Goethes Briefe: GB 2, Nr. 269
An Gottfried August Bürger

〈Frankfurt a. M. 〉, 18. Oktober 1775. Mittwoch → Altengleichen

〈Druck〉


Wo ich in der Welt sizze kann dir gleich seyn! Du fühlst dass es ein Moment des umschränckten Bedürfnisses ist, der mir die Feder an dich in die Hand giebt, lieber Bürger! Hier von der rechten wärmt mich ein hold Caminfeuer, auf einem niedern Sessel, am Kindertischgen, schreib ich dir, ich habe dir so viel zu sagen, werde dir nichts sagen und du wirst mich alles verstehen! – Die ersten Augenblicke Sammlung die mir durch einen tollen Zufall, durch eine lettre de cachet des Schicksaals übers Herz geworfen werden, die ersten, nach den zerstreutesten, verworrensten, ganzesten, vollsten, leersten, kräfftigsten und läppischten drey Vierteliahren die ich in meinem Leben gehabt habe. Was die menschliche Natur nur von Wiedersprüchen sammeln kann, hat mir die Fee Hold oder Unhold, wie soll ich sie nennen? zum Neujahrsgeschenck von 75 gereicht, zwar war die trefflich Anlage schon mit dem Pathengeschencke gemacht, und so geh alles seinen Gang. Wies von nun an mit mir werden wird weis Gott! Es wird noch unruhiger werden, noch verwickelter, und dann will ich mich mit Freuden des gegenwärtigen Augenblicks erinnern in dem ich schreibe. Glockenschlag sechs. Mittwoch den 18 Oktbr 1775.

Wie wirthschafftest du mit deinem Weibe? Hast du Kinder? Ich höre so gar nichts von dir! Schreib nur wenn du mir willst nach Franckfurt, ich krieg die Briefe richtig. Ich hab allerley geschrieben das dir eine gute Stunde machen soll – Sind aber doch allzumal Sünder und mangeln des Ruhms den wir vor unsrer Mutter Natur haben sollten.

H: Verbleib unbekannt; 1872 Privatbesitz Richard Wehn, Detmold (?) (vgl. Strodtmann 1, V). Adresse: Herrn Bürger, Amtmann zu Altengleichen bey Göttingen. fr. Cassel (ebd. 1, 244).

E: Strodtmann (1874) 1, 244, Nr 187 (nach H).

WA IV 2, 301 f., Nr 362 (nach E).

Textgrundlage: E.

Der Brief beantwortet keinen Brief Bürgers (vgl. 222,27–28), der zuletzt im Sommer 1775 geschrieben hatte (vgl. RA 1, 62, Nr 50; Strodtmann 1, 230). – Bürger antwortete im Januar 1776 (vgl. RA 1, 64, Nr 58; Strodtmann 1, 266).

Wo ich in der Welt sizze kann dir gleich seyn!] Goethe will seinen Aufenthaltsort nicht mitteilen. Nachdem er sich verabschiedet hatte, um nach Weimar zu gehen, wartete er in Frankfurt auf den ausbleibenden Reisewagen (vgl. zu 221,1–2).

Moment des umschränckten Bedürfnisses] Gemeint ist etwa: ‚Moment, in dem die gewohnten Verhältnisse des alltäglichen Lebens eingeschränkt sind‘, weil sich Goethe im Zustand des Wartens befand.

tollen Zufall] Das Ausbleiben des Kammerherrn von Kalb, der Goethe nach Weimar bringen sollte (vgl. zu 221,1–2).

lettre de cachet des Schicksaals] Gemeint ist wohl die erzwungene Untätigkeit während des Wartens auf den Wagen nach Weimar (franz. lettre de cachet: versiegelter Brief, Verhaftungsbefehl).

drey Vierteliahren] Dieser Zeitraum war geprägt von Goethes Beziehung zu Anna Elisabeth Schönemann, von der er sich gerade getrennt hatte.

Fee Hold] Hold: „im Spiel mit ‚Unhold‘ scherzhaft als Feenname“ (GWb 4, 1371).

mit dem Pathengeschencke] Feen erscheinen im Volksglauben „an der Wiege Neugeborener mit Gaben und Verheißungen“ (Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hrsg. 〈…〉 von Hanns Bächtold-Stäubli. Bd 2. Berlin und Leipzig 1929/30, S. 1291).

deinem Weibe] Dorothea Bürger geb. Leonhart.

Hast du Kinder?] Am 24. Mai 1775 war Bürgers erstes Kind, Antoinette, geboren worden; es starb bereits am 12. Dezember 1777.

allerley geschrieben] „Erwin und Elmire“, „Stella“, „Claudine von Villa Bella“ und einige Gedichte in der „Iris“ (vgl. zu 141,14); zu den noch nicht fertiggestellten Arbeiten gehören „Faust“ (vgl. die erste Erläuterung zu 221,9) und möglicherweise bereits „Egmont“.

Sind aber doch allzumal Sünder] Nach Paulus' Brief an die Römer 3,23.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 269 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR269_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 222–223, Nr 269 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 558–559, Nr 269 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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