du da ich unter allen Lieben in dem Augenblick dein Gedencke.

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Das Erbarmliche liegen am Staube Friz! und das winden der Würmer ich schwöre dir bey meinem Herzen! wen das nicht Kindergelall und Gerassel ist der Werther und all das Gezeug! Gegen das innre Zeugniss meiner Seele! —

  1. weit so wei×​t​ ↑

Das Jahr ergibt sich aus dem Inhalt und dem Tonfall des Briefkonzeptes, das in der Zeit der engsten freundschaftlichen Beziehung zu Friedrich Leopold zu Stolberg geschrieben worden sein muss. Ende Oktober 1775 lag die gemeinsame Schweizer Reise erst etwa drei Monate zurück und die Verbindung zu den Brüdern Stolberg war noch sehr eng (vgl. auch Nr 266). Im darauf folgenden Oktober lebte Goethe schon seit etwa einem Jahr in Weimar; der Kontakt zu den Stolbergs hatte sich inzwischen gelockert (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 266).

H: Nicht bekannt.

K: GSA Weimar, Sign.: 29/500,II. – 1 Bl. 17,4(–17,7) × 23,9(–24,5) cm, 1 S. beschr., egh., Bleistift; flüchtig geschrieben; Blatt am unteren Rand abgetrennt, darauf Reste eines offenbar zuerst geschriebenen Konzeptes, egh., Bleistift, flüchtige Schrift, gegenüber dem Brieftext in umgekehrter Richtung geschrieben: Geist〈 〉h 〈 〉 / berührung gefuhlt — Andern / — Menschen — hab ich wohl / offt herz und Haupt hingegeben.

E: WA IV 2 (1887), 303, Nr 363 (Erich Schmidt) (Textkorrektur in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 213).

Textgrundlage: K.

Ein Bezugs- und ein Antwortbrief sind nicht bekannt. – Es ist unsicher, ob der Brief ausgefertigt wurde.

so weit so weit] Der Adressat befand sich damals noch auf der im Mai 1775 gemeinsam mit Goethe angetretenen Schweizer Reise (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 266). – Am 26. Oktober 1775 hielt sich Stolberg in Vevey in der Nähe von Montreux am Genfer See auf, wie ein Brief an Klopstock von diesem Tag belegt (vgl. Klopstock, Briefe HKA 6 I, 231 f., Nr 224).

​Cristel] Christian zu Stolberg, der im Familienkreis auch ‚Christel‘ genannt wurde (vgl. u. a. Brief Augusta zu Stolbergs an ihren Bruder Christian, 4. November 1775; Schumann, Auguste Stolberg, 284 f.).

schwebend] Damit greift Goethe einen der Zentralbegriffe der Lavaterschen Charakteristik Friedrich Leopold zu Stolbergs auf, die wörtlich in „Dichtung und Wahrheit“ aufgenommen wurde: Siehe den blühenden Jüngling von 25. Jahren! das leichtschwebende, schwimmende, elastische Geschöpfe! es liegt nicht; es steht nicht; es stemmt sich nicht; es fliegt nicht; es schwebt oder schwimmt. Zu lebendig, um zu ruhen; zu locker, um festzustehen; zu schwer und zu weich, um zu fliegen. / Ein schwebendes also, das die Erde nicht berührt! 〈…〉 Ewiger Schweber 〈…〉! (AA DuW 1, 629 [19. Buch]; insgesamt vgl. ebd., 628–631.)

im herrlich unendlich 〈…〉 berührlichen] Erinnert an die schwärmerische Ausdrucksweise der Herrnhuter Pietisten, denen der Adressat durch seine Herkunft und Erziehung nahestand. – Der letzte Teil der Formulierung könnte in abgewandelter Form ein Selbstzitat aus dem wahrscheinlich im Frühjahr 1774 entstandenen fragmentarischen Versepos „Des ewigen Juden, erster Fetzen“ sein: In unserm unbegriffnen Gotte 〈…〉. (DjG​3 4, 95,Vers 7.)

Nennbaare 〈…〉 durchwühlen mich] Der Brief entstand offenbar in einer Stimmung äußerster Unruhe unmittelbar vor Goethes Abreise aus Frankfurt, die sich seit Mitte Oktober 1775 hinauszögerte (vgl. zu 219,17).

wie ich dich liebe 〈…〉 Gedencke] Goethe scheint sich zu dem jüngeren der Stolberg-Brüder besonders hingezogen gefühlt zu haben. Auf der gemeinsamen Schweizer Reise hatte er – selbst unter dem ungeklärten Verhältnis zu Anna Elisabeth Schönemann leidend – großen Anteil an Friedrich Leopolds unglücklicher Liebe zu Sophie Hanbury genommen (vgl. zu 201,21; zu 201,23). – Über diesen später befremdlich wirkenden Freundschaftskult bemerkt Goethe im 18. Buch von „Dichtung und Wahrheit“: Zu der damaligen Zeit hatte man sich ziemlich wunderliche Begriffe von Freundschaft und Liebe gemacht. Eigentlich war es eine lebhafte Jugend, die sich gegen einander aufknöpfte und ein talentvolles aber ungebildetes Innere hervorkehrte. Einen solchen Bezug gegen einander, der freylich wie Vertrauen aussah hielt man für Liebe für wahrhafte Neigung; ich betrog mich darin so gut wie die andern und habe davon viele Jahre auf mehr als eine Weise gelitten. (AA DuW 1, 597 [18. Buch].)

unter allen Lieben] Im Erstdruck des Briefes von Erich Schmidt lautet diese Stelle: unter alten Linden (WA IV 2 [1887], 303); Morris druckt: unter allen Lieben (DjG​2 5, 309), ebenso Fischer-Lamberg (vgl. DjG​3 5, 264), allerdings jeweils ohne Hinweis auf die Unsicherheit der Transkription. – Neben dem Kontext sprechen auch Parallelstellen in den Briefen an Augusta zu Stolberg für die vorliegende Lesung (vgl. 170,3; 179,10).

Gezeug] Eigentlich: Sammelbegriff für Werkzeuge, Gerätschaften; nach Adelung im ausgehenden 18. Jahrhundert auf die Umgangssprache beschränkt (vgl. Adelung 2, 677 f.); hier: abschätzig für die eigenen literarischen Produktionen (vgl. GWb 4, 215).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 271 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR271_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 223–224, Nr 271 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 560–562, Nr 271 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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