Goethes Briefe: GB 2, Nr. 266
An Christian und Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg-Stolberg

〈Frankfurt a. M. , 4. Oktober 1775. Mittwoch〉 → 〈Basel?〉


Mir ists wie mirs seyn kann. danck euch Ungeheuern für eure Briefe, und so das Meerweib nicht schreibt, so hauts, wenns aus dem Bade steigt mit Nesseln. Ich ​1 hab euch drey dramatisirt. ​Gr. Cristian ​truchsess, ​Gr. Fr. Leopold u. ​Juncker Curt. Wo ​2 ihr auf dem grosen Krönungs Saal zu Franckfurt in naturalibus hingestellt seyd. Wenn ich nach Weimar kan, so thu ichs wohl. Gewiss aber euch zu Liebe nicht! Und keinem Menschen zu Liebe, denn ich hab einen Pick auf die ganze Welt. Ich gönn euch eure Reise. die ist eurer Werth! Und darf sich kein Hund ihrer rühmen ​3. und werdet begafft werden darob wie sich s ziemt. Zimmerm hat euch weidlich gepriesen. da sind unendliche Briefe ans Meerweib. So lebt wohl lieb〈 〉 Brüder. Was ich treibe ist kei〈 〉 werth geschweige einen Federstrich. Gustgen ist ein Engel. Hohls der teufel dass sie Reichsgräfin ist – – Ubrigens binn ich mit der vollkommensten


schreibt hier her wann ihr

nach Weimar kommt.

〈vgl. Faksimile〉

  1. i​Ich​ ↑
  2. w​Wo​ ↑
  3. ru​ühr​men​ ↑

Datierung nach dem Brief Friedrich Leopold zu Stolbergs an seine Schwester Katharina vom 21. Oktober 1775 aus Lausanne, in dem der Erhalt des vorliegenden Briefes bestätigt wird (vgl. zu 219,24–27). In Verbindung mit dem „Ausgabebüchlein“ vom 4. Oktober 1775: B. Hℓ. Gr. Christian v. Stollberg. fr. Schafhauß (AB, 17).

H: FDH/FGM Frankfurt a. M., Sign.: 25750, ehemals Slg Brockhaus. – 1 Bl. 19(–19,2) × 22,7 cm, 1 S. beschr., egh., Tinte, flüchtig geschrieben, letzter Buchstabe von vollkommensten (219,25) zu Schleifenlinien weitergeführt (vgl. Faksimile); Papier am unteren rechten Seitenrand ausgerissen (Streifen von etwa 1,5 × 7 cm), geringfügiger Textverlust (vgl. 219,22; 219,23), restauriert. – Beischluss: Briefe für Christian Curt von Haugwitz; nicht überliefert (vgl. die erste Erläuterung zu 219,22). – Faksimile: Abb. 17 (S. 220).

E: Goethe-Stolberg​1 (1839), 145 f.

D: Goethe-Stolberg​2 (1881), 43 f., Nr 10.

WA IV 2 (1887), 298, Nr 358 (wahrscheinlich nach D [1881]; Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 213).

Der Brief beantwortet nicht überlieferte Briefe der Brüder Stolberg (vgl. 219,12). – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

Postsendungen: 4. Oktober 1775 (AB, 17; vgl. Datierung).

Mit den beiden Adressaten des vorliegenden Briefes hatte Goethe von Mai bis Juli 1775 eine Reise durch Süddeutschland und in die Schweiz unternommen (vgl. AA DuW 1, 597 [18. Buch]). Während Goethe im Juli wieder nach Frankfurt zurückgekehrt war, befanden sich die Stolbergs noch immer in der Schweiz, Goethes Brief erreichte sie vermutlich in Basel. – Christian Graf zu Stolberg-Stolberg (1748–1821) und Friedrich Leopold Graf zu Stolberg-Stolberg (1750–1819) waren die beiden ältesten Söhne des in dänischen Diensten stehenden Reichsgrafen Christian Günther zu Stolberg-Stolberg. Aufgewachsen im holsteinischen Bramstedt und in und bei Kopenhagen, lebten sie seit dem Tod des Vaters im Jahr 1765 auf dem Landsitz der Familie in Rungstedt (Rondstedt) am Öresund. Ungeachtet der stark pietistischen Prägung des Elternhauses und der Erziehung durch französische und deutsche Hofmeister verbrachten sie eine für Personen ihres Standes ungewöhnlich freie und unkonventionelle Kindheit und Jugend. Spätestens seit 1757 gehörte Klopstock zum Freundeskreis der Familie, in Rungstedt wurde er zum geistigen Mentor und väterlichen Freund der Brüder. Den Unterricht der Brüder leitete Carl Christian Clauswitz, Sohn eines hallischen pietistischen Theologieprofessors (zur Familie Stolberg vgl. weiter die einleitende Erläuterung zu Nr 188). Ab 1770 studierten die Brüder Jura, zunächst der Stolberg'schen Familientradition entsprechend in Halle. Im Oktober 1772 wechselten sie nach Göttingen, wo sie Heinrich Christian Boie kennen lernten, der ihre Aufnahme in den Hainbund vermittelte. Durch diese Verbindung wurde vor allem die dichterische Begabung Friedrich Leopold zu Stolbergs gefördert. In dem von Boie herausgegebenen Göttinger „Musenalmanach“ erschienen auch die ersten Gedichte der Stolbergs, die seit dem Herbst 1773 wieder in Dänemark lebten.

Dem vorliegenden ersten Brief Goethes an Christian und Friedrich Leopold zu Stolberg müssen frühere Briefe vorausgegangen sein, die wie auch die Bezugsbriefe nicht überliefert sind (vgl. EB 125). Die Stolbergs waren bereits in Göttingen auf Goethe aufmerksam geworden. Wenige Wochen nach Erscheinen des „Götz“ im Juni 1773, bei dessen Verbreitung Boie mitgewirkt hatte (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 46), schrieb Christian zu Stolberg an Klopstock: „Was sagen sie von Göz von Berlichingen? Der Ritter mit der eisernen Hand und sein Dichter, sind beydes brave Männer. Sehr hab' ich mich über diese Erscheinung gefreuet.“ (Brief vom 2. August 1773; Klopstock, Briefe HKA 6 I, 82.) Ausschlaggebend für den Entschluss der Brüder, persönlich in Verbindung zu Goethe zu treten, war jedoch das Erscheinen des „Werther“, den sie enthusiastisch aufnahmen. Friedrich Leopold schrieb am 3. Dezember 1774 an Voß: „Werther! Werther! Werther! O welch ein Büchlein. So hat noch kein Roman mein Herz gerührt! Der Göthe ist ein gar zu braver Mann, ich hätte ihn so gern mitten im Lesen umarmen mögen.“ (Stolberg-Voß, 25.) Noch im Dezember unter dem direkten Eindruck der „Werther“-Lektüre müssen die Stolbergs zum ersten Mal an Goethe geschrieben haben, wie aus einem Brief Friedrich Leopolds an Johann Martin Miller, einen der Mitbegründer des Hainbundes, vom 3. Januar 1775 hervorgeht: „Wir haben neulich beyde an Göthen geschrieben, Wie lieb ich den Mann ohne ihn zu kennen!“ (Stolberg-Klopstock, 23.) Vermittler der Korrespondenz war Boie, der wahrscheinlich auch die ersten Briefe zwischen der jüngeren Schwester Augusta zu Stolberg und Goethe befördert hatte (vgl. Bobé 8, 23). Während Goethe auf Augustas ersten Brief im Januar 1775 vergleichsweise rasch antwortete (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 188), scheint er sich mit einer Antwort an die Brüder bis etwa Anfang März Zeit gelassen zu haben. Dies lässt Boies Korrespondenz mit Friedrich Leopold vermuten (vgl. Detlev W. Schumann: Goethe and the Stolbergs: a Friendship of the Storm and Stress. In: The Journal of english and germanic Philology. Volume XLVIII. Nr 4. October 1949. Urbana, Illinois, S. 487 f.). Nach dem Austausch der ersten Briefe zwischen Goethe und den Stolbergs muss es dann aber schnell zu einer freundschaftlichen Annäherung gekommen sein. Bereits am 15. April meldete Goethe in einem Brief an Augusta: Ach Gott Ihre Brüder kommen, unsre Brüder, zu mir! (187,13–14.) Wenig später, am 26. April, bedankte er sich für einen gemeinsamen Brief Augustas und der Brüder, die er voller Ungeduld erwartete (vgl. 188,8). Angeregt durch ihren Göttinger Kommilitonen Christian August Heinrich Curt von Haugwitz, planten die Stolbergs für den Sommer des Jahres 1775 eine Reise in die Schweiz. In der zweiten Maiwoche trafen sie in Frankfurt ein, wo sie Goethes persönliche Bekanntschaft machten. Aus Frankfurt berichtete Christian am 12. Mai in einem Brief an die Schwester Henriette von Bernstorff: „Von Gießen ging's ganz früh wieder weg und Vormittags bei guter Zeit waren wir hier. Mein Herz schlug mir vor Begierde, unseren lieben Haugwitz zu sehen. Er war bei Goethe. Gleich ließen wir ihn holen. Goethe kam bald zu uns, er war in wenigen Tagen mit Haugwitz intim geworden und ward es auch gleich mit uns. Er aß mit uns und wir waren, als hätten wir uns Jahre lang gekannt. Es ist ein gar herrlicher Mann. Die Fülle der heißen Empfindung strömt aus jedem Wort, aus jeder Miene. Er ist bis zum Ungestüm lebhaft, aber auch aus dem Ungestüm blickt das zärtlich liebende Herz hervor. Wir sind immer beisammen und genießen zusammen alles Glück und Wohl, das die Freundschaft geben kann. Er kann sich nicht von uns trennen und will zu unserer größten Freude einen Theil der Reise mit uns machen. O möchte es doch die ganze sein! Du kannst denken, wie uns das freut!“ (Morris, Goethes erste Schweizer Reise, 9.) Die gemeinsame Reise nach Süddeutschland und in die Schweiz begann am 14. Mai. Aus Karlsruhe schrieb Christian am 17. Mai an Klopstock: „Das ist herrlich daß wir unsern Göthe mit uns haben. Wir schiken uns treflich zusammen. Wir Er und Haugwiz sind ganze Leute die ich just so würde gemacht haben, wenn ich den Thon des Prometheus hätte kneten können.“ (Klopstock, Briefe HKA 6 I, 207 f.) Etwa am 6. Juli begann Goethe von Zürich seine Heimreise aus nach Frankfurt, während die Stolbergs kurz zuvor zu einer „Reise in die kleinen Kantons“, nach Zug, Luzern, Altorf, auf den Gotthard und nach Unterwalden, aufgebrochen waren (Klopstock, Briefe HKA 6 I, 219). In der zweiten Julihälfte begannen sie eine große Tour durch die italienische und französische Schweiz (vgl. zu 219,19). Anfang November traten sie die Heimreise an, auf der sie Ende des Monats auch in Weimar Station machten. Goethe hielt sich dort bereits seit dem 7. November als Gast des Herzogs Carl August auf. Wahrscheinlich durch Goethes Fürsprache bot der Herzog Friedrich Leopold zu Stolberg eine Stelle als weimarischer Kammerherr an, die dieser zunächst auch annahm. Im August des folgenden Jahres entschied er sich dann allerdings anders und ging als Gesandter des Fürstbischofs zu Lübeck an den dänischen Hof nach Kopenhagen. Auch wenn Goethes Zerwürfnis mit Klopstock im Mai 1776 (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 113) zu Stolbergs Rückzug beigetragen haben mag, sind aufgrund fehlender Quellen die Beweggründe für dessen Absage, nach Weimar zu kommen, nicht eindeutig zu klären (vgl. Stolberg-Klopstock, 24–30). Das Verhältnis zu Goethe wurde davon zunächst nicht nachhaltig getrübt, wie auch der zweite Weimarbesuch der Stolbergs Ende Mai/Anfang Juni 1784 belegt (vgl. Goethe an Charlotte von Stein, 29. Mai 1784; WA IV 6, 282, Nr 1938; 3. Juni 1784; WA IV 6, 284 f., Nr 1940; 5. Juni 1784; WA IV 6, 284–287, Nr 1941). Gleichwohl war das Jahr der gemeinsamen Schweizer Reise die Zeit des intensivsten persönlichen Umgangs und der Höhepunkt der Freundschaft zwischen Goethe und den Stolbergs, in der die Standesgrenzen offenbar eine weit geringere Rolle spielten als bei anderen Bekanntschaften der Grafen. Darauf verweist neben dem ungezwungen freundschaftlichen Umgang Goethes und seiner adligen Begleiter auf der gemeinsamen Schweizer Reise auch das vertrauliche ‚Du‘ in der überlieferten Korrespondenz. Im Unterschied dazu blieb Friedrich Leopold zu Stolberg etwa in seinen Briefen an Johann Heinrich Voß bei aller Herzlichkeit und Freundschaft immer bei dem höflich-distanzierenden ‚Sie‘. Auch der persönliche Umgang der Brüder Stolberg mit den Dichtern des Göttinger Hainbundes soll nach Voß nicht frei von „leisen Spuren von Gräflichkeit“ gewesen sein (Johann Heinrich Voß: Bestätigung der Stolbergischen Umtriebe, nebst einem Anhang über persönliche Verhältnisse. Stuttgart 1820, S. 135). Allerdings stammt diese Einschätzung aus der Zeit nach dem Bruch zwischen Voß und Stolberg. Zeugnisse aus der Zeit des unmittelbaren Göttinger Umgangs betonen eher das Unkonventionelle der Beziehung (vgl. Voß, Briefe 1, 97 f. und 112–116).

Außer den beiden im vorliegenden Band abgedruckten Briefen Goethes an Friedrich Leopold zu Stolberg sind nur noch zwei weitere Briefe überliefert, und zwar aus den Jahren 1788 und 1789 (vgl. WA IV 9, 63 f., Nr 2708 und WA IV 9, 78, Nr 2720). An Christian zu Stolberg ist außer dem vorliegenden an beide Brüder gerichteten Brief Goethes kein weiterer überliefert. Von den Briefen Christian und Friedrich Leopold zu Stolbergs an Goethe haben sich nur fünf erhalten, allerdings aus einer sehr viel späteren Lebenszeit, als sich das Verhältnis bereits grundlegend gewandelt hatte (vgl. RA 5, 146 f., Nr 384; 198 f., Nr 561; 217, Nr 615 sowie RA 6, 167, Nr 425 und 197, Nr 536).

eure Briefe] Nicht überliefert.

das Meerweib] Dem Kontext nach ist Christian Curt von Haugwitz gemeint, über den Goethe schrieb, er habe wegen seines zarten Aussehens und sanften Benehmens von den Gefährten allerley Spottreden und Benamsungen erdulden müssen (AA DuW 1, 599 [18. Buch]).

nicht schreibt] Dies verweist darauf, dass Goethe wohl nicht im direkten Briefkontakt mit Haugwitz stand (vgl. die erste Erläuterung zu 219,22).

aus dem Bade] Möglicherweise ist dies eine Anspielung auf die Gepflogenheit der Reisenden, gemeinsam in freier Natur zu baden, wovon auch die Stolbergs wiederholt in ihren Briefen berichteten: „Zwischen der Sihl, in welcher wir gestern 3mal gebadet haben, u: dem See, liegt unsre Wohnung, u: die Gegend enthält in einem kleinen Bezirck unendlich viel! Und die menschliche Natur erscheint noch mit Würde.“ (Friedrich Leopold zu Stolberg an Klopstock, bei Zürich, 1. Juli 1775; Klopstock, Briefe HKA 6 I, 219 f.) Eine damit verbundene Begebenheit vom Beginn der Reise teilt Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ mit: Unter die damaligen Verrücktheiten, die aus dem Begriff entstanden: man müsse sich in einen Naturzustand zu versetzen suchen, gehörte denn auch das Baden im freyen Wasser, unter offnem Himmel; und unsre Freunde konnten auch hier, nach allenfalls überstandener Schicklichkeit, auch dieses Unschickliche nicht unterlassen. Darmstadt, ohne fließendes Gewässer in einer sandigen Fläche gelegen, mag doch einen Teich in der Nähe haben, von dem ich nur bey dieser Gelegenheit gehört. Die heiß genaturten und sich immer mehr erhitzenden Freunde suchten Labsal in diesem Weyher; nackte Jünglinge bey hellem Sonnenschein zu sehen, mochte wohl in dieser Gegend als etwas besonderes erscheinen es gab Skandal auf alle Fälle. (AA DuW 1, 600 [18. Buch].)

Nesseln] Brennnesseln gelten seit der Antike als Heil- und Zauberpflanzen; im Volksaberglauben soll das Schlagen mit Nesseln den Hexenzauber bannen (vgl. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hrsg. 〈…〉 von Hanns Bächtold-Stäubli. Bd 1. Berlin und Leipzig 1927, Sp. 1552–1560).

Ich hab euch drey dramatisirt.] Bis auf diesen Hinweis ist zu dem ‚Drama‘ nichts überliefert.

​Gr. Cristian truchsess] Graf Christian zu Stolberg. – Truchsess: vornehmer Hofbeamter, der die Aufsicht über Küche und Tafel führte.

​Gr. Fr. Leopold] Graf Friedrich Leopold zu Stolberg.

​Juncker Curt] Christian August Heinrich Curt Graf von Haugwitz, den Studienfreund der Stolbergs und Initiator der Schweizer Reise, hatte Goethe Anfang Mai 1775 in Frankfurt kennen gelernt. An ihn erinnert er sich im 18. Buch von „Dichtung und Wahrheit“: 〈…〉 hier 〈in Darmstadt〉 hatte Graf Haugwitz eigentlich die Führung und Leitung, als der Jüngste von uns, wohlgestaltet, von zartem edlem Ansehn, weichen freundlichen Zügen sich immer gleich, theilnehmend, aber mit solchem Maße daß er gegen die andern als inpassibel abstach. Er mußte deshalb von ihnen allerley Spottreden und Benamsungen erdulden. Dies mochte gelten so lange sie glaubten als Naturkinder sich zeigen zu können, wo es aber denn doch auf Schicklichkeit ankam und man, nicht ungern, genöthigt war wieder einmal als Graf aufzutreten, da wußte Er alles einzuleiten, und zu schlichten daß wir, wenn nicht mit dem besten doch mit leidlichen Rufe davon kamen. (AA DuW 1, 599.)

Krönungs Saal zu Franckfurt] Gemeint ist der Kaisersaal im Obergeschoss des Frankfurter Römers, in dem die Krönungsbankette der deutschen Kaiser und Könige stattfanden. – Vgl. dazu Goethes Beschreibung des Saales während der Krönungsfeierlichkeiten Josephs II. im April 1765 (AA DuW 1, 172 f. [5. Buch]).

in naturalibus] Lat.: im Naturzustand. – Möglicherweise in Anspielung auf die Stolberg'sche Gewohnheit des Nacktbadens (vgl. die dritte Erläuterung zu 219,13).

nach Weimar] Auf der Reise in die Schweiz hatte Goethe während eines Zwischenaufenthaltes in Karlsruhe vom 17. bis 23. Mai 1775 seine im Dezember 1774 geschlossene Bekanntschaft mit Carl August von Sachsen-Weimar und Eisenach erneuert und auch dessen Braut Louise von Hessen-Darmstadt kennen gelernt. Beide luden Goethe ein, nach Weimar zu kommen. Diese Einladung hatte Carl August, inzwischen regierender Herzog, am 22. September 1775 in Frankfurt erneuert, als er sich auf dem Weg nach Karlsruhe zu seiner Hochzeit befand. Da der angekündigte Wagen, der Goethe etwa Mitte Oktober in Frankfurt abholen sollte, Ende des Monats noch nicht eingetroffen war und den Wartenden auch keine Nachricht des Herzogs erreichte, zweifelte er zeitweise an der Ernsthaftigkeit der Einladung. Kurz entschlossen brach Goethe am 30. Oktober in Richtung Heidelberg auf, um von dort über die Schweiz nach Italien zu reisen. Schließlich holte ihn aber der Weimarer Kammerherr Johann August von Kalb ein, in dessen Begleitung Goethe mit dem verspätet eingetroffenen Wagen nach Weimar fuhr.

Ich gönn euch eure Reise.] Wahrscheinlich bezieht sich Goethe hier auf die Berichte der Brüder Stolberg in ihren nicht überlieferten Briefen aus der Schweiz, die denen an andere Freunde geähnelt haben werden. So schwärmte z. B. Friedrich Leopold in einem Brief an Voß vom 18. Juli 1775: „Vor einigen Tagen sind wir von einer 11tägigen Pilgerschaft nach dem Gotthard u: in die ganz freien kleinen katholischen Kantons, zurückgekommen. Wer kann all das herrliche Wesen beschreiben? Die unendlichen Ströme vom Felsen herab! Die Thale! die Berge! Felsen! Und den Geist der Freiheit! Den Muth! Die patriarchalische Einfalt der Menschen. Und wie schattiret! So wie die Natur in einem Kanton grösser ist so auch die Freiheit, wie die Freiheit so der Muth u: die redliche Einfalt, immer in gleichem Verhältniß. In einigen Tagen treten wir auch zu Fuß unsre grössere Pilgerschaft an. Durch Appenzell, Bündten u: Wallis (drey ganz demokratische Länder) nach Genf. Wie viel werden wir zu reden haben – wenn wir uns wiedersehn!“ (Stolberg-Voß, 37 f.) Während ihrer Reisen machten die Stolbergs zahlreiche Bekanntschaften, so lernten sie in Graubünden z. B. den Staatsmann und Pädagogen Ulysses von Salis-Marschlins kennen, der sie bis zum Comer See begleitete. Von Genf aus besuchten sie auch Voltaire in Ferney.

werdet begafft werden darob] Vermutlich wusste Goethe von den Plänen der Brüder, über verschiedene kleinere deutsche Residenzen und Berlin, wo sie als vornehme Reisende Zugang zu den Höfen haben würden, zurück nach Kopenhagen zu reisen. Die geplante Route beschrieb Friedrich Leopold zu Stolberg in einem Brief an Klopstock vom 26. Oktober: „Wir gehn durch Schwaben, Francken, Sachsen u: Berlin, der Herzogin von Weymar sollen wir ja wohl sehr viel in Ihrem Namen sagen.“ (Klopstock, Briefe HKA 6 I, 232.) – Möglicherweise gibt Goethe mit dieser Bemerkung auch Zimmermanns Meinung über die Schweizer Reise der Stolbergs wieder (vgl. zu 219,21–22).

Zimmerm] Johann Georg Zimmermann, den aus der Schweiz stammenden Leibarzt des Königs von Hannover und Freund Lavaters, hatte Goethe vom 12. bis 14. Juli 1775 in Straßburg persönlich kennen gelernt. Zimmermann, der sich als einer der ersten prominenten Leser enthusiastisch über den „Werther“ geäußert hatte (vgl. zu 139,20 sowie die einleitende Erläuterung zu Nr 236), kehrte gerade von einem Besuch seiner Heimat zurück. Auf der Rückreise nach Hannover hielt er sich vom 22. bis 27. September zusammen mit seiner Tochter Catharina als Goethes Gast in Frankfurt auf (vgl. zu 218,1; 218,16).

euch weidlich gepriesen] Zimmermanns Lob ist durch einen Brief Augusta zu Stolbergs an ihren Bruder Christian vom 4. November 1775 überliefert. Sie zitiert darin aus einem Schreiben Zimmermanns an den Altonaer Mediziner Philipp Gabriel Hensler, einen engen Freund der Familie Stolberg: „〈…〉 Hensler hat mir heute einen Brief von Zimmermann geschikt und darin steht folgendes – / ‚Menschen von einer höhern, edlern, geistigern, liebenswürdigern Art, als sonst andre recht brave Menschen sind, Heldenseelen, Engelseelen, die Grafen Stolberg, habe ich den 22 und 23 Aug[ust] in Genf gesehen. Kein Schweizer hat nie die Schweiz bereißt wie diese Männer und Hauchwiz: Keiner hat alle geistige Wollüste auf den Alpen beßer getrunken als sie, keiner sich so dreiste in halb zerschmolzenen Eise gebadet als sie und Goethe – das sind Männer, diese Stolbergs, Adlersseelen – die Welt wird erstaunt an sie heraufschauen, wenn und wo sie einmal ganz ihre Flügel schwingen! 〈…〉.‘“ (Schumann, Auguste Stolberg, 285.)

unendliche Briefe ans Meerweib] Nicht überliefert. – Im „Ausgabebüchlein“ findet sich unter dem 3. Oktober 1775 der Eintrag: vor Briefe des Hℓ. B. v. Haugwitz dem Hℓ. Schoenemann – 1 〈rh〉 4 〈Xr〉 (AB, 17). Es könnte sich dabei um Briefe für Haugwitz gehandelt haben, die Goethe in Empfang genommen hatte und nun zur weiteren Beförderung dem vorliegenden Brief beischloss.

lieb〈 〉] Buchstabenverlust durch Beschädigung.

kei〈 〉] Textverlust durch Beschädigung. – Morris vermutet, die Stelle sei absichtlich herausgerissen, und ergänzt zu: „keinen Scheisdreck“ (vgl. DjG​2 6, 503, zu Nr 377); danach gedruckt bei Fischer-Lamberg (vgl. DjG​3 5, 261,31); in E ergänzt zu: „keinen Schuß Pulver“ (Goethe-Stolberg​1 [1839], 146); in D ergänzt zu: „nicht der Rede“ (Goethe-Stolberg​2 [1881], 44). Die Ergänzungen sind spekulativ und lassen zudem unberücksichtigt, dass die durch den Ausriss entstandene Lücke zu gering ist, um mehr als acht oder neun Buchstaben zu ergänzen.

Gustgen] Augusta Louise zu Stolberg, die jüngere Schwester der Adressaten.

Hohls der teufel 〈…〉 kommt.] In seinem Brief aus Lausanne an die Schwester Katharina vom 21. Oktober zitiert Friedrich Leopold zu Stolberg diese Stelle aus Goethes Brief: „〈…〉 von unserm Göthe haben wir auch einen Brief gekriegt, darin er uns Hoffnung macht, nach Weimar zu kommen 〈…〉. Er schließt seinen Brief: ‚Gustchen ist ein Engel; hol's der Teufel, daß sie eine Reichsgräfin ist!‘“ (J. H. Hennes: Aus F. L. v. Stolbergs Jugendjahren. Frankfurt 1876, S. 60.) Wahrscheinlich hatte auch Augusta zu Stolberg davon Kenntnis, denn in einem Brief an ihren Bruder Christian vom 4. November 1775 bezieht sie sich offenbar ebenfalls auf die vorliegende Stelle: „Daß Ihr den Guten Goethe in Weimar wieder sehn werdet daß ist herrlich sein Brief ist recht a la Goethe – ja wohl schlim daß ich Stolbergs Schwester bin 〈…〉.“ (Schumann, Auguste Stolberg, 284.)

Reichsgräfin] Anspielung auf den hohen adligen Stand der Grafen zu Stolberg, die nur dem Reich und dessen Oberhaupt, dem deutschen Kaiser, unmittelbar unterstellt waren.

mit der vollkommensten] Die sich an den letzten Buchstaben anschließenden Schleifenlinien stehen wohl anstelle einer ironisch gemeinten Devotionsformel im Sinne von: ‚mit der vollkommensten Hochachtung unterzeichnend / Ew. Excell. / gehorsamster Diener‘ (vgl. Abb. 17, S. 220).

nach Weimar] Die Brüder Stolberg hatten im Mai in Karlsruhe ebenfalls die Bekanntschaft der Weimarer Prinzen gemacht und planten daher, auf ihrer Rückreise nach Kopenhagen in Weimar Station zu machen; dort trafen sie am 26. November 1775 ein.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 266 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR266_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 219–220, Nr 266 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 548–555, Nr 266 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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